Freitag, 13. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 08
Ich selbst wandere mit dem Jungen am Flussufer entlang. In einigen Stunden werden wir so das nächste Dorf erreichen. Die Ansiedlungen der Menschen sind fast immer in der Nähe von Wasserläufen errichtet. So erhalten sie frisches Trinkwasser und bei größeren Wasserläufen auch Fische.

Es dauert nicht lange, da beginnt Amal zu sprechen:
"Du hast mir von Siddhartas Lebenslauf erzählt, Paramapaavan -deine Heiligkeit-, aber was ist denn nun Buddhas Lehre?"

Er schaut dabei zu mir auf. Ich nicke ihm freundlich lächelnd zu und beginne die heutige Unterweisung:

"Wir Anhänger Buddhas glauben an 'Die vier edlen Wahrheiten'. Sie heißen Dukkha, Samudaja, Nirodha und der Achtfache Pfad. Der erste Merksatz 'Dukkha' bedeutet, das Leben ist voller Leid."

"Das kenne ich," gibt er mir zurück. "Aber woher kommt das Leid?"

"In den meisten Fällen fügen Menschen ihren Mitmenschen wissentlich oder unwissentlich Leid zu," antworte ich ihm. "Dann gibt es da noch die Schicksalsschläge, für die niemand verantwortlich ist."

"Warum fügen Menschen eigentlich ihren Mitmenschen Leid zu?" nutzt er ein in seiner Altersgruppe oft gebrauchtes Fragewort.

Innerlich freue ich mich darüber und antworte ihm lächelnd:

"Unwissentlich geschieht das meist aus Gedankenlosigkeit, Amal. Die Leute denken nicht nach über die Folgen ihres Tuns.
Das wissentlich oder absichtlich herbeigeführte Leid wird im zweiten Merksatz Samudaja beschrieben. Er bedeutet, die Ursache für das Leid ist Habgier."

"Um meinen Mitmenschen kein Leid anzutun, muss ich also auf mich und mein Tun achten," resümiert er.

"Ja, genau!" rufe ich freudig aus. "Achte stets auf das, was du sagst oder tust. Der dritte Merksatz Nirodha besagt, dass ein Anhänger Buddhas die Habgier überwinden muss."

"Wie ist das aber dann, wenn mich jemand in böser Absicht überfällt und mir Leid zufügen will?" bohrt Amal weiter.

Ich bleibe gelassen und antworte geduldig:
"Niemals darfst du angreifen, Amal! Damit ginge ja das erste Leid von dir aus. Du darfst dich aber verteidigen. Wenn der Gegner sich als übermächtig erweist, und du sterben solltest... Habe keine Angst! Der Tod ist nicht das Ende. Du wirst wiedergeboren und der Kreislauf des Lebens beginnt wieder von vorne. Das geschieht so oft, bis du ein Leben wie Buddha zu führen verstehst. Dann erreichst du auch das Nirwana."

"Kuna -Gut-, und was bedeutet der 'Achtfache Pfad', Paramapaavan -deine Heiligkeit-?"

"Dazu möchte ich dir erklären, Amal, wenn die Menschen die Lebensregeln des 'Achtfachen Pfades' genau befolgen, überwinden sie die Habgier und können zur wahren Erkenntnis aller Dinge gelangen. Sie führen den Menschen auf einen Mittelweg zwischen einem Leben in Luxus und einem Leben des Verzichts. Willst du später ein Guru werden wie ich, dann sollte dir der Verzicht zur Lebensaufgabe werden."

Ich füge eine kleine Gedankenpause ein, um dem Jungen Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, dann fahre ich fort:

"Erstens, heißt es da, bemühe dich um Weisheit und verhalte dich immer richtig. Zweitens, sei gütig und friedfertig. Drittens, lüge niemals. Viertens, tue keinem Lebewesen Böses an und stehle nicht. Fünftens, schade niemandem und zerstöre die Natur nicht. Sechstens, gib dir Mühe und erfülle deine Pflichten. Siebtens, sei achtsam, denke und handele stets besonnen. Und schließlich achtens, konzentriere dich, denke nach und meditiere."

Amal geht nun eine ganze Weile stumm neben mir her. In seinem Kopf arbeitet es. Irgendwann antwortet er resigniert:

"Das sind keine leichten Regeln!"

Ich schaue ihn an und ermutige ihn:
"Sei nicht so schnell entmutigt, Amal! Alles braucht seine Zeit. Du bist ja auch erst seit gestern mein Shishy -Schüler-. Noch ist kein Meister aus den Wolken gefallen! Geduld und Gelassenheit sind wichtige Eigenschaften im Leben. Ein Guru muss den Leuten Gutes tun, ihnen Freude bereiten, bescheiden leben und seine Mitmenschen immer wieder seelisch aufrichten.
Siddharta Buddha ist 80 Jahre alt geworden, bis er starb und ins Nirwana einging."

"So lange?" macht er nun und schaut mich mit großen Augen an.

Ich lache fröhlich auf und antworte ihm:
"Nein, so lange musst du nicht warten! Wenn du konsequent an dir arbeitest, hast du die Regeln in fünf oder zehn Jahren verinnerlicht und lebst sie. Ich wollte damit nur sagen, dass Menschen nun einmal nicht perfekt sind! Aber sie müssen perfekt werden wollen, dann schaffen sie vieles."

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