Sonntag, 27. März 2022
Lama Rinpoche -01
Ich sitze gerade mit einer Gruppe Schüler im Unterweisungsraum. Wir haben gemeinsam ein Hochgebet rezitiert, als ein junger Gelong -Mönch- hereinkommt und sich mir leise an der Wand entlang nähert. Vor mir verbeugt er sich und faltet die Hände.

"Ein Telegramm für den ehrwürdigen Lama!" flüstert er und übergibt mir den Zettel.

Ihm dankbar lächelnd zunickend entfalte ich das Blatt und lese:

"An Lama Dorje! Ich habe die Nangwa -Manifestation, Wiedergeburt- von deinem geschätzten Lehrer Lama Sherab -Wissen, Weisheit- gefunden. Er lebt in Deutschland, in Plauen. Tsering -langes Leben- dir, mein Freund.
Lama Tobgyel"

Nun erhebe ich mich und gebe den Schülern mit zwei kurzen Handbewegungen zu verstehen, dass sie sich entfernen dürfen. Zu dem wartenden Gelong -Mönch- sage ich:

"Wir gehen zu Khenchen Lama Chodron -Abt-Licht des Karma-."

Wir finden den Abt im Thronsaal in einer Meditation. Leise lassen wir uns vor ihm im Schneidersitz nieder und warten. Immer mehr Lamas -Lehrer- kommen leise herein und lassen sich ebenfalls auf dem Boden nieder. Als zwei Gelong mit einem Reistopf hereinkommen, schlägt der Khenchen Lama -Abt- die Augen auf und begrüßt uns durch Neigen seines Kopfes und Aneinanderlegen seiner Hände. Wir wiederholen die Geste, während er seine Reisschale hervorholt.

Nach dem Essen wird Tee ausgeschenkt. Er spritzt ein paar Tropfen des Getränkes auf einen Stein -Norbu- in der Mitte des Tisches, um den wir uns versammelt haben. Dabei murmelt er die dazugehörende Formel. Auch diese Geste wiederholen wir. Danach steht ein Lama nach dem anderen auf und verlässt die Runde, während ich sitzen bleibe. Der Gelong hinter mir und ich warten ab.

Nachdem wir mit dem Abt unseres Klosters alleine sind, erhebe ich mich und nähere mich ihm gemäßigten Schrittes, das Telegramm in der Hand haltend. Ich übergebe es ihm und er liest die kurze Nachricht durch. Danach nickt er und gibt mir das Papier zurück.

"Dann wirst du dorthin reisen müssen, verehrter Bruder," kommentiert Seine Heiligkeit das Fernschreiben. "Ich werde alles Nötige veranlassen und dich dann informieren."

Es dauert noch eine Woche bis Seine Heiligkeit mich darüber in Kenntnis setzt, dass zwei Wochen darauf ein Flug für mich und den Gelong in meiner Begleitung von Katmandu nach Deutschland geht. Wir packen unsere wenigen Sachen und verlassen das Kloster zu Fuß. Ich stütze mich dabei auf meinen Stock.

An der Straße angekommen werden wir von Klosterbesuchern eingeladen ein Stück mitzufahren. Auf diese Weise erreichen wir die Hauptstadt nach dreimaligem Umsteigen und zwei Übernachtungen bei freundlichen Leuten. Im Flughafen von Katmandu sind unsere Flugkarten hinterlegt. Wir übernachten noch viermal in einer Herberge bis wir das Flugzeug besteigen können.

Auf dem langen Flug, den mein junger Begleiter zum großen Teil schlafend verbringt, fragt er mich einmal:

"Lama Dorje -unveränderlich-, kommt es oft vor, dass eine Wiedergeburt auf einem anderen Kontinent stattfindet?"

"Eher selten," erkläre ich ihm. "Weitaus häufiger erfahren wir nichts über eine Wiedergeburt. Dann hat der Verstorbene entweder das Namdrol -Nirwana- erreicht, oder lebt als tierisches oder pflanzliches Leben weiter. Es kann auch sein, dass er als Mensch in einem Umfeld lebt, in dem ihn kein Buddhist jemals trifft..."

Das Flugzeug landet schließlich in einer Stadt, die man hier Frankfurt nennt. In der Ankunftshalle treffen wir auf Lama Tobgyel. Er bringt uns mit dem Taxi zum Bahnhof. Wir fahren noch einige Stunden mit dem Zug. Vom Zielbahnhof bringt uns ein Taxi zum Kloster in der Stadt Plauen. Es unterscheidet sich kaum von den umliegenden Gebäuden. Nur der Anstrich lässt es in unseren Augen als Kloster des tibetischen Buddhismus erscheinen.

Die Außenfassade strahlt in leuchtendem Weiß und das oberste Fensterband verbindet ein breiter Streifen brauner Farbe. Das Gebäude liegt ein wenig zurück, von einem breiten Grünstreifen umschlossen. Wir betreten das Gebäude und lassen uns führen. Lama Tobgyel zeigt uns unsere Zimmer und lässt uns erst einmal ausruhen.

Um Mitternacht werden wir nach einer etwa zehnstündigen Ruhepause wach. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis wir uns an die europäische Zeit gewöhnt haben. Wir setzen uns mit untergeschlagenen Beinen auf und meditieren bis zum Morgen.

Gegen 6 Uhr bringt man uns das Frühstück. Nachdem wir unsere Reisschalen geleert und den Tee getrunken haben, machen wir uns frisch. Kaum sind wir fertig, erhalten wir Besuch von Lama Tobgyel. Er setzt sich zu uns und berichtet, wie er auf den Jungen aufmerksam geworden ist. Anschließend statten wir dem Abt dieses Klosters einen Besuch ab. Er segnet uns und wünscht uns Glück, erklärt aber, dass wir das Kloster in Jeans verlassen sollten, wenn wir Aufsehen vermeiden wollen.

Lama Tobgyel führt uns in die Kleiderkammer und ist uns bei der Auswahl ziviler Kleidung behilflich. Danach fahren wir mit einem Linienbus an den Stadtrand. Lama Tobgyel macht uns auf einen Wohnblock aufmerksam.

"Hier war früher ein Industriegebiet. Die Stadt hat die Ruinen aufgekauft und abreißen lassen. Auf dem Grundstück wurde schließlich dieser Wohnblock gebaut mit 32 unterschiedlich großen Wohnungen. Sie wurden an arme Familien vergeben.
Als ich vor Monaten von deiner jahrelang vergeblichen Suche nach der Nangwa von Lama Sherab erfuhr, habe ich mich diskret über die Bewohner des Wohnblocks informiert. Unter ihnen befindet sich eine alleinerziehende Mutter mit einem Sohn, der genau neun Monate nach Lama Sherabs Weggang geboren wurde. Außerdem war es immer Lama Sherabs Bestreben, den Brüdern im Westen beizustehen."

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