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Montag, 11. April 2022
Lama Rinpoche -16
mariant, 11:28h
Mehrere Tage darauf nähert sich mir ein Gelong während meines Nachmittagsunterrichts. Er flüstert mir zu:
"Herr Mann ist mit seinem Sohn angekommen und fragt nach dir, ehrenwerter Lama."
Ich nicke ihm zu und klatsche in die Hände. Nachdem alle Schüler zu mir schauen, gebe ich ihnen zur Aufgabe, den Text bis Morgen durchzulesen und sich darüber Gedanken zu machen, den wir gerade durcharbeiten. Danach warte ich bis sich der Unterweisungsraum geleert hat.
Anschließend folge ich dem Gelong -Mönch- in das Foyer des Klosters. Dort finde ich Noah und seinen Vater. Ich begrüße beide mit gefalteten Händen und durch Neigen meines Kopfes. Dann bitte ich sie, mir zu folgen. Auf dem Weg zum Trainingsraum im Keller, erkläre ich beiden:
"Kungfu wird hier im Westen als ostasiatische Kampfkunst angesehen. Es wurde über Jahrtausende von buddhistischen Mönchen durch genaue Naturbeobachtung entwickelt und dient dem Frieden, nicht dem Prügeln!"
Wir haben den Keller erreicht. Im großen Raum steht dort die Hälfte unserer Klosterschüler in Reih und Glied und soll Peter nachmachen. Der Gelong kommentiert dabei sein Tun und korrigiert einzelne Schüler. Er geht geduldig auf jeden Einzelnen ein. Ich lasse meine Gäste eine Weile zuschauen, dann sage ich:
"Kungfu durchzieht das ganze Leben! Unsere Klosterschüler machen Übungen, die man zum Beispiel 'Affe' oder 'Vogel' nennt. Hier erkennen Sie die genaue Naturbeobachtung der frühen Mönche. Natürlich kann man auch ganz alltägliche Bewegungsabläufe zugrunde legen und daraus die Techniken entwickeln, mit denen man mögliche Gegner in Schach hält oder sie sich gegenseitig ausschalten lässt."
"Das 'Sich gegenseitig ausschalten' war das, was Sie bei den Kerlen vor Tagen angewandt haben?" fragt Herr Mann jetzt.
"Ja," antworte ich. "Es war für mich ganz leicht, denn sie hatten ihre Gehirne in den Fäusten, nicht im Kopf! Sie überlegten nicht."
"Aber wenn man zu lange überlegt, kann es auch zu spät zum Reagieren sein!" meint er.
"Deshalb lassen wir unsere Schüler üben, üben, üben. Sie durchlaufen ein kontinuierliches Training. So werden sie mit der Zeit zu einer Choreografie, die ihnen in Fleisch und Blut übergeht. Sie reagieren sicher, ohne lange zu überlegen - und sie gewinnen an Selbstdisziplin!" entgegne ich ihm.
"Ich fürchte, so lange hat Noah keine Zeit mehr," antwortet Herr Mann düster.
"Ist es in den letzten Tagen zu weiteren Angriffen gekommen? In der Schule zum Beispiel?" frage ich mit gekräuselter Stirn.
"In der Schule ist die Pausenaufsicht verstärkt worden. Sie greift frühzeitig ein und sorgt dafür, dass es zu keiner Eskalation kommt. Den Schulweg übernimmt meine Frau. Noah kann nun aber nach den Hausaufgaben nicht mehr vor die Tür," erklärt mir der Vater.
"Das ist kein Zustand!" pflichte ich ihm bei.
Inzwischen haben wir das Foyer wieder erreicht. Noah fragt mich hier:
"Was sind das für Rollen an den Wänden entlang?"
"Das sind Gebetsmühlen," erkläre ich dem Jungen lächelnd. "Wenn man sie dreht, nimmt der Wind die Gebete um Frieden, Glück und Gesundheit mit sich fort. Irgendwann wird das eine oder andere Gebet auch erfüllt!"
Noah läuft spontan auf die Gebetsmühlen zu.
"Immer rechts herumdrehen!" rufe ich ihm schmunzelnd hinterher.
Ich erinnere mich daran, wie ich mit Mama und dem Gelong Peter in jungen Jahren auf den Berg mit der heiligen Quelle gestiegen bin. Dort oben habe ich spontan mein ganzes Gesicht in das Becken getaucht, um möglichst viel des versprochenen Glücks abzubekommen. Noahs Reaktion gerade entspringt ganz sicher dem gleichen Motiv. Er läuft einmal um das Foyer herum von einer Gebetsmühle zur Anderen und dreht sie, bevor er zu uns zurückkommt.
"Kommen Sie morgen mit ihrem Jungen hierher zurück!" biete ich dem Vater zum Abschied an. "Um wieviel Uhr kann ich damit rechnen?"
"Wir können täglich gegen 16Uhr hier sein," antwortet Herr Mann. "Allerdings wird ihn meist seine Mutter bringen müssen. Wie lange wird das Training dauern?"
"Täglich, sagen Sie? Dann reicht erst einmal eine halbe Stunde. Später kann man die Trainingseinheit erweitern. Ich denke, das reicht. Ihre Frau kann in der Zeit Kaffeeklatsch bei meiner ehrwürdigen Mutter halten," entscheide ich.
"Und wieviel würde das Training kosten?" fragt er noch einmal.
Ich schüttele den Kopf und entgegne ihm: "Ich nehme kein Geld! Wenn Sie möchten, spenden Sie dem Kloster hin und wieder einen kleinen Betrag."
"Okay," meint Herr Mann und lächelt erleichtert.
Wir verabschieden uns nun voneinander und ich wende mich wieder zur Treppe.
Am Nachmittag des darauffolgenden Tages sage ich dem Gelong im Foyer Bescheid und gehe dann auf mein Zimmer. Ich setze mich mit untergeschlagenen Beinen vor meine Liege auf den Boden und beginne mit Meditieren. Nach einiger Zeit der Ruhe berührt mich jemand an der Schulter. Ich öffne die Augen und sehe, dass sich der Gelong mir lautlos genähert hat.
Er tritt ein wenig zur Seite und macht mir den Blick frei auf meinen Besuch. Dann beugt er sich zu mir herunter und flüstert:
"Frau Mann und Sohn möchten den verehrten Lama Rinpoche sprechen."
Ich nicke ihm zu und erhebe mich, um mich meinem Besuch zu nähern. Währenddessen will sich der Gelong leise entfernen.
"Verehrter Bruder," spreche ich ihn an. "Würdet Ihr die Dame zu meiner ehrwürdigen Mutter führen, bevor Ihr an Euren Platz zurückkehrt?"
Der Gelong nickt und verbeugt sich lächelnd. Kurz darauf bin ich mit Noah allein. Er schaut mich erwartungsvoll an.
Ich erkläre dem Jungen:
"Ich könnte mit dir durch Parks und Wälder spazieren gehen und dir die Wildtiere zeigen, wie sie sich bewegen. Du hast gestern im Keller unsere Klosterschüler die Bewegungen einiger Wildtiere nachahmen gesehen. Kungfu durchzieht das ganze Leben. Es kann auch ein ganzes Leben benötigen, um darin meisterlich zu werden. Kungfu ist nicht bloß das, was du mit deinen Augen siehst. Es geht tiefer! Es hat etwas mit Charakter und Einstellung zu tun - und mit deinem Umgang mit deinen Mitmenschen, Noah."
"Was muss ich tun, Meister?" fragt er mich nun, mutlos geworden.
"Hänge zuerst einmal deine Jacke hier an den Haken," fordere ich ihn auf und lächele ihn zuversichtlich an.
Er hat seine Jacke auch jetzt gedankenlos am Eingang des Zimmers ausgezogen und über einen Hocker fallen gelassen. Nun geht er zurück, hebt sie vom Hocker auf und nähert sich mir wieder, um sie an einen Haken am Raumteiler aufzuhängen.
"Herr Mann ist mit seinem Sohn angekommen und fragt nach dir, ehrenwerter Lama."
Ich nicke ihm zu und klatsche in die Hände. Nachdem alle Schüler zu mir schauen, gebe ich ihnen zur Aufgabe, den Text bis Morgen durchzulesen und sich darüber Gedanken zu machen, den wir gerade durcharbeiten. Danach warte ich bis sich der Unterweisungsraum geleert hat.
Anschließend folge ich dem Gelong -Mönch- in das Foyer des Klosters. Dort finde ich Noah und seinen Vater. Ich begrüße beide mit gefalteten Händen und durch Neigen meines Kopfes. Dann bitte ich sie, mir zu folgen. Auf dem Weg zum Trainingsraum im Keller, erkläre ich beiden:
"Kungfu wird hier im Westen als ostasiatische Kampfkunst angesehen. Es wurde über Jahrtausende von buddhistischen Mönchen durch genaue Naturbeobachtung entwickelt und dient dem Frieden, nicht dem Prügeln!"
Wir haben den Keller erreicht. Im großen Raum steht dort die Hälfte unserer Klosterschüler in Reih und Glied und soll Peter nachmachen. Der Gelong kommentiert dabei sein Tun und korrigiert einzelne Schüler. Er geht geduldig auf jeden Einzelnen ein. Ich lasse meine Gäste eine Weile zuschauen, dann sage ich:
"Kungfu durchzieht das ganze Leben! Unsere Klosterschüler machen Übungen, die man zum Beispiel 'Affe' oder 'Vogel' nennt. Hier erkennen Sie die genaue Naturbeobachtung der frühen Mönche. Natürlich kann man auch ganz alltägliche Bewegungsabläufe zugrunde legen und daraus die Techniken entwickeln, mit denen man mögliche Gegner in Schach hält oder sie sich gegenseitig ausschalten lässt."
"Das 'Sich gegenseitig ausschalten' war das, was Sie bei den Kerlen vor Tagen angewandt haben?" fragt Herr Mann jetzt.
"Ja," antworte ich. "Es war für mich ganz leicht, denn sie hatten ihre Gehirne in den Fäusten, nicht im Kopf! Sie überlegten nicht."
"Aber wenn man zu lange überlegt, kann es auch zu spät zum Reagieren sein!" meint er.
"Deshalb lassen wir unsere Schüler üben, üben, üben. Sie durchlaufen ein kontinuierliches Training. So werden sie mit der Zeit zu einer Choreografie, die ihnen in Fleisch und Blut übergeht. Sie reagieren sicher, ohne lange zu überlegen - und sie gewinnen an Selbstdisziplin!" entgegne ich ihm.
"Ich fürchte, so lange hat Noah keine Zeit mehr," antwortet Herr Mann düster.
"Ist es in den letzten Tagen zu weiteren Angriffen gekommen? In der Schule zum Beispiel?" frage ich mit gekräuselter Stirn.
"In der Schule ist die Pausenaufsicht verstärkt worden. Sie greift frühzeitig ein und sorgt dafür, dass es zu keiner Eskalation kommt. Den Schulweg übernimmt meine Frau. Noah kann nun aber nach den Hausaufgaben nicht mehr vor die Tür," erklärt mir der Vater.
"Das ist kein Zustand!" pflichte ich ihm bei.
Inzwischen haben wir das Foyer wieder erreicht. Noah fragt mich hier:
"Was sind das für Rollen an den Wänden entlang?"
"Das sind Gebetsmühlen," erkläre ich dem Jungen lächelnd. "Wenn man sie dreht, nimmt der Wind die Gebete um Frieden, Glück und Gesundheit mit sich fort. Irgendwann wird das eine oder andere Gebet auch erfüllt!"
Noah läuft spontan auf die Gebetsmühlen zu.
"Immer rechts herumdrehen!" rufe ich ihm schmunzelnd hinterher.
Ich erinnere mich daran, wie ich mit Mama und dem Gelong Peter in jungen Jahren auf den Berg mit der heiligen Quelle gestiegen bin. Dort oben habe ich spontan mein ganzes Gesicht in das Becken getaucht, um möglichst viel des versprochenen Glücks abzubekommen. Noahs Reaktion gerade entspringt ganz sicher dem gleichen Motiv. Er läuft einmal um das Foyer herum von einer Gebetsmühle zur Anderen und dreht sie, bevor er zu uns zurückkommt.
"Kommen Sie morgen mit ihrem Jungen hierher zurück!" biete ich dem Vater zum Abschied an. "Um wieviel Uhr kann ich damit rechnen?"
"Wir können täglich gegen 16Uhr hier sein," antwortet Herr Mann. "Allerdings wird ihn meist seine Mutter bringen müssen. Wie lange wird das Training dauern?"
"Täglich, sagen Sie? Dann reicht erst einmal eine halbe Stunde. Später kann man die Trainingseinheit erweitern. Ich denke, das reicht. Ihre Frau kann in der Zeit Kaffeeklatsch bei meiner ehrwürdigen Mutter halten," entscheide ich.
"Und wieviel würde das Training kosten?" fragt er noch einmal.
Ich schüttele den Kopf und entgegne ihm: "Ich nehme kein Geld! Wenn Sie möchten, spenden Sie dem Kloster hin und wieder einen kleinen Betrag."
"Okay," meint Herr Mann und lächelt erleichtert.
Wir verabschieden uns nun voneinander und ich wende mich wieder zur Treppe.
Am Nachmittag des darauffolgenden Tages sage ich dem Gelong im Foyer Bescheid und gehe dann auf mein Zimmer. Ich setze mich mit untergeschlagenen Beinen vor meine Liege auf den Boden und beginne mit Meditieren. Nach einiger Zeit der Ruhe berührt mich jemand an der Schulter. Ich öffne die Augen und sehe, dass sich der Gelong mir lautlos genähert hat.
Er tritt ein wenig zur Seite und macht mir den Blick frei auf meinen Besuch. Dann beugt er sich zu mir herunter und flüstert:
"Frau Mann und Sohn möchten den verehrten Lama Rinpoche sprechen."
Ich nicke ihm zu und erhebe mich, um mich meinem Besuch zu nähern. Währenddessen will sich der Gelong leise entfernen.
"Verehrter Bruder," spreche ich ihn an. "Würdet Ihr die Dame zu meiner ehrwürdigen Mutter führen, bevor Ihr an Euren Platz zurückkehrt?"
Der Gelong nickt und verbeugt sich lächelnd. Kurz darauf bin ich mit Noah allein. Er schaut mich erwartungsvoll an.
Ich erkläre dem Jungen:
"Ich könnte mit dir durch Parks und Wälder spazieren gehen und dir die Wildtiere zeigen, wie sie sich bewegen. Du hast gestern im Keller unsere Klosterschüler die Bewegungen einiger Wildtiere nachahmen gesehen. Kungfu durchzieht das ganze Leben. Es kann auch ein ganzes Leben benötigen, um darin meisterlich zu werden. Kungfu ist nicht bloß das, was du mit deinen Augen siehst. Es geht tiefer! Es hat etwas mit Charakter und Einstellung zu tun - und mit deinem Umgang mit deinen Mitmenschen, Noah."
"Was muss ich tun, Meister?" fragt er mich nun, mutlos geworden.
"Hänge zuerst einmal deine Jacke hier an den Haken," fordere ich ihn auf und lächele ihn zuversichtlich an.
Er hat seine Jacke auch jetzt gedankenlos am Eingang des Zimmers ausgezogen und über einen Hocker fallen gelassen. Nun geht er zurück, hebt sie vom Hocker auf und nähert sich mir wieder, um sie an einen Haken am Raumteiler aufzuhängen.
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