Montag, 14. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -49
Der Gelong fordert mich höflich auf, ihm zu folgen. Wir gehen durch die Gänge des Klosters zu den Privaträumen des Khenchen Lama. Dort klopft er an. Ein weiterer Gelong öffnet. Es ist der Sekretär Seiner Heiligkeit. Er hört sich an, was mein Führer sagt und wendet sich anschließend mir zu:

"Verehrte Schwester, Seine Heiligkeit ist gerade in einer Meditation versunken..."

Ich frage ihn nun:
"Darf ich mich nicht leise zu ihm setzen und warten?"

Bevor der Sekretär mich abwimmelt und auf irgendwann später vertröstet, drücke ich mich an ihm vorbei und steuere direkt den Wohnraum Seiner Heiligkeit an, um mich ihm gegenüber leise niederzulassen. In dieser Stellung warte ich. Lama Rinpoche ist mit über achtzig Jahren ein Mann, der uns auch, genau wie Daddy, in einer tiefen Meditation verlassen könnte, wie ich insgeheim befürchte.

Doch plötzlich öffnet er die Augen, sieht mich und seine Augen leuchten im Erkennen auf. Er hebt mir beide Arme mit offenen Händen entgegen. Ich greife über den niedrigen Tisch und drücke sie, während ich mich tief verbeuge.

Der Sekretär tritt hinzu. Seinem Gesichtsausdruck ist zu entnehmen, dass er die 'Störung' Seiner Heiligkeit auf mich abwälzen will. Aber Lama Rinpoche schickt ihn zurück. Er begrüßt mich:

"Sei gegrüßt, meine Schwester. Bringst du mir Neuigkeiten von Hawaii? Wie geht es Lama Kyobpa, deiner ehrenwerten Schwester und Seiner Eminenz Lama Khön Gyana?"

Ich habe einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Eine Zeitlang kann ich nicht antworten. Seine Heiligkeit holt ein Tuch aus seinem Gewand, das er mir reicht. Nachdem ich mich wieder gefasst habe, beginne ich zu berichten:

"Der ehrwürdige Lama Kyobpa, mein geliebter Daddy, ist vor sechs Jahren heimgegangen. Er ist aus einer tagelangen tiefen Meditation nicht wieder erwacht..."

Seine Heiligkeit legt mir seine Hände tröstend auf die Unterarme.

"Dein ehrenwerter Daddy lässt dich nicht im Stich, Anne oder Yong Tai. Er hat die Foundation vertrauensvoll in eure und die Hände Seiner Eminenz gelegt und dürfte irgendwo in deiner Nähe bleiben wollen. Habt ihr schon nach einer möglichen Wiedergeburt gesucht?"

Ich schüttele den Kopf und erkläre dem Khenchen Lama:

"Seine Eminenz und meine verehrte Schwester hatten vor sechs Jahren Nachwuchs geplant, nachdem das Lehrerkollegium soweit angewachsen ist, dass sie in der Arbeit mit den Kindern kürzertreten können. Neun Monate nach Daddys Heimgang gebar Andrea einen süßen Jungen, dessen Patentante ich seitdem bin.
Ich habe mich seither oft mit Thaye beschäftigt. Irgendwann hat er den alten Drachen entdeckt: Das Stofftier, dass Daddy in seiner Jugend Yong Tai geschenkt hat! Seitdem hat er es immer zum Einschlafen gebraucht. Letztes Jahr, als er zum ersten Mal in einem Schlafsaal mit Gleichaltrigen übernachten sollte, hat er es mir geschenkt, damit es ab jetzt 'auf mich aufpasst'.
Nun bin ich mit Thaye nach Europa gekommen, weil seine Eltern entschieden haben, dass er die Klosterschule in Weiterswiller besucht. Nach den Feierlichkeiten bin ich nun zu Ihnen weitergereist, Eure Heiligkeit..."

"Du hast einen bestimmten Verdacht, meine Tochter..." lässt sich Seine Heiligkeit vernehmen.

Ich nicke.

"Meiner Meinung nach muss Daddy in Thaye aufgegangen sein."

"Hast du ihm einmal Dinge vorgelegt, die Lama Kyobpa gehört haben, ganz profane, wie seine Reisschale zum Beispiel?"

"Noch nicht," antworte ich ihm. "Ich will kein großes Aufhebens machen. Dass Thaye den Drachen entdeckt hat und nur mit ihm in seinem Bettchen durchschlafen konnte, ist in den Augen seiner Eltern kein Beweis. Sie wollen anscheinend keine alten Geschichten aufwühlen."

"Dir ist es aber wichtig genug, um mit dem Wissen wieder ruhig schlafen zu können. Du wärst innerlich befreit, dankbar und glücklich, wenn du in Thaye mehr als deinen Neffen sehen könntest?"

Ich lächele Seine Heiligkeit befreit an. Der alte Mann scheint mich zu verstehen.

"Wenn sich bei der Prüfung aber herausstellen sollte, dass Thaye doch nicht die Seele Noahs beherbergt... Würde das etwas an deinen Gefühlen zu dem Jungen ändern? Noah könnte doch auch hier in der Nähe des Klosters wiedergeboren sein..."

"Nein!" sage ich, vielleicht eine Spur zu heftig. "Thaye wird immer meine Liebe als Tante behalten, egal ob Daddy in ihm weiterlebt oder nicht!"

"Okay," entscheidet Seine Heiligkeit nun. "Dann reise mit gutem Gewissen nach Hawaii zurück. Thaye ist in Weiterswiller in guten Händen! In den großen Ferien im nächsten Jahr kommst du ihn wieder besuchen und machst mit ihm eine 'Reise in das Land seines Großvaters, des großen Lamas Kyobpa'. Komm hierher, zeige ihm das Kloster. Bei dieser Gelegenheit werden wir ihn prüfen. Dazu musst du aber ein paar profane Gegenstände aus dem Besitz deines ehrenwerten Daddys mitbringen, von denen Thaye nichts wissen darf!"

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