Freitag, 15. April 2022
Lama Rinpoche -20
Ich nicke und antworte ihm:
"Ich werde die Idee noch einmal überdenken, Eure Heiligkeit!"

Er nickt mir lächelnd zu und hebt die gefalteten Hände an sein Kinn. Damit bin ich erst einmal entlassen. Ich erhebe und verbeuge mich ehrerbietig, bevor ich den Thronsaal verlasse und mein Zimmer aufsuche. Mir kommt eine Idee, über die ich mit Noahs Vater sprechen muss.

Als Noah wieder einmal mit seinem Vater ins Kloster kommt und ein Gelong mit ihm Kraft- und Reaktionstraining macht, spreche ich den Vater darauf an:

"Herr Mann, waren Sie schon einmal in Hongkong?"

"Nein," meint er und macht ein verständnisloses Gesicht. "Wieso?"

"Hongkong ist eine Mehrmillionenstadt, wie zum Beispiel auch New York. Sie liegt an der chinesischen Pazifikküste und war früher britisches Mandatsgebiet. Als die Briten sich zurückzogen, wurde Hongkong ein selbstverwalteter Stadtstaat. Heute ist die Stadt unter starken chinesischen Einfluss geraten.
Himmelstrebende Hochhäuser gibt es dort und auch traditionelle Architektur. Sie hat grüne Parks, von denen zwei auch für die Touristik interessant sind... Ich frage, weil Noah mir mit einer Asienreise in den Ohren liegt."

"Ich weiß," antwortet sein Vater und schaut mich zweifelnd an. "Er möchte Land und Leute kennenlernen und auch an einem Wettkampf teilnehmen..."

"Ich bin gegen einen Wettkampf, nur um des Wettkampfes Willen. Ich möchte ihm beibringen, dass Kungfu eine Lebenseinstellung ist und dem Frieden dient. Wir werden angehalten für alle Geschöpfe Mitgefühl zu empfinden und selbstlos für den Schwächeren einzutreten. Sie könnten mir dabei helfen!"

Herr Mann kräuselt die Stirn:
"Wie kann ich Ihnen dabei helfen, Herr Bäcker?"

Ich schenke ihm reinen Wein ein und erkläre:
"Ich stehe vor einer Reise nach Hongkong, um zwei ehrenwerte alte Herrschaften heraus zu holen, die Großeltern einer unserer Schülerinnen. Bisher ist geplant, dass ich in Zivil reise - ein Lama würde sofort verhaftet, zumindest aber beschattet - und die Schülerin als Kontaktperson mitnehme.
Noch unauffälliger wäre es, wenn ich als ihr Neffe reise. Also, wenn Sie und ihr Sohn einen Urlaub von wenigen Tagen dort verbringen und ich sie als ihr Neffe begleite. Unsere Schülerin macht dann die Hostess, die Gästebetreuerin."

"Das muss ich aber erst einmal mit meiner Frau besprechen!" entscheidet Herr Mann. "Da ist noch die Kostenfrage!"

"Natürlich!" gebe ich ihm Recht. "Das Kloster bucht eine Pauschalreise für alle beteiligten Personen, Flug, Hotel und Verpflegung inklusive!"

*

Einen Monat später sitzen wir im Flugzeug von Frankfurt nach Hongkong, ein über 16stündiger Flug. Noah hat viel geschlafen, während ich mich die meiste Zeit im Meditieren geübt habe. Ich muss mich sehr disziplinieren, denn Yong Tai ist eine wunderbare Person, asiatisch zurückhaltend und subtil verführerisch. Seit wir uns das erste Mal in Mamas Zimmer getroffen haben, habe ich das Gefühl, dass auch sie etwas für mich empfindet.

Nach der Landung auf Chek Lap Kok, dem Hongkong International Airport, und nach dem Auschecken, lassen wir uns von einem der Cabs ins Hotel fahren. Im 43.Stockwerk haben wir drei Zimmer mit Zwischentüren gebucht und beziehen sie kurz nach unserer Ankunft. Noah ist ganz außer sich vor Aufregung und klebt mit der Nase an den wandhohen Fensterscheiben aus Sicherheitsglas.

Um das lange Sitzen im Flugzeug auszugleichen, rege ich den Besuch eines Parks an. Dort macht Noah große Augen. Neben der alten chinesischen Architektur und den fremden Pflanzen faszinieren ihn die vielen fremden Menschen, die auf dem Rasen Tai-Chi praktizieren, eine chinesische Atemtechnik.

Nach einer Stunde Aufenthalt im Park gehen wir wieder ins Hotel zurück. Unterwegs fragt Herr Mann unsere Begleiterin Yong Tai:

"Yong Tai, kennst du eigentlich solch eine Landschaft wie die, die wir eben gesehen haben."

"In meiner Heimatstadt gibt es einen 'Ostasiatischen Garten'," erklärt sie ihm, "aber der ist nichts gegenüber diesen hier. Der Eindruck ist auch für mich überwältigend gewesen."

In der Hotellobby kann man Bücher, Videos und Spielzeug kaufen. Noah überredet seinen Vater, ihm als Souvenir einen gelben Stoff-Drachen mit breitem Kopf zu kaufen, bevor wir mit dem Aufzug auf unsere Zimmer fahren. Wir übernachten im Hotel und frühstücken am Morgen in einem großen Hotel-Restaurant, in dem nur europäische Geschäftsleute anwesend zu sein scheinen. Dementsprechend ist das Frühstück eher französisch als asiatisch.

Am Vormittag nehmen wir die U-Bahn, um in den Stadtteil an der Peripherie zu kommen, in dem Yong Tais Großeltern wohnen. Hier sind die Häuser höchstens drei Stockwerke hoch. Unsere junge Gästeführerin orientiert sich an den Straßennamen und hat einen Stadtplan im Handy.

Von der U-Bahn-Haltestelle dauert es noch eine halbe Stunde zu Fuß bis wir vor einem metallenen Tor stehen. Sie drückt dagegen und es öffnet sich quietschend. Nun stehen wir in einem Innenhof. Links von uns sitzt ein Mann hinter dem Fenster eines Anbaus.

Yong Tai geht darauf zu und klopft an die Tür daneben. Der Mann erhebt sich und steht kurz darauf in der Tür. Sie begrüßen sich nach Landesart mit Verbeugen und reden eine Weile auf Chinesisch miteinander. Danach schließt sich die Tür und Yong Tai kommt zu uns zurück.

"Meine ehrenwerten Großeltern bewohnen das Appartement 305. Das hat mir eben der Hausmeister berichtet."

Sie führt uns nun quer über den Hof bis zu einem Eingang, der von der Figur des chinesischen Glücksdrachens eingerahmt ist. Hinter dem Eingang zeigt sie uns einen Aufzug mit schmiedeeiserner Schiebetür. Ich öffne die Tür und wir betreten einen altertümlichen, ruckelnden Aufzug.

Im dritten Stock verlassen wir ihn und stehen in einem Gang, an dessen einer Seite Fenster zum Innenhof hinausgehen, durch den wir hereingekommen sind. Auf der anderen Seite des Ganges reihen sich nummerierte Türen aneinander. Wir suchen die 305 und Yong Tai betätigt die Klingel.

Es dauert eine Weile, bis eine alte Frau uns die Tür öffnet. Sie überblickt kurz die Gruppe, die im Gang vor ihr steht und wendet sich dann an Yong Tai, die sich verbeugt und die alte Frau anspricht. Sie holt ihr Handy aus der Tasche und spielt ihr eine Videobotschaft ihres Vaters vor.

Unter vielen Verbeugungen dürfen wir nun eintreten. Die alte Frau hat Tränen in den Augen und ruft nach ihrem Mann, der sich bald darauf zu uns gesellt. Wir werden an den Tisch gebeten und kurz darauf stehen Tee und je eine Schale mit Hähnchenteilen und Bambussprossen in Brühe vor uns - natürlich mit Essstäbchen.

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