Donnerstag, 7. April 2022
Lama Rinpoche -12
Nach vier Stunden Zugfahrt und einer halben Stunde mit dem Bus erreichen wir das heimatliche Kloster am frühen Morgen. Peter führt uns zu einem Gästezimmer und besorgt uns ein Frühstück. Danach darf Mama sich dort schlafen legen und ich folge Peter zu einem Zimmer in der Etage darüber.

"Dies ist ab heute dein Schlaf- und Arbeitsraum!" erklärt er. "Hierhin kannst du dich zum Meditieren zurückziehen und bist weitgehend ungestört, Lama Rinpoche!"

"Ah, du weißt...?" frage ich.

"Die beiden Äbte haben einige Zeit miteinander in Verbindung gestanden. Im Vorfeld musste etwas organisiert werden. Dabei erfährt man so etwas schon einmal," antwortet Peter lächelnd. "Jetzt schlaf' dich erst einmal aus. Dann zieh' dich um und besuche deinen neuen Abt!"

Damit zieht er sich zurück. Ich nicke ihm zu und schließe hinter ihm die Tür. Nun wende ich mich der Liege im hinteren Bereich zu und bin kurz danach eingeschlafen. Am Nachmittag wache ich wieder auf, mache mich frisch und ziehe mir meine Mönchskleidung an.

Die nun folgende Wartezeit verkürze ich mir, indem ich mich im Schneidersitz auf den Boden vor meine Liege setze und mich entspanne. Irgendwann kommt Peter zu mir. Der Gelong sieht mich meditieren, tritt leise an mich heran und legt sachte seine Hand auf meine Schulter. Ich öffne die Augen. Peter lächelt mich an und hebt die gefalteten Hände an sein Kinn.

"Seine Heiligkeit möchte mit dir speisen," sagt er leise.
Ich erhebe mich und hebe ebenfalls die gefalteten Hände.

"Dann führe mich!" fordere ich ihn freundlich auf.
Die Lage des Thronsaales kenne ich in diesem Gebäude noch nicht.

Es geht durch zwei Gänge und eine schmale Treppe unter das Walmdach. Dort öffnet Peter eine Tür. Er lässt mich vorgehen und betritt hinter mir den Raum. Etwa 16 Mönche, ehrwürdige Lamas und Gelong, sitzen mit untergeschlagenen Beinen an niedrigen Tischen, während Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, auch hier im Schneidersitz auf einem breiten, reich verzierten Stuhl Platz genommen hat.

Ich erkenne, dass bis auf zwei alte Männer an den niedrigen Tischen, die wie ich safrangelbe Longshirts unter ihrer roten Kesa -Robe- tragen, alle anderen rote Longshirts tragen. Es ist halt ein kleines Kloster in der 'Diaspora'. Buddhisten leben in Deutschland weit verstreut.

Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, schaut bei unserem Eintreten auf. Er winkt mich an einen freien Platz neben sich. Mich leicht verbeugend hebe ich die gefalteten Hände und komme der Aufforderung Seiner Heiligkeit nach. Peter trennt sich nun von mir und lässt sich zwischen zwei Gelong nieder.

Der Khenchen Lama klatscht in die Hände und kurz darauf tragen zwei junge Männer, Klosterschüler, einen großen Reistopf herein. Jeder Mönch erhält eine Kelle voll in seine Reisschale. Anschließend lassen sie sich an einer Seitenwand nieder und beginnen ein Trommel- und Flötenspiel.

Nach dem der letzte Mönch satt ist und einer nach dem anderen unter Ehrerbietungsbezeugung gegenüber Seiner Heiligkeit den Raum verlassen hat, nehmen die Klosterschüler den Reistopf auf und bringt ihn in die Küche zurück. Nun bin ich mit Seiner Heiligkeit allein im Thronsaal. Respektvoll warte ich, bis er mich anspricht.

"Lama Rinpoche," beginnt der Khenchen Lama nach einiger Zeit. "Wir sind ein kleines Kloster in einem fremden Land. Die Zahl der Gläubigen ist klein und sie leben weit verstreut. Unsere Klosterschule besuchen nur wenige Schüler, die alle schon das staatliche Schulsystem absolviert haben und bevor sie sich für eine Berufsausbildung entscheiden. Gelong Peter hat die Schule mithilfe ehemaliger Schüler, die sich für das Kloster entschieden haben, wunderbar im Griff. Dennoch sehe ich Entwicklungspotential für die Schule, das Kloster und für dich, Bruder!"

Seine Heiligkeit macht eine Gedankenpause. Ich warte geduldig, was er mir sagen will.

"Was hältst du von Kungfu-Kursen für die Schüler?" fragt er mich unvermittelt.

Ich neige den Kopf. Dann schaue ich zu ihm auf.

"Peter war mir anfangs ein guter Lehrer, bevor Lama Chodrag meinen Unterricht vervollkommnet hat. Auch der Weggang von Lama Dorje riss eine große Lücke. Nun habe ich meine Ausbildung abgeschlossen und bin nach Europa zurückgesandt worden. Ich kann Gelong Peter gerne entlasten!"

Seine Heiligkeit nickt. Er ergänzt:
"Deine ehrenwerte Mutter hat sich in der Schneiderei hervorgetan. Wir haben in den letzten Wochen einen Raum im Keller als Schneiderei eingerichtet und um Klosterschülerinnen geworben, die sich speziell dafür interessieren. Sie ist also ebenso in die Bildung junger Menschen integriert, wenn sie das möchte."

Ich lächele den Khenchen Lama an und bestätige:
"Das ist ein großes Anliegen meiner ehrenwerten Mutter!"

Seine Heiligkeit nickt wieder und äußert sich dann mit fester Stimme:

"Du wirst als Leiter der Schule eingesetzt und Peter wird deine rechte Hand! Außerdem wirst du deiner ehrenwerten Mutter ihren neuen Wirkungskreis zeigen und sie ihren Schülerinnen vorstellen. Aber da wäre noch etwas, um das ich dich bitte."

Aufhorchend neige ich den Kopf. Ein Khenchen Lama bittet gewöhnlich nicht. Er entscheidet, denn alle Verantwortung liegt bei ihm. Seine Heiligkeit redet weiter:

"Wenn Mann und Frau heiraten, müssen sie hierzulande vor dem Staat ein Gelübde ablegen. Es folgt eine private Feier, wie es im Buddhismus üblich ist. Wir Mönche sind oft gefragt worden, ob nicht ein Lama bei einer Hochzeit zugegen sein könnte. Mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft das Kloster besuchen, ist aber vielen zu teuer. Wir haben Lama Tobgyel ein paar Male zu den Leuten gesandt. Aber das sind immer nur finanzstarke Gläubige gewesen, die sich das Bahnticket und die Übernachtung für den Lama leisten konnten. Das müssen wir noch einmal überdenken."

Ich hebe die gefalteten Hände an mein Kinn und antworte bestätigend:

"Allen Gläubigen sollte ein Lama für den schönsten Tag ihres Lebens zur Verfügung stehen! Da wird sich ein Weg finden! Ich kümmere mich darum."

Der Abt nickt lächelnd. Dann bin ich entlassen.

Zuerst setze ich mich mit Peter zusammen. Wir beraten, wie wir der Schule neuen Schwung geben können und kommen zu dem Ergebnis, dass er seine Hausaufgabenbetreuung und Prüfungsvorbereitung behält. Daneben soll er den Schülern, ob männlich oder weiblich, einen Kungfu-Kurs anbieten. Mama wird interessierte Schüler und Schülerinnen an der Nähmaschine und dem Zuschneidetisch ausbilden. Ich selbst will die buddhistische Philosophie lehren, und den interessierten jungen Menschen das Meditieren beibringen. Daneben will ich den Führerschein machen, um irgendwann einmal in einem Kleinlieferwagen durch Deutschland zu fahren und buddhistische Feiern zu leiten, wenn das Kloster eine Anfrage erhält. In diesem kleinen fensterlosen Fahrzeug kann ich dann auch übernachten.

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