Mittwoch, 26. Januar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -02
Papa nickt. Nacheinander kommen jetzt weitere Gäste an. Viele davon kenne ich noch gar nicht. Vierundzwanzig Personen sind bald anwesend und das Restaurantpersonal beginnt damit, die Speisen und Getränke zu servieren.

Wir setzen uns an den langen gedeckten Tisch. Ich beobachte Dennis verstohlen beim Essen. Er und seine Mutter verhalten sich höflich zurückhaltend, sind freundlich und fallen nicht weiter auf. Bald habe ich sie vergessen. Das Essen ist sehr lecker.

Danach entscheiden die Erwachsenen, dass wir Kinder nach draußen auf den Spielplatz dürfen, während sie noch beim Kaffee zusammensitzen und sich ihre Erlebnisse seit dem letzten Treffen erzählen wollen. Papa wendet sich nach einem Moment an mich und sagt:

"Na, Noah, magst du nicht auch spielen gehen? Bei den Gesprächen unter Erwachsenen langweilst du dich doch bestimmt."

Er nickt mir aufmunternd zu. Also erhebe ich mich und gehe leicht enttäuscht nach draußen. Lieber hätte ich darauf geachtet, was dieser Dennis und seine Mutter über das Leben in der Fremde berichten. Ich setze mich auf eine Schaukel und bewege sie lustlos vor und zurück. Da bekomme ich plötzlich einen harten Stoß in den Rücken. Zum Glück habe ich die Ketten fest im Griff. Trotzdem rutsche ich von der Sitzfläche.

Ich drehe mich um und erkenne vier Jungs, die unbemerkt hinter mir aufgetaucht sind. Einer von ihnen ist aus meiner Klasse. Die anderen werden ein oder zwei Klassen höher sein. Sie stoßen mich mit Schlägen vor die Brust über den Platz. Als eines der Mädchen protestiert, lassen sie kurz von mir ab und machen den jüngeren Kindern Angst. Da einer mich festhält, kann ich mich nicht entfernen, während die anderen Kinder ängstlich in das Restaurant zurücklaufen.

Plötzlich ändert sich alles. Man lässt mich los und ich kann auf Abstand gehen. Was ich zu sehen bekomme, lässt mich meine Brustschmerzen vergessen und vom Spielplatzrand aus mit offenem Mund zuschauen. Dennis steht mitten unter den Jungs und schlägt und tritt, dass sie zu Boden gehen.

Seine Bewegungen haben etwas von einem 'Tanz'. Die Jungs stehen auf und wollen sich nun zu viert auf ihn stürzen. Dennis hält jetzt mal den Einen, mal einen anderen fest und wirft ihn gegen den Rest der Angreifer oder hinter sich, wobei er sich bückt und gleichzeitig herumdreht.

Der Spuk ist schnell vorbei, denn die Jungs suchen das Weite. Anschließend kommt Dennis auf mich zu und fragt:

"Haben sie dir weh getan?"

Ich verneine es, aber Dennis sagt:
"Leg dich bitte dort auf die Bank!"

Am Rande des Spielplatzes steht eine Bank, zu der wir nun hingehen. Dort tastet er mich an den Gelenken und auf der Brust ab. Natürlich verziehe ich nun mein Gesicht vor Schmerzen.

Dennis beruhigt mich und meint:
"Du hast zum Glück nur Prellungen davongetragen."

Er nimmt mich kurzerhand in den Kniekehlen und unter den Achseln auf und trägt mich ins Restaurant. Dort schaut er sich kurz um und legt mich dann auf eine Sitzbank bei der Garderobe. Dennis fragt die hinzueilende Kellnerin:

"Können Sie mir sechs Schnapsgläschen und Watte bringen?"

Sie schaut verwundert, bringt aber die Gläschen und einen Beutel mit Watte.

Mama ist inzwischen bei mir und kniet neben meinem Kopf. Sie streichelt mich mit besorgter Miene und schaut verwundert, wie Dennis Wattebällchen formt. Er holt Essstäbchen und ein Feuerzeug aus einer Tasche an seiner Weste und sagt zu Mama:

"Würden Sie ihm bitte das Tshirt hochziehen?"

Papa steht jetzt auch bei mir. Mama schaut zu Papa hoch, der beruhigend lächelnd sagt:

"Mach ruhig, was er sagt."

Ein Wattebällchen nach dem anderen zündet Dennis nun an und hält es mit den Essstäbchen in das umgedrehte Schnapsglas. Damit nähert er sich den roten Stellen auf meiner Brust und setzt die Gläschen nacheinander auf die Haut. Durch den geringen Unterdruck saugt es sich dort fest und zieht die Haut ein wenig in das Glas.

Ich schaue verwundert zu und bemerke nach einer Weile:

"Es tut gar nicht mehr weh!"

Nun wendet sich Papa an Dennis und fragt ihn:
"Was war draußen los?"

"Vier Jugendliche haben die Kinder angegriffen. Aber eigentlich war Noah deren Ziel."

"Ja, Papa," bestätige ich und versuche mich aufzurichten. Dabei fallen die Schnapsgläschen herunter. Mama bückt sich und sammelt sie wieder ein. Ich fahre fort, noch immer vom Erlebnis gefangen:

"Dennis hat nicht viel tun müssen! Sie haben sich selbst geschlagen! Dennis hat nur mal den Einen oder Anderen gestoppt, oder herum gewirbelt."

Dennis sieht Papa in die Augen, nickt und hebt die gefalteten Hände an sein Kinn.

"Kämpfen geht man am besten aus dem Weg," meint er dazu.

Nachdenklich antwortet Papa:
"Mein Sohn wird allzu oft in die Enge getrieben, weil es der Meute Spaß macht - so scheint es."

"Es sind pubertierende Hitzköpfe, die sich selbst im Weg stehen, wenn sie zu mehreren auftreten. Für Mann gegen Mann sind sie zu feige!"

"Wie kann sich mein Junge in der Schule Respekt verschaffen?" fragt Papa. "Die Kerle verstehen doch nur die Sprache der Fäuste! Könnten Sie ihm beibringen, wie man das macht?"

"Sich Respekt verschaffen, von den Anderen geachtet werden... Ich kann es versuchen!" antwortet Dennis.

"Bitte," fleht Papa. "Ich bezahle Ihnen den Kurs!"

"Darum geht es nicht!" meint Dennis mit gekräuselter Stirn, und macht eine Gedankenpause. "Sie wissen sich keinen anderen Rat?"

"Leider nein."

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