Dienstag, 26. April 2022
Lama Rinpoche -31
"Wenn sich bei der Prüfung aber herausstellen sollte, dass Thaye doch nicht die Seele Noahs beherbergt... Würde das etwas an deinen Gefühlen zu dem Jungen ändern? Noah könnte doch auch hier in der Nähe des Klosters wiedergeboren sein..." rede ich weiter.

"Nein!" antwortet sie, vielleicht eine Spur zu heftig. "Thaye wird immer meine Liebe als Tante behalten, egal ob Daddy in ihm weiterlebt oder nicht!"

"Okay," entscheide ich nun. "Dann reise mit gutem Gewissen nach Hawaii zurück. Thaye ist in Weiterswiller in guten Händen! In den großen Ferien im nächsten Jahr kommst du ihn wieder besuchen und machst mit ihm eine 'Reise in das Land seines Großvaters, des großen Lamas Kyobpa'. Komm hierher, zeige ihm das Kloster. Bei dieser Gelegenheit werden wir ihn prüfen. Dazu musst du aber ein paar Gegenstände aus dem Besitz deines ehrenwerten Daddys mitbringen, von denen Thaye nichts wissen darf!"

Sie lächelt mich dankbar an und erhebt sich. Ich stehe ebenfalls auf. Nun nimmt sie meine Hand und haucht einen Kuss darauf, bevor sie die Wohnung rückwärtsgehend verlässt. Die Zwillinge dürften jetzt ungefähr schon 45 Jahre alt sein. In den darauffolgenden Sommerferien besucht mich Anne mit dem kleinen Thaye. Sie bringt Lama Kyobpas Mönchshut und seine Reisschale mit.

Bevor Anne zu mir kommt, öffnet sich die Tür meiner Wohnung. Ich bin gerade aus dem Thronsaal gekommen, wo ich mit den anderen Lamas gegessen habe. Mein Sekretär sieht den Eintretenden auch und will ihn hinausschicken. Ich trete hinzu und gehe in die Hocke. Dann lege ich ihm meinen Arm über die Schultern und frage ihn:

"Na, wer bist du denn?"

Der Junge schaut mich fasziniert an und antwortet:
"Ich heiße Khön Thaye."

"Oh," mache ich. "Dann bist du sicher nicht alleine gekommen! Magst du dich zu mir setzen?"

Ich führe ihn in meinen privaten Bereich und lasse mich im Schneidersitz nieder. Der Junge orientiert sich kurz und setzt sich dann zu mir übereck an den Tisch.

"Du bist 'Seine Heiligkeit'?" fragt er mich.

"Das stimmt zwar," meine ich lachend, "aber mich interessiert nicht, wie mich die Leute nennen. Lama Rinpoche kannst du mich auch nennen. Oder vielleicht sogar 'Dennis'! So bin ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr genannt worden."

Schmerzlich fällt mir beim nennen meines Vornamens der Weggang meiner ehrwürdigen Mutter ein. Die Gefühle der Einsamkeit wollen mich übermannen.

"Lama Rinpoche," spricht mich der Kleine an. "Dürfen Mönche heiraten?"

'Oh,' denke ich, und versuche mir eine kindgerechte Antwort zu basteln. Da geht die Tür meiner Wohnung wieder auf. Gelongma Anne tritt ein und verbeugt sich tief, bevor sie nähertritt. Nun wendet sie sich an Thaye:

"Hier bist du! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, Thaye! Du warst plötzlich verschwunden. Was hätte ich deinen Eltern sagen sollen, wenn dir ein Unglück geschehen wäre?"

Thaye erhebt sich, geht um den Tisch herum und umarmt seine Tante. Er antwortet ihr:

"Aber Tante Anne, hier bin ich im Haus meines Großvaters. Was soll mir hier schon passieren?"

Anne schüttele gequält lächelnd den Kopf, ob solcher Einfalt, die sicher seinem kindlichen Alter geschuldet ist. Ich frage sie:

"Sei gegrüßt, meine Tochter. Hast du die Gegenstände in deiner Tasche, von denen wir beim letzten Besuch gesprochen haben?"

Sie nickt und bestätigt es mir. Über den Tisch hinweg reicht sie mir eine Tasche. Neugierig öffne ich den Reisverschluss und schaue hinein. Danach erhebe ich mich und übergebe die Tasche meinem Sekretär. Ich erkläre ihm flüsternd den Versuchsaufbau. Danach nimmt er die Tasche und verlässt den Raum.

Ich nicke Anne lächelnd zu und sage, zu Thaye gewandt:

"Wir wollen warten, bis Gelong Manfred zurückkommt. Er wird uns dann in einen Raum führen, wo etwas Interessantes für dich zu sehen ist, Thaye!"

Als mein Sekretär zurückkommt und Anne lächelnd ihre Tasche zurückgibt, lassen wir uns von dem Gelong in einen Nebenraum führen. Ich lege Thaye meine Hand auf die Schulter und weise auf ein seitliches Regal, auf dem vier Mönchshüte nebeneinander aufgereiht sind. Dabei sage ich zu Thaye:

"Ich habe eine Aufgabe für dich, mein Junge. Siehst du dort die roten Hüte? Sage mir, welcher dir am besten gefällt."

Thaye runzelt die Stirn und geht näher heran. Er dreht sich alsbald zu uns um und meint:

"Aber sie sind doch alle gleich!"

Ich erkläre ihm nun lächelnd:
"Das stimmt, sie sehen alle gleich aus. Aber sie sind es nicht, mein Junge. Horche in dich hinein! Was sagt dir dein Gefühl?"

Thaye schaut noch einmal hin und wählt gefühlsmäßig den zweiten Hut von rechts. Er nimmt ihn vom Regal und übergibt ihn mir. Ich gebe ihn an Anne weiter und sie schaut hinein. Dann nickt sie mir zu. Nun führe ich Thaye zu einem anderen Regal.

"Schau, Thaye. Dort stehen vier alte Reisschalen. Sie gehörten einmal verdienten Chöje -Ehrentitel für hohe Lamas- dieses Klosters. Welcher davon sagt dir gefühlsmäßig am ehesten zu?"

Der Junge wählt ohne viel zu überlegen die Zweite von links und bringt sie mir. Auch diesmal gebe ich die Schale unbesehen an Anne weiter. Sie schaut auch die Schale genauer an und bestätigt mir:

"Sie ist es, Eure Heiligkeit!"

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