Mittwoch, 23. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -30
--Wiedergeburt--

Vier Jahre sind seitdem vergangen. Nun bin ich, Noah, 28 Jahre alt. Nach den drei Jahren Banklehre bin ich wieder ins Kloster zurückgekehrt. Es ist der beste Platz, um zur Ruhe zu kommen, Geborgenheit zu fühlen. Während der letzten Meditation habe ich eine Vision gehabt. Darüber spreche ich bei nächster Gelegenheit mit Lama Rinpoche.

"Tsopo Rinpoche, man sagt, du wärest die Wiedergeburt eines bedeutenden Lamas aus Nepal," sage ich einleitend. "Könnte es sein, dass auch gewöhnliche Menschen wiedergeboren werden?"

"Als du vor deiner Ausbildung, frisch von Hawaii, zu mir gekommen bist, habe ich dir gesagt, dass wir alle 'gewöhnliche Menschen sind', Noah! Es gibt keine Bevorzugung oder Benachteiligung! Der Tod ist nicht das Ende! Einzig je nach Lebensweise im jetzigen Leben, werden wir im nächsten Leben als Pflanze, Tier oder auch als Mensch wiedergeboren - oder erreichen das Nirwana bei untadeliger, heiliger Lebensweise."

Ich schaue Lama Rinpoche direkt an und erkläre ihm nun meine Anfangsfrage:

"Ich meditiere gerne in meiner freien Zeit. Während der letzten Meditation habe ich Yong Tai gesehen. Sie hat sich im Verlauf der Erscheinung in ein Kind verwandelt..."

"Das kann zweierlei Gründe haben," meint der Lama reserviert. "Entweder ein Mara -böser Geist- sucht den Kontakt zu dir und will dich zur negativen Seite hinüberziehen, weil du verführbar geworden bist, da du anscheinend noch immer nicht wirklich loslassen kannst.
Oder du hast doch losgelassen, gibst der bedauernswerten Li Yong Tai ihren Frieden - und sie strebt aus Liebe zu dir zurück..."

"Was soll ich jetzt tun?" frage ich den Lama.

"Behalte sie in liebevoller Erinnerung, aber lasse sie los. Gib sie frei! Bleiben deine Visionen, dann suche nach ihr. Denn was du frei gibst und es strebt aus sich heraus zu dir zurück, ist dein! Nicht jedoch das, was du nicht loslassen kannst!
Suche nach einem Kind, das zum Todeszeitpunkt gezeugt und neun Monate später geboren wurde."

"Was ist mit dem Kind, das sie unter ihrem Herzen trug?"

"Es könnte direkt ins Nirwana übergegangen sein, so wie auch die Christen glauben, dass solche unschuldigen Kinder sofort ins Paradies kommen."

Bedächtig nickend, bedanke mich für seinen Rat. Ich klammere mich nicht mehr in Gedanken an Yong Tai, sondern lasse ihr ihren Frieden. Tatsächlich verflüchtigt sich die Vision, wird immer undeutlicher. An Yong Tai denke ich nur noch in großer Dankbarkeit, dass ich diese wundervolle Frau kennengelernt habe.

Einige Monate später sehe ich während einer Meditation zuerst einen unförmigen Schatten. In weiteren Meditationen wird der Schatten immer deutlicher. Es erscheint eine Frau mit Baby im Arm, deren Gesicht noch nicht erkennbar ist. In späteren Meditationen erkenne ich Yong Tai, die mir zulächelt und über einen Weg geht, an dessen Rand Pflanzen wachsen, wie ich sie von Hawaii kenne.

Wieder hole ich mir Rat bei Lama Rinpoche. Er ermuntert mich:

"Dann musst du nach Hawaii reisen und dort suchen!"

Ich fliege einige Wochen darauf mit einer Linienmaschine nach Honolulu und suche das dortige buddhistische Kloster auf. Seiner Heiligkeit, dem Khenchen Lama des Klosters erzähle ich alsdann meine Geschichte. Er lässt mich geduldig ausreden und nickt mir lächelnd zu.

"Ich werde einen der Brüder beauftragen, für dich die Augen offen zu halten!" verspricht er mir anschließend. Ich soll ihm meine Adresse dalassen und erst einmal abwarten. Zuerst will man sich auf Zwillinge konzentrieren, die neun Monate nach dem Attentat geboren worden sind, da der Personenkreis kleiner ist.

An einem Nachmittag Tage darauf klingelt es an der Tür meiner kleinen Wohnung. Als ich öffne, stehe ich einem Lama gegenüber. Ich lasse ihn eintreten und biete ihm Tee und Gebäck an. Er berichtet mir eine traurige Geschichte:

"Wir haben ein Kinderheim auf der Insel, das von christlichen 'Barmherzigen Schwestern' geleitet wird. Sie kümmern sich speziell um Waisen, deren Mütter bei der Geburt gestorben sind und die keine weiteren Angehörigen haben. Dort lebt ein Zwillingspärchen, das am errechneten Zeitpunkt geboren ist. Der Vater der Kinder ist unbekannt. Die Mutter hat die schwere Geburt leider nicht überlebt. Bisher fanden sich auch keine Adoptiveltern für die beiden Mädchen."

"Das heißt," meine ich. "Die Beiden kommen in die engere Wahl und es könnte die Reinkarnation von Mutter und Kind sein..."

Ich versinke in Gedanken. Wenn wir auf der richtigen Spur sind, wäre das wunderbar!

"Wir werden sie prüfen müssen, damit man sicher sein kann, es sind die Wiedergeburten, die ich suche," sage ich und schaue meinem Gegenüber in die Augen.

"Wenn Sie möchten, besuchen wir das Kinderheim sobald es Ihnen passt!" bietet mir der Lama an.

"Wie wäre es morgen Vormittag?" schlage ich vor.

Der Lama nickt und verabschiedet sich bald.

Am nächsten Morgen fahre ich zu einem Spielzeugladen und erstehe zwei Säcke voll Puppen, Teddybären und Spielzeugautos für die Kinder des Kinderheims. Yong Tais alte Puppe aus ihrer Kindheit und den Plüschdrachen, den ich ihr damals auf dem Flughafen von Hawaii zum Abschied geschenkt habe, stecke ich zu den Spielwaren mit hinein.

Mein nächstes Ziel ist das buddhistische Kloster in Honolulu. Dort warte ich auf den Mönch. Nach einer kurzen freundlichen Begrüßung leitet er mich zu dem Kinderheim. Auf dem Weg dorthin fragt er mich:

"Haben Sie an persönliche Gegenstände ihrer Frau gedacht?"

Ich nicke lächelnd und sage:
"Kleider oder Schmuck wären nichts für fast fünfjährige Kinder. Vor allem, wenn sie sich in einer größeren Gruppe mit anderen Kindern befinden. Auf dem Weg ins Kloster bin ich heute Morgen zu einem Spielwarenladen gefahren und habe die unterschiedlichsten Puppen und Stofftiere gekauft. So hat jedes Kind etwas. Da hinein habe ich einen Drachen aus Hongkong gegeben und eine Puppe, die meine Frau immer als ihre Lieblingspuppe bezeichnet hat. Wir können die Auswahl der Kinder beobachten und jedes Kind darf sein Spielzeug behalten."

... link (0 Kommentare)   ... comment