Dienstag, 25. Januar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -01
--Noah--

In der neuen Heimat, in die Mama mit mir und ihrem neuen Mann gezogen ist, fühle ich mich überhaupt nicht wohl. In den Augen meines Stiefvaters scheine ich ein Weichei zu sein, und er meint wohl, da müsse ich durch.

Auf anderen Gebieten kann ich mich sehr auf ihn verlassen, aber mein Platz unter Gleichaltrigen muss ich selber finden. Da finde ich bei ihm auch keinen Trost.

Nun ist es ja so, dass wir früher auf einem Dorf in Süddeutschland gewohnt haben. Ich habe wenige, aber gute Freunde gehabt. Zusammen haben wir so manchen Unsinn angestellt.

Dann ist Papa krank geworden. Er wurde in das Krankenhaus in der nächsten Stadt gebracht, aber die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Zwei Wochen später sind viele Verwandte zusammengekommen, als Mama den Papa beerdigt hat. Viele davon habe ich bis dahin noch nie gesehen.

Ein Jahr nach Papas Tod hat Mama mir einen neuen Mann vorgestellt. Er hat sich sehr um mich bemüht, und ist mir darüber zum Freund geworden. Dann sind wir zum Geburtstag der neuen Großeltern in seine Stadt gefahren. Er hat eine jüngere Schwester, und noch einige andere Verwandte sind dort gewesen. Tante Alice, seine jüngere Schwester, ist auch noch nicht lange verheiratet und hat seit kurzem ein Baby. Dabei ist zum ersten Mal auch die Sprache darauf gekommen, dass Mama und ich zu meinem Stiefvater ziehen sollten.

Zum Beginn des nächsten Schuljahres ist es dann soweit gewesen. Ich bin in der neuen Heimat in eine neue Klasse gekommen. Der Kontakt zu meinen alten Freunden ist über die Entfernung verloren gegangen. In meiner neuen Klasse grinst man hinter vorgehaltener Hand, wenn ich mich im Unterricht melde. In den Pausen werde ich wegen meines Dialekts verspottet. Bald beginnt man auch damit, mich zu ärgern. Ein Höhepunkt ist erreicht, als ich von hinten angerempelt werde und auf den Mund falle. Dabei bricht mir ein Schneidezahn ab.

Mama fragt mich, wie es passiert sei. Ich sage ihr, dass ich eine Stange beim Spielen übersehen habe.

Mama schüttelt den Kopf:
"Ständig kommst du mit irgendwelchen blauen Flecken nachhause! So viele Stangen, Pfosten und was auch immer, kann es doch gar nicht geben! Wir sind gerade erst drei Monate hier!"

"Es kommt mir vor, als wären es zwei Jahre!" rufe ich aus und bekomme Tränen in die Augen. "Ich hasse es hier!"

Mama versucht es mit sanfter Stimme:
"Lass mich dir doch bitte helfen! Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht sagst, was los ist! Auch Werner kann das nicht."

Mit weinerlicher Miene rufe ich aus:
"Dich interessiert doch nicht, was wirklich los ist! Dich interessiert nur, wie glücklich wir hier leben. Ich bin aber nicht glücklich! Ich will nachhause zurück!"

"Noah," antwortet sie mir und will mich in den Arm nehmen. "Wir sind jetzt hier zuhause! Okay? Das hier ist jetzt unser Zuhause. Schau mal! Mit Werner kannst du über alles reden. So ein Glück haben nicht viele Kinder!"

Ich schüttele tief enttäuscht mit dem Kopf und mache die Tür meines Zimmers hinter mir zu.

Werner, mein Stiefvater, kommt nach Feierabend in mein Zimmer. Er fragt, was heute passiert ist. Ich zeige ihm den abgebrochenen Zahn. Er schaut auf die Uhr und nimmt mich sogleich mit. Wir fahren zur nächsten Zahnarztpraxis. Dort setzt er eine sofortige Notfallbehandlung durch. Ich erzähle ihm ein wenig von meinen Problemen.

Weitere Zahnarztbesuche sind nun notwendig, bis ich Jahre später eine Krone auf den Schneidezahn bekomme. In der Folgezeit werde ich vorsichtiger und ziehe mich weitestgehend zurück. Nach den Hausaufgaben bleibe ich zumeist auf meinem Zimmer und lese viel oder höre Musik. Einmal bekomme ich Comics von 'Star Wars' in die Finger und beginne, sie regelrecht zu verschlingen.

Dann erhält Papa, wie ich meinen Stiefvater inzwischen nenne, die Einladung zu Feier des dritten Hochzeitstages von Tante Alice. Natürlich sagt er zu und wir fahren gemeinsam zu dem Restaurant. Ich erkenne beim Eintreffen ganz in der Nähe einen Kinderspielplatz mit Schaukel, Karussell und anderen Geräten. Neben Oma und Opa sind auch andere Verwandte mit ihren Kindern gekommen, von denen ich der Älteste zu sein scheine. Ich schäle mich aus der Jacke und laufe zu Oma und Tante, um sie freudig zu begrüßen.

Dabei bekomme ich nicht mit, wie Mama sich automatisch nach meiner Jacke bückt, die auf dem Fußboden gelandet ist. Dann haben auch sie die Großeltern und Onkel und Tante erreicht.

Tante Alice stellt uns ihre Freundin und deren Sohn vor, der sicher schon die Schule hinter sich hat:

"Und das hier ist meine beste Freundin Vanessa. Leider konnte sie vor drei Jahren bei der Hochzeit nicht dabei sein, weil sie und ihr Sohn Dennis zu der Zeit in Nepal lebten. Jetzt ist Dennis aber nach Deutschland zurückgesandt worden, um als Lehrer und Kungfu-Meister zu arbeiten."

Ich merke auf. Was bedeutet das Gehörte? Ich habe sogleich meine StarWars-Comics im Kopf und frage dazwischen:

"Bist du ein Jedi-Ritter?"

Dennis schaut mich zuerst verdattert an, lacht dann fröhlich und streckt seine Hand nach mir aus, um mir übers Haar zu streichen.

"Nein," antwortet er lächelnd, und dehnt zwinkernd: "Aaaaber vielleicht so etwas ähnliches."

"Wow," mache ich und wende mich an Papa: "Kann der Mann mir vielleicht beibringen, wie man jemanden verprügelt?"

"Noah!" ermahnt Papa mich.

Er wendet sich erklärend an Dennis: "Noah hat es nicht leicht in der Schule. Mobbing und Prügel, wissen Sie?"

Dennis zieht die Augenbrauen hoch und meint dazu:

"Solche Leute haben selbst Angst. Vorwärtsverteidigung nennt man das. Dazu suchen sie sich den Schwächsten aus, jemand der es nicht schafft, sich Achtung und Respekt zu verschaffen. Das zeugt von schlechtem Charakter!"

... link (0 Kommentare)   ... comment