Samstag, 19. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -54
Vier Monate bin ich, Nguyen Minh Thoung, nun schon in der Klosterschule. Obwohl meine ehrenwerten Eltern und Verwandten vietnamesischer Abstammung sind (meine Großeltern sind als junge Eltern mit ihren Kindern als sogenannte 'Boatpeople' aus Vietnam geflüchtet), werde ich hier wie jedes andere Kind behandelt. Auch der Rollstuhl ist kein Grund großer Rücksichtnahme.

Allerdings habe ich nur wenige Freundinnen und einige der Jungs verspotten mich manchmal, wenn wir auf dem Innenhof gemeinsam spielen. Aber da stehe ich drüber!

Gleichaltrige Jungs gehen nicht darüber hinaus. Einige haben sogar Respekt vor meiner Schnelligkeit mit dem Spezial-Rollstuhl. Bis ich auf einmal von hinten von zwei vielleicht 12jährigen Jungs attackiert worden bin.

Einer hat irgendeinen langen Gegenstand in die Speichen gesteckt, so dass ich mit einem Aufschrei vornüberfalle. Darauf bin ich nicht gefasst gewesen und es ist so schnell geschehen, dass ich zuerst ziemlich benommen auf dem Boden liegen geblieben bin.

Einer der Schüler aus der Abschlussklasse, die sich in der Pausenaufsicht immer in Zweiergruppen abwechseln, kommt zu mir gelaufen und hilft mir auf. Er stellt den Stuhl wieder aufrecht, hebt mich in seine Arme und setzt mich in den Stuhl zurück. Ich umfasse seinen Hals und bedanke mich mit einem Kuss auf seine Wange. In diesem Moment schaut mich der Junge mit großen Augen an.

In der Zwischenzeit hat sein Klassenkamerad zwei Jungs am Kragen gepackt und schleppt sie in das Gebäude, zu den Lehrern.

Mein Helfer fragt mich nach meinem Namen und nennt mir auch seinen. Er heißt Khön Thaye Tenzin, sagt er. Zum Ende der Pause, ich rolle gerade in meinen Klassenraum, werde ich angesprochen. Ich schaue mich um und sehe zwei Jungs neben mir und hinter ihnen einen der Lehrer stehen. Die Jungs verbeugen sich tief mit gefalteten Händen und entschuldigen sich zerknirscht bei mir.

Der Lehrer fordert mich nun auf, ihnen eine Strafe für ihr respektloses Verhalten auszusprechen. Hilfesuchend schaue ich mich um. Der Lehrer, der bei uns seinen Unterricht fortsetzen will, ist hinzugetreten. Ich sage schnell:

"Zeigt, dass ihr gegenüber euren Mitschülern respektvoll sein könnt und sie ehrt! Lasst es eure Lehrer, eure Eltern und die Pausenaufsicht sehen!"

Der Lehrer, der die beiden Missetäter begleitet, nickt mir lächelnd zu und führt die Beiden davon. Mein Lehrer sagt zu mir:

"Du hast weise entschieden, Nguyen Minh Thoung. Aus dir wird einmal eine große Lehrerin, solltest du diesen Berufszweig einschlagen wollen! Doch nun komm an deinen Platz."

In der Folgezeit sehe ich Khön Thaye Tenzin immer wieder, wenn er Pausendienst hat. Er ist nie weit entfernt und scheint mich immer im Auge zu haben.

Wenige Monate darauf ist wieder einmal Schulabschlussfeier. Die meisten Schüler verlassen die Schule mit einem Zeugnis. Eine Handvoll Schüler bleiben, um als Schüler eines Lamas den Weg zum Mönch einzuschlagen. Wir sind dabei, um die Jugendlichen mit einem Lied zu verabschieden. Mein Beschützer Thaye ist wohl einer derjenigen, die uns verlassen. Das stimmt mich traurig. Ich überdecke dieses Gefühl mit Neugier. Ich frage ihn in einer Unterrichtspause aus.

Thaye erzählt mir, dass er aus Hawaii kommt, nach der Klosterschule eine Banklehre machen wird und dann nach Hawaii zurückkehrt. Bei der Nennung von 'Hawaii' unterbreche ich ihn forsch und frage:

"Das muss wunderschön sein, auf Hawaii! Nimmst du mich mit?"

Thaye lacht und beugt sich zu mir herunter. Er flüstert:
"Meine Eltern leiten dort auch so eine Schule. Ich werde irgendwann die Leitung übernehmen. Du müsstest bis dahin studieren und Lehrerin werden, wenn du mich nach Hawaii begleiten willst!"

"Das werde ich!" sage ich mit fester Stimme.

"Hm," macht er da. "Weißt du, ich hatte eine sehr liebe Patentante. Meine ehrenwerten Eltern haben mir bei ihrem ersten Besuch hier - sonst ist Tante Anne immer gekommen - gesagt, dass sie während einer tiefen Meditation heimgegangen ist. Seither frage ich mich, ob ich jemals ihre Wiedergeburt finden werde... Weißt du, ich soll ebenfalls die Wiedergeburt eines Lamas sein. Man hat mich geprüft."

Ich streiche ihm über den Oberarm und tröste ihn:
"Ganz bestimmt wirst du sie irgendwann wieder treffen, Thaye! Du bist so... so... Du bist so freundlich zu mir!"

Er lacht und meint:
"Man hat mir einmal gesagt, dass ich in einem früheren Leben zu meiner damaligen Liebe gesagt haben soll: 'Wir werden uns ewig lieben'. Aber wenn man sich aus den Augen verliert..."

"Das Schicksal wird euch bestimmt wieder zusammenführen, mein starker Beschützer!" sage ich und assoziiere in Gedanken dabei ein Märchen von einem Prinzen, der seine Prinzessin vor einem Drachen beschützt. Das sage ich ihm dann auch.

Er schaut mich mit ernsten Augen an, als ich ihm die Assoziation erzähle, und fragt mich nach meinem Geburtstag. Dann stellt er sich hinter mich und schiebt den Rolli mit mir zu einer Gruppe Erwachsener. Ich lache verunsichert und frage:

"Was machst du, Thaye? Wird das hier eine Entführung?"

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