Freitag, 1. April 2022
Lama Rinpoche -06
Ich laufe zu den Anderen hinaus auf den Innenhof und versuche, den Ball zu erhaschen. Bald gelingt es mir und schon bin ich mitten im Spiel.

*

Als wir das Kloster erreicht und von dem Transporter heruntergestiegen sind, spüre ich jeden Knochen. Ich schaue mich um und nehme meine Tasche auf. Nun folge ich den Mönchen und Dennis, die begonnen haben die breite Freitreppe hinaufzusteigen. Oben im Eingang wendet sich der junge Mönch zu mir um und sagt:

"Willkommen in unserem Kloster, Frau Bäcker."

Dennis stört kurz, aber Peter schickt ihn zu den anderen Kindern, deren Geschrei man aus dem Innenhof schallen hört. Peter redet weiter, an mich gewandt:

"Lama Dorje wird jetzt Seine Heiligkeit aufsuchen. Anschließend wird Dennis einer Prüfung unterzogen und das Orakel befragt. Lassen Sie mich in der Zwischenzeit Ihnen ihre Räume zeigen."

Ich nicke ihm zu und antworte: "Okay."

Er redet mit einem jungen Mönch von hier, der vorhin dazugekommen ist. Ich bin froh, mich irgendwo hinlegen zu können, bis die Rückenschmerzen durch die Fahrt auf dem Transporter nachlassen. Meine Tasche wieder aufnehmend, folge ich den jungen Mönchen mehrere Treppen hinauf und einen Gang entlang. Der hier lebende Mönch öffnet eine der Türen und wir treten ein. Hier befinden wir uns in einem Wohn-Schlafraum mit fremdländischer Einrichtung. Seitlich befindet sich eine Tür, durch die man in ein Bad mit Toilette kommt. Peter erklärt mir:

"Das ist eins der Gästezimmer unseres Klosters. Legen Sie erst einmal ab und richten sich ein. Wir essen nach Geschlechtern getrennt in verschiedenen Speiseräumen. Wenn es soweit ist, wird eine Nonne kommen und Sie dorthin führen. Ahmen Sie die Anderen zuerst einmal nach. Ich beantworte Ihnen später alle Fragen, die hinzukommen mögen. Dennis wird Sie später auch besuchen kommen, aber dann in den Schlafräumen bei den anderen Jungs übernachten."

Ich habe Peter interessiert zugehört, bei dem Wort 'Nonne' aber gestutzt. Diese Frage muss ich sofort loswerden, bevor Peter mich alleinlässt:

"Mönche und Nonnen leben gemeinsam in einem Kloster?" frage ich. "Ich dachte, sie leben getrennt und in einer Art Zölibat..."

"Mönche und Nonnen haben hier im Kloster ihre eigenen Bereiche. Treffen sie sich zufällig, begegnen sie sich ehrerbietig und mit Respekt. Es stimmt schon, normalerweise leben Mönche und Nonnen enthaltsam, was bei der Unterbringung in einem Haus oft nicht gut möglich ist.
Sie müssen den tibetischen Buddhismus und seine verschiedenen Schulen näher kennen, um das zu verstehen. Vom Dalai Lama haben Sie sicher schon gehört. Er ist der Trülku -Vorsteher- einer von insgesamt vier Schulen. Drei davon leben enthaltsam. Die Sakya-Schule nimmt es mit der Enthaltsamkeit nicht so genau. Natürlich müssen die mönchischen Tugenden und Gebote befolgt werden, aber eine Heirat ist durchaus möglich.
Während in den anderen Schulen der nächste Trülku die Wiedergeburt des Verstorbenen ist, die gesucht werden muss, ist in der Sakya-Schule der älteste Sohn des vorherigen Trülku dessen Nachfolger."

"Ah," mache ich. "Und dieses Kloster gehört zur 'Sakya-Schule'?"

Peter bestätigt es mir:
"Ja, genauso ist es."

"Aber, hat denn Lama Sherab keinen Sohn?"

Peter lächelt.

"Nicht alle Mönche heiraten im Laufe ihres Lebens. Dass sie der Sakya-Schule angehören, bedeutet nicht, dass sie heiraten MÜSSEN! Schauen Sie, unser Kloster in Plauen propagiert die Enthaltsamkeit. Wir stehen aber in Verbindung mit einem Kloster in Weiterswiller im Elsass. Es ist darin liberaler."

"Ah, okay," antworte ich.

Nun verabschiedet sich Peter von mir und ich öffne erst einmal neugierig alle Schränke. Der Blick aus dem Fenster auf die umliegende Berglandschaft ist grandios.

*

Peter kommt auf den Innenhof hinaus und steuert auf mich zu. Ich habe den Ball gerade in Händen, werfe ihn nun im hohen Bogen davon und laufe Peter entgegen. Als ich ihn erreiche, fordert er mich lächelnd auf:

"Komm, Dennis! Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, will dich kennenlernen."

Dann dreht er sich um und verlässt den Innenhof wieder. Ich begleite ihn durch einen Gang in den hinteren Teil des Klosterkomplexes. Vor einer Tür bleiben wir stehen. Ein anderer junger Mönch, der dort steht, überreicht mir ein weißes Tuch, schmal und lang wie ein Schal. Peter erklärt mir:

"Nimm das Tuch über beide Hände, halte es hoch und überreiche es dem Mann auf dem Thron mit einer ehrerbietigen Verbeugung."

Danach öffnet der junge Mönch, der mir den 'Schal' überreicht hat, die Tür und Peter betritt den Raum mit mir an seiner Seite. Vor der gegenüberliegenden Wand steht ein breiter Stuhl mit vielen Verzierungen. Darauf sitzt im Schneidersitz ein Mann in roter Robe und safrangelbem Untergewand, sowie einem ungewöhnlichen Hut auf dem Kopf.

Neben ihm auf dem Boden sitzt Lama Dorje in der gleichen Kleidung. Ich gehe auf den erhöht sitzenden Mann zu, verbeuge mich und strecke ihm das weiße Tuch beidhändig entgegen. Er beugt sich vor, nimmt mir das Tuch ab und legt es mir um die Schultern. Dabei weist er auf ein seitliches Regal, auf dem vier dieser Mönchshüte nebeneinanderstehen und sagt irgendetwas. Peter übersetzt:

"Seine Heiligkeit sagt: 'Ich habe eine Aufgabe für dich. Siehst du dort die roten Hüte? Sage mir, welcher dir am besten gefällt.'"

Neugierig gehe ich näher an das Regal heran und meine:

"Sie sind doch alle gleich!"

Aber Peter antwortet:
"Sie sehen alle gleich aus, aber sie sind es nicht."

Ich schaue noch einmal hin und wähle gefühlsmäßig den zweiten Hut von rechts. Als ich danach greife, um ihn vom Regal zu nehmen, fordert Peter mich auf:

"Komm, wir gehen wieder nach draußen. Seine Heiligkeit muss etwas mit Lama Dorje besprechen."

Peter führt mich zu den Kindern im Innenhof zurück.

*

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