Mittwoch, 6. April 2022
Lama Rinpoche -11
In Dennis zehntem Jahr im Kloster darf ich an der Zeremonie der Schulentlassung seines Jahrganges teilnehmen. Menschen aus ganz Nepal lassen ihre Kinder in der Klosterschule unterrichten. Zur Schulentlassung ist daher ein buntes Treiben rund um das Kloster. Eltern und Verwandte sind gekommen, um die Schüler zum Ende dieses Lebensabschnitts zu beglückwünschen.

Die meisten Schüler gehen mit ihren Familien in ihre Heimat zurück und lernen das Handwerk ihres Vaters, um irgendwann sein Geschäft zu übernehmen. Nur wenige Mitschüler von Dennis haben sich für das Klosterleben entschieden, viele davon aus ganz profanen Gründen: Hier im Kloster werden ihre Grundbedürfnisse Kleidung, Nahrung und Wohnung befriedigt. Ihre Familien sind oft zu arm. Dennis wird eine besondere Zeremonie zuteil.

Ein Tag nachdem die Klosterschüler von ihren Familien abgeholt wurden und in ihre Heimat abgereist sind, werden die verbleibenden achtzehn Schüler in den Stand eines Gelong -Mönchs- erhoben. Dies geschieht, indem sie in den Thronsaal des Khenchen Lama -Abt- geführt werden.

Die jungen Männer von 16 bis 18 Jahren müssen vor dem Thron Seiner Heiligkeit in zwei Reihen hintereinander niederknien. Die ehrwürdigen Lamas des Klosters haben sich an den beiden Schmalseiten des Raumes auf den Boden gesetzt. Sie lassen Trommeln und lange Flöten ertönen. Die Trommler stimmen einen Kehlkopfgesang an. Der Inhalt ist ein altes buddhistisches Gebet. Die Eltern der Schüler drängen sich an der rückwärtigen Wand.

Seine Heiligkeit ruft einen Schüler nach dem anderen auf. Dieser erhebt sich und tritt nun vor, um vor Seiner Heiligkeit wieder auf die Knie zu gehen. Nun treten zwei Gelong hinzu. Einer benetzt die Stirn des ehemaligen Klosterschülers mit heiligem Wasser aus einer goldenen Kanne, der andere fängt das Wasser unter dessen Kinn in einer Schale wieder auf.

Seine Heiligkeit beugt sich etwas vor und legt ihm eine weiße Hada -Schärpe- über die Schultern. Auch erhält er einen roten Mönchshut. Nun setzt er sich hinter die zweite Reihe der Novizen mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und stimmt in das Gebet der Mönche ein.

Schließlich ist Dennis an der Reihe. Auch er wird mit heiligem Wasser gesegnet. Seine Heiligkeit legt ihm jedoch eine safrangelbe Hada über die Schultern. Er hat sich zu Dennis vorgebeugt und sagt laut:

"Sei für deine Brüder in Deutschland wie die Sonne am Taghimmel oder wie der Mond am Nachthimmel, Lama Rinpoche!"

Dennis lässt sich nach vorne fallen, fängt sich mit den Händen ab und beugt sich ganz zu Boden. Von meiner Position gewinnt man den Eindruck, er küsse die Erde. Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, hat eine Stufe übersprungen, Dennis in den Stand eines Lamas erhoben und ihm seinen rituellen Namen gegeben. 'Rinpoche' kommt aus der tibetischen Sprache und bedeutet 'der Wertvolle'. Außerdem hat er ihm eine Aufgabe erteilt.

Nach der Zeremonie geht Dennis in meiner Begleitung in die Näherei. Dort sucht er sich drei Longshirts in safrangelber Farbe und wechselt gleich an Ort und Stelle sein dunkelrotes Longshirt gegen eins der safrangelben aus. Seine anderen roten Longshirts wird er bald ebenfalls bei mir abgeben.

Seit der Zeremonie darf Dennis, schon als 18jähriger, im Kreis der Lamas im Thronsaal speisen und nimmt auch an deren Besprechungen und Ritualen teil. Auch hat er jetzt ein eigenes Zimmer, wie die anderen neuen Gelong ebenso. Trotzdem besucht er mich weiterhin in meinem Zimmer. Ich genieße das Zusammensein sehr.

*

Ein Jahr nachdem mich Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama -Abt- zu einem der ihren geweiht und mir den Namen Rinpoche -der Wertvolle- gegeben hat, ist die Zeit der Rückreise nach Deutschland gekommen.

Der Zeitpunkt der Reise ist mit dem Kloster in der Heimat abgestimmt worden. Dort hat man für Mama eine Schneiderwerkstatt im Keller eingerichtet. Dann hat der Khenchen Lama die Flugkarten besorgt und sie im Flughafen hinterlegen lassen.

Die Nonnen haben Mama, die ihr Haar inzwischen auch ganz kurz trägt, herzlich verabschiedet und ihr einige Stoffe als Muster mitgegeben. Ich bin zu Seiner Heiligkeit gegangen, habe mit den ehrwürdigen Lamas gefrühstückt und mich danach ehrerbietig von ihnen verabschiedet.

Mama und ich haben seit Jahren keine westliche Kleidung mehr getragen. Hier in Nepal interessiert das niemanden. In Deutschland muss man dagegen aufpassen, sich von den Gewohnheiten der Allgemeinheit nicht zu sehr abzusetzen.

Wir fahren mit mehreren Lastenrikschas, sogenannten Tuktuks, und auf der Ladefläche eines LKWs in die Hauptstadt. Unterwegs übernachten wir zweimal in Herbergen. Im Flughafen Katmandu, dem Tribhuvan International Airport, angekommen, gehen wir als Erstes in das Büro, das unsere Reiseunterlagen verwahrt. Dort informieren wir uns auch über die Abflugzeit und die zurzeit geltenden Reiseformalitäten.

Da wir noch sechs Stunden Zeit haben und die Preise in den Flughafenstores wegen der Touristen überteuert sind, geben wir zuerst einmal unser Gepäck auf. Anschließend lassen wir uns von einer Fahrradrikscha in die Stadt zurückfahren. Wir essen in einer der vielen Garküchen und kaufen uns jeder eine Jeans und eine leichte Jacke.

Danach lassen wir uns in den Flughafen zurückbringen und ziehen uns auf den Kundentoiletten um. Unsere Longshirts packen wir irgendwie in den Hosenbund und verpacken unsere restliche Klosterkleidung als Handgepäck, das wir in die Kabine mitnehmen.

Schließlich rückt der Abflugzeitpunkt näher. Zwei Stunden vorher stellen wir uns mit anderen Reisenden am Abflugschalter an. Nachdem die Reiseformalitäten erledigt sind, werden wir zum Flugzeug durchgelassen. Wir suchen unsere Sitzplätze und machen es uns dort bequem. Dann ertönt ein Gong und kurz darauf startet der Jet. Die meiste Zeit der zwölf Stunden Flugdauer verbringen wir schlafend. Wegen der Zeitverschiebung landet unser Flugzeug gegen Mitternacht Ortszeit in Frankfurt, während in Katmandu jetzt früher Vormittag ist.

Hinter den Ankunftsschaltern sehen wir einen alten Bekannten stehen. Es ist Peter, der Gelong -Mönch-, Peter aus dem Kloster in unserer Heimat! Freudig gehe ich schnellen Schrittes auf ihn zu, begrüße ihn lächelnd nach Nepali-Art, indem ich die gefalteten Hände an mein Kinn hebe und umarme ihn herzlich.

"Grüß' dich," sage ich grinsend. "Wie geht es dir? Steht das Kloster noch?"

Bei der zweiten Frage zwinkere ich ihm zu. Mama hat uns inzwischen erreicht.

"Seid gegrüßt!" antwortet Peter lächelnd. "Mir geht es ganz gut und das Kloster steht noch! Kommt! Der Zug wartet nicht!"

Ich nicke und wir folgen Peter, der die U-Bahn ansteuert. Eine halbe Stunde später sind wir im Hauptbahnhof und schon zwanzig Minuten darauf fährt unser Zug Richtung Plauen ab. Als der Zugbegleiter unsere Fahrscheine sehen will, hat Peter alles in einem Umschlag bereit.

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