Sonntag, 13. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -48
"Sollte es ein Sohn werden, nennen wir ihn 'Thaye Tenzin' -grenzenloses Wissen-," sagt Gyana. "Bei einem Namen für eine Tochter bin ich mir noch nicht sicher... 'Yong Tai' vielleicht?"

"Nein!" sage ich, wieder selbstsicher. "Nicht genauso wie die Foundation! Das wäre eine zu große Bürde für das Kind!"

"Okay, okay," meint er versöhnlich. "Kommt Zeit, kommt Rat!"

*

Wir haben uns im Falle eines Mädchens für 'Meto Drime' -makellose Blume- entschieden. Dabei habe ich auf Gyanas Wissen vertraut, mich selbst aber eher am Klang der Namen orientiert.

Die Schwangerschaftswochen sind Wechselbäder der Gefühle. Auch mir fehlt Daddy sehr. Seine Nähe hat mir bisher immer die nötige Sicherheit vermittelt. Bei den Untersuchungen wird schließlich klar, dass ich einen süßen Jungen unter dem Herzen trage. Wieder informiere ich Anne, meine Zwillingsschwester als Erste.

Es wird eine schwierige Geburt. Anne ist auch im Krankenhaus an meiner Seite, während Gyana die Sitzungen des Lehrerkollegiums leitet. Kurz löst sie Gyana ab, damit auch er mich einmal besuchen kann. Endlich, nach einer Woche unter Beobachtung darf ich das Krankenhaus verlassen. Ich trage meinen Jungen Thaye Tenzin in einer Babytrage an meiner Brust.

Im Auto muss ich ihn kurzzeitig in eine Babyschale legen. Neben meinem Jungen sitzend schaue ich ihm glücklich beim Schlafen zu. Anne sitzt vor mir auf dem Beifahrersitz und einer der jungen Mönche, die Daddy ausgebildet hat, steuert den Wagen. Gyana wird neben seiner Verwaltungstätigkeit nun auch die Ausbildung der Mönche weiterführen.

Zuhause angekommen, wacht Thaye auf und beginnt zu weinen. Ich mache ihm geschwind eine Flasche fertig, die er gierig leert. Kurz darauf ist er wieder eingeschlafen.

*

Während der letzten zwei Jahren hat Thaye von jedem Besucher ein Babyspielzeug geschenkt bekommen. Es hat sich inzwischen so viel angesammelt, dass Andrea damit den Laufstall füllt. Sie hat sich mit Gyana abgesprochen, dass wir die Spielsachen, die Thaye 'links liegen lässt', an unser altes Kinderheim abgeben, wo wir vor fast vierzig Jahren von Daddy entdeckt worden sind.

Irgendwann sieht Thaye Daddys Drachen auf einem Sideboard liegen. Er läuft auf seinen kurzen Beinchen dorthin und reckt sich danach. Ich, Anne, passe gerade auf Thaye auf. Als ich das sehe, gehe ich zu ihm und reiche ihm das Stofftier. Er setzt sich vor das Sideboard und knuddelt den Drachen. Nach einigen Minuten legt er es beiseite und erhebt sich, indem er sich am Möbel abstützt. Anschließend beugt er sich nach dem Stofftier und fällt auf alle Viere. Dann geht der Kleine in die Hocke und arbeitet sich wieder in den Stand, während er das Stofftier mit einer Hand festhält.

Nun kommt Thaye mit dem Drachen in der Hand strahlend auf mich zu gelaufen und breitet die Arme aus. Ich nehme ihn hoch und setze ihn auf meinen Schoß. Er kuschelt sich bei mir an und legt mir das Stofftier in die Hand. Daraufhin streiche ich ihm sanft über seinen kleinen Haarschopf. Die Geste meines Neffen weckt Emotionen in mir, die ich im Augenblick nicht recht verstehen kann.

In der Folgezeit schläft er nur noch mit dem Drachen an seiner Seite ruhig ein. Das andere Spielzeug wird immer nur kurze Zeit beachtet, dann muss wieder das Stofftier herhalten. Und immer wieder drückt er es mir in die Hand, als soll ich es für ihn aufbewahren.

Dieses Verhalten bleibt so bis er mit gleichaltrigen Kindern bei uns in die Vorschule kommt. Jetzt muss er bei der kleinen Gruppe Jungs, mit denen er sich einigermaßen beim Spielen versteht, in einem gemeinsamen Schlafraum übernachten.

"Tante Anne," sagt er am ersten Abend, bevor er dorthin geht. "Ich schenke dir den Drachen! Er wird immer auf dich aufpassen, auch wenn ich einmal nicht in deiner Nähe bin!"

Ich bin gerührt und meine Augen werden feucht. Ihn an mich drückend, sage ich:

"Du bist ein lieber kleiner Kerl, Thaye. Und du bist doch nicht allzuweit von mir entfernt. Dein ehrenwerter Vater hat beschlossen, dich alsbald in Kungfu unterrichten zu lassen. Dann wirst du sehr gut auf mich aufpassen können."

Anschließend bringe ich ihn zu seinem Schlafraum, wo er mich abschließend noch einmal an sich drückt.

Mit Beginn des nächsten Schuljahres soll Thaye in der Schule des Klosters von Weiterswiller eingeschult werden, haben Gyana und Andrea beschlossen. Dort ist die Gefahr einer unbewussten Bevorzugung des eigenen Kindes nicht gegeben. Dort lehrt sein Onkel Lama Khön Trizin. Ich darf Thaye zur Einschulung begleiten.

Wir fliegen über San Franzisko und New York um den halben Erdball nach Paris. Im Bahnhof unter dem Flughafen Charles de Gaulle kaufe ich uns Zug-Tickets nach Straßburg und endlich mit dem Bus nach Weiterswiller. Thaye hat unterwegs zweimal mit dem Kopf in meinem Schoß geschlafen. Währenddessen haben mich Gefühlsstürme wachgehalten, deren stärkstes ein Glücksgefühl gewesen ist. Ich habe das Gefühl gehabt, die ganze Welt umarmen zu können.

Zwei Tage nach der Einschulung bin ich in das deutsche Kloster weitergefahren, weil ich ein dringendes Anliegen an Seine Heiligkeit Khenchen Lama Rinpoche habe.

Dort angekommen frage ich den Gelong im Foyer mit der üblichen Ehrenbezeugung nach einer Audienz bei Seiner Heiligkeit:

"Wann kann ich Seine Heiligkeit Lama Rinpoche kurz sprechen?"

"In welcher Angelegenheit möchten Sie Seine Heiligkeit sprechen?" fragt er zurück.

Ich nicke lächelnd und erkläre ihm:
"Mein Name ist Anne Mann. Mein Vater war einmal Schüler Seiner Heiligkeit. Nun ist er heimgegangen. Ich denke, das wird Seine Heiligkeit auch interessieren. Ich bin extra aus Hawaii angereist, dem letzten Wirkungsort von Lama Kyobpa."

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