... newer stories
Donnerstag, 7. April 2022
Lama Rinpoche -12
mariant, 13:48h
Nach vier Stunden Zugfahrt und einer halben Stunde mit dem Bus erreichen wir das heimatliche Kloster am frühen Morgen. Peter führt uns zu einem Gästezimmer und besorgt uns ein Frühstück. Danach darf Mama sich dort schlafen legen und ich folge Peter zu einem Zimmer in der Etage darüber.
"Dies ist ab heute dein Schlaf- und Arbeitsraum!" erklärt er. "Hierhin kannst du dich zum Meditieren zurückziehen und bist weitgehend ungestört, Lama Rinpoche!"
"Ah, du weißt...?" frage ich.
"Die beiden Äbte haben einige Zeit miteinander in Verbindung gestanden. Im Vorfeld musste etwas organisiert werden. Dabei erfährt man so etwas schon einmal," antwortet Peter lächelnd. "Jetzt schlaf' dich erst einmal aus. Dann zieh' dich um und besuche deinen neuen Abt!"
Damit zieht er sich zurück. Ich nicke ihm zu und schließe hinter ihm die Tür. Nun wende ich mich der Liege im hinteren Bereich zu und bin kurz danach eingeschlafen. Am Nachmittag wache ich wieder auf, mache mich frisch und ziehe mir meine Mönchskleidung an.
Die nun folgende Wartezeit verkürze ich mir, indem ich mich im Schneidersitz auf den Boden vor meine Liege setze und mich entspanne. Irgendwann kommt Peter zu mir. Der Gelong sieht mich meditieren, tritt leise an mich heran und legt sachte seine Hand auf meine Schulter. Ich öffne die Augen. Peter lächelt mich an und hebt die gefalteten Hände an sein Kinn.
"Seine Heiligkeit möchte mit dir speisen," sagt er leise.
Ich erhebe mich und hebe ebenfalls die gefalteten Hände.
"Dann führe mich!" fordere ich ihn freundlich auf.
Die Lage des Thronsaales kenne ich in diesem Gebäude noch nicht.
Es geht durch zwei Gänge und eine schmale Treppe unter das Walmdach. Dort öffnet Peter eine Tür. Er lässt mich vorgehen und betritt hinter mir den Raum. Etwa 16 Mönche, ehrwürdige Lamas und Gelong, sitzen mit untergeschlagenen Beinen an niedrigen Tischen, während Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, auch hier im Schneidersitz auf einem breiten, reich verzierten Stuhl Platz genommen hat.
Ich erkenne, dass bis auf zwei alte Männer an den niedrigen Tischen, die wie ich safrangelbe Longshirts unter ihrer roten Kesa -Robe- tragen, alle anderen rote Longshirts tragen. Es ist halt ein kleines Kloster in der 'Diaspora'. Buddhisten leben in Deutschland weit verstreut.
Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, schaut bei unserem Eintreten auf. Er winkt mich an einen freien Platz neben sich. Mich leicht verbeugend hebe ich die gefalteten Hände und komme der Aufforderung Seiner Heiligkeit nach. Peter trennt sich nun von mir und lässt sich zwischen zwei Gelong nieder.
Der Khenchen Lama klatscht in die Hände und kurz darauf tragen zwei junge Männer, Klosterschüler, einen großen Reistopf herein. Jeder Mönch erhält eine Kelle voll in seine Reisschale. Anschließend lassen sie sich an einer Seitenwand nieder und beginnen ein Trommel- und Flötenspiel.
Nach dem der letzte Mönch satt ist und einer nach dem anderen unter Ehrerbietungsbezeugung gegenüber Seiner Heiligkeit den Raum verlassen hat, nehmen die Klosterschüler den Reistopf auf und bringt ihn in die Küche zurück. Nun bin ich mit Seiner Heiligkeit allein im Thronsaal. Respektvoll warte ich, bis er mich anspricht.
"Lama Rinpoche," beginnt der Khenchen Lama nach einiger Zeit. "Wir sind ein kleines Kloster in einem fremden Land. Die Zahl der Gläubigen ist klein und sie leben weit verstreut. Unsere Klosterschule besuchen nur wenige Schüler, die alle schon das staatliche Schulsystem absolviert haben und bevor sie sich für eine Berufsausbildung entscheiden. Gelong Peter hat die Schule mithilfe ehemaliger Schüler, die sich für das Kloster entschieden haben, wunderbar im Griff. Dennoch sehe ich Entwicklungspotential für die Schule, das Kloster und für dich, Bruder!"
Seine Heiligkeit macht eine Gedankenpause. Ich warte geduldig, was er mir sagen will.
"Was hältst du von Kungfu-Kursen für die Schüler?" fragt er mich unvermittelt.
Ich neige den Kopf. Dann schaue ich zu ihm auf.
"Peter war mir anfangs ein guter Lehrer, bevor Lama Chodrag meinen Unterricht vervollkommnet hat. Auch der Weggang von Lama Dorje riss eine große Lücke. Nun habe ich meine Ausbildung abgeschlossen und bin nach Europa zurückgesandt worden. Ich kann Gelong Peter gerne entlasten!"
Seine Heiligkeit nickt. Er ergänzt:
"Deine ehrenwerte Mutter hat sich in der Schneiderei hervorgetan. Wir haben in den letzten Wochen einen Raum im Keller als Schneiderei eingerichtet und um Klosterschülerinnen geworben, die sich speziell dafür interessieren. Sie ist also ebenso in die Bildung junger Menschen integriert, wenn sie das möchte."
Ich lächele den Khenchen Lama an und bestätige:
"Das ist ein großes Anliegen meiner ehrenwerten Mutter!"
Seine Heiligkeit nickt wieder und äußert sich dann mit fester Stimme:
"Du wirst als Leiter der Schule eingesetzt und Peter wird deine rechte Hand! Außerdem wirst du deiner ehrenwerten Mutter ihren neuen Wirkungskreis zeigen und sie ihren Schülerinnen vorstellen. Aber da wäre noch etwas, um das ich dich bitte."
Aufhorchend neige ich den Kopf. Ein Khenchen Lama bittet gewöhnlich nicht. Er entscheidet, denn alle Verantwortung liegt bei ihm. Seine Heiligkeit redet weiter:
"Wenn Mann und Frau heiraten, müssen sie hierzulande vor dem Staat ein Gelübde ablegen. Es folgt eine private Feier, wie es im Buddhismus üblich ist. Wir Mönche sind oft gefragt worden, ob nicht ein Lama bei einer Hochzeit zugegen sein könnte. Mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft das Kloster besuchen, ist aber vielen zu teuer. Wir haben Lama Tobgyel ein paar Male zu den Leuten gesandt. Aber das sind immer nur finanzstarke Gläubige gewesen, die sich das Bahnticket und die Übernachtung für den Lama leisten konnten. Das müssen wir noch einmal überdenken."
Ich hebe die gefalteten Hände an mein Kinn und antworte bestätigend:
"Allen Gläubigen sollte ein Lama für den schönsten Tag ihres Lebens zur Verfügung stehen! Da wird sich ein Weg finden! Ich kümmere mich darum."
Der Abt nickt lächelnd. Dann bin ich entlassen.
Zuerst setze ich mich mit Peter zusammen. Wir beraten, wie wir der Schule neuen Schwung geben können und kommen zu dem Ergebnis, dass er seine Hausaufgabenbetreuung und Prüfungsvorbereitung behält. Daneben soll er den Schülern, ob männlich oder weiblich, einen Kungfu-Kurs anbieten. Mama wird interessierte Schüler und Schülerinnen an der Nähmaschine und dem Zuschneidetisch ausbilden. Ich selbst will die buddhistische Philosophie lehren, und den interessierten jungen Menschen das Meditieren beibringen. Daneben will ich den Führerschein machen, um irgendwann einmal in einem Kleinlieferwagen durch Deutschland zu fahren und buddhistische Feiern zu leiten, wenn das Kloster eine Anfrage erhält. In diesem kleinen fensterlosen Fahrzeug kann ich dann auch übernachten.
*
"Dies ist ab heute dein Schlaf- und Arbeitsraum!" erklärt er. "Hierhin kannst du dich zum Meditieren zurückziehen und bist weitgehend ungestört, Lama Rinpoche!"
"Ah, du weißt...?" frage ich.
"Die beiden Äbte haben einige Zeit miteinander in Verbindung gestanden. Im Vorfeld musste etwas organisiert werden. Dabei erfährt man so etwas schon einmal," antwortet Peter lächelnd. "Jetzt schlaf' dich erst einmal aus. Dann zieh' dich um und besuche deinen neuen Abt!"
Damit zieht er sich zurück. Ich nicke ihm zu und schließe hinter ihm die Tür. Nun wende ich mich der Liege im hinteren Bereich zu und bin kurz danach eingeschlafen. Am Nachmittag wache ich wieder auf, mache mich frisch und ziehe mir meine Mönchskleidung an.
Die nun folgende Wartezeit verkürze ich mir, indem ich mich im Schneidersitz auf den Boden vor meine Liege setze und mich entspanne. Irgendwann kommt Peter zu mir. Der Gelong sieht mich meditieren, tritt leise an mich heran und legt sachte seine Hand auf meine Schulter. Ich öffne die Augen. Peter lächelt mich an und hebt die gefalteten Hände an sein Kinn.
"Seine Heiligkeit möchte mit dir speisen," sagt er leise.
Ich erhebe mich und hebe ebenfalls die gefalteten Hände.
"Dann führe mich!" fordere ich ihn freundlich auf.
Die Lage des Thronsaales kenne ich in diesem Gebäude noch nicht.
Es geht durch zwei Gänge und eine schmale Treppe unter das Walmdach. Dort öffnet Peter eine Tür. Er lässt mich vorgehen und betritt hinter mir den Raum. Etwa 16 Mönche, ehrwürdige Lamas und Gelong, sitzen mit untergeschlagenen Beinen an niedrigen Tischen, während Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, auch hier im Schneidersitz auf einem breiten, reich verzierten Stuhl Platz genommen hat.
Ich erkenne, dass bis auf zwei alte Männer an den niedrigen Tischen, die wie ich safrangelbe Longshirts unter ihrer roten Kesa -Robe- tragen, alle anderen rote Longshirts tragen. Es ist halt ein kleines Kloster in der 'Diaspora'. Buddhisten leben in Deutschland weit verstreut.
Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, schaut bei unserem Eintreten auf. Er winkt mich an einen freien Platz neben sich. Mich leicht verbeugend hebe ich die gefalteten Hände und komme der Aufforderung Seiner Heiligkeit nach. Peter trennt sich nun von mir und lässt sich zwischen zwei Gelong nieder.
Der Khenchen Lama klatscht in die Hände und kurz darauf tragen zwei junge Männer, Klosterschüler, einen großen Reistopf herein. Jeder Mönch erhält eine Kelle voll in seine Reisschale. Anschließend lassen sie sich an einer Seitenwand nieder und beginnen ein Trommel- und Flötenspiel.
Nach dem der letzte Mönch satt ist und einer nach dem anderen unter Ehrerbietungsbezeugung gegenüber Seiner Heiligkeit den Raum verlassen hat, nehmen die Klosterschüler den Reistopf auf und bringt ihn in die Küche zurück. Nun bin ich mit Seiner Heiligkeit allein im Thronsaal. Respektvoll warte ich, bis er mich anspricht.
"Lama Rinpoche," beginnt der Khenchen Lama nach einiger Zeit. "Wir sind ein kleines Kloster in einem fremden Land. Die Zahl der Gläubigen ist klein und sie leben weit verstreut. Unsere Klosterschule besuchen nur wenige Schüler, die alle schon das staatliche Schulsystem absolviert haben und bevor sie sich für eine Berufsausbildung entscheiden. Gelong Peter hat die Schule mithilfe ehemaliger Schüler, die sich für das Kloster entschieden haben, wunderbar im Griff. Dennoch sehe ich Entwicklungspotential für die Schule, das Kloster und für dich, Bruder!"
Seine Heiligkeit macht eine Gedankenpause. Ich warte geduldig, was er mir sagen will.
"Was hältst du von Kungfu-Kursen für die Schüler?" fragt er mich unvermittelt.
Ich neige den Kopf. Dann schaue ich zu ihm auf.
"Peter war mir anfangs ein guter Lehrer, bevor Lama Chodrag meinen Unterricht vervollkommnet hat. Auch der Weggang von Lama Dorje riss eine große Lücke. Nun habe ich meine Ausbildung abgeschlossen und bin nach Europa zurückgesandt worden. Ich kann Gelong Peter gerne entlasten!"
Seine Heiligkeit nickt. Er ergänzt:
"Deine ehrenwerte Mutter hat sich in der Schneiderei hervorgetan. Wir haben in den letzten Wochen einen Raum im Keller als Schneiderei eingerichtet und um Klosterschülerinnen geworben, die sich speziell dafür interessieren. Sie ist also ebenso in die Bildung junger Menschen integriert, wenn sie das möchte."
Ich lächele den Khenchen Lama an und bestätige:
"Das ist ein großes Anliegen meiner ehrenwerten Mutter!"
Seine Heiligkeit nickt wieder und äußert sich dann mit fester Stimme:
"Du wirst als Leiter der Schule eingesetzt und Peter wird deine rechte Hand! Außerdem wirst du deiner ehrenwerten Mutter ihren neuen Wirkungskreis zeigen und sie ihren Schülerinnen vorstellen. Aber da wäre noch etwas, um das ich dich bitte."
Aufhorchend neige ich den Kopf. Ein Khenchen Lama bittet gewöhnlich nicht. Er entscheidet, denn alle Verantwortung liegt bei ihm. Seine Heiligkeit redet weiter:
"Wenn Mann und Frau heiraten, müssen sie hierzulande vor dem Staat ein Gelübde ablegen. Es folgt eine private Feier, wie es im Buddhismus üblich ist. Wir Mönche sind oft gefragt worden, ob nicht ein Lama bei einer Hochzeit zugegen sein könnte. Mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft das Kloster besuchen, ist aber vielen zu teuer. Wir haben Lama Tobgyel ein paar Male zu den Leuten gesandt. Aber das sind immer nur finanzstarke Gläubige gewesen, die sich das Bahnticket und die Übernachtung für den Lama leisten konnten. Das müssen wir noch einmal überdenken."
Ich hebe die gefalteten Hände an mein Kinn und antworte bestätigend:
"Allen Gläubigen sollte ein Lama für den schönsten Tag ihres Lebens zur Verfügung stehen! Da wird sich ein Weg finden! Ich kümmere mich darum."
Der Abt nickt lächelnd. Dann bin ich entlassen.
Zuerst setze ich mich mit Peter zusammen. Wir beraten, wie wir der Schule neuen Schwung geben können und kommen zu dem Ergebnis, dass er seine Hausaufgabenbetreuung und Prüfungsvorbereitung behält. Daneben soll er den Schülern, ob männlich oder weiblich, einen Kungfu-Kurs anbieten. Mama wird interessierte Schüler und Schülerinnen an der Nähmaschine und dem Zuschneidetisch ausbilden. Ich selbst will die buddhistische Philosophie lehren, und den interessierten jungen Menschen das Meditieren beibringen. Daneben will ich den Führerschein machen, um irgendwann einmal in einem Kleinlieferwagen durch Deutschland zu fahren und buddhistische Feiern zu leiten, wenn das Kloster eine Anfrage erhält. In diesem kleinen fensterlosen Fahrzeug kann ich dann auch übernachten.
*
... link (0 Kommentare) ... comment
Mittwoch, 6. April 2022
Lama Rinpoche -11
mariant, 11:13h
In Dennis zehntem Jahr im Kloster darf ich an der Zeremonie der Schulentlassung seines Jahrganges teilnehmen. Menschen aus ganz Nepal lassen ihre Kinder in der Klosterschule unterrichten. Zur Schulentlassung ist daher ein buntes Treiben rund um das Kloster. Eltern und Verwandte sind gekommen, um die Schüler zum Ende dieses Lebensabschnitts zu beglückwünschen.
Die meisten Schüler gehen mit ihren Familien in ihre Heimat zurück und lernen das Handwerk ihres Vaters, um irgendwann sein Geschäft zu übernehmen. Nur wenige Mitschüler von Dennis haben sich für das Klosterleben entschieden, viele davon aus ganz profanen Gründen: Hier im Kloster werden ihre Grundbedürfnisse Kleidung, Nahrung und Wohnung befriedigt. Ihre Familien sind oft zu arm. Dennis wird eine besondere Zeremonie zuteil.
Ein Tag nachdem die Klosterschüler von ihren Familien abgeholt wurden und in ihre Heimat abgereist sind, werden die verbleibenden achtzehn Schüler in den Stand eines Gelong -Mönchs- erhoben. Dies geschieht, indem sie in den Thronsaal des Khenchen Lama -Abt- geführt werden.
Die jungen Männer von 16 bis 18 Jahren müssen vor dem Thron Seiner Heiligkeit in zwei Reihen hintereinander niederknien. Die ehrwürdigen Lamas des Klosters haben sich an den beiden Schmalseiten des Raumes auf den Boden gesetzt. Sie lassen Trommeln und lange Flöten ertönen. Die Trommler stimmen einen Kehlkopfgesang an. Der Inhalt ist ein altes buddhistisches Gebet. Die Eltern der Schüler drängen sich an der rückwärtigen Wand.
Seine Heiligkeit ruft einen Schüler nach dem anderen auf. Dieser erhebt sich und tritt nun vor, um vor Seiner Heiligkeit wieder auf die Knie zu gehen. Nun treten zwei Gelong hinzu. Einer benetzt die Stirn des ehemaligen Klosterschülers mit heiligem Wasser aus einer goldenen Kanne, der andere fängt das Wasser unter dessen Kinn in einer Schale wieder auf.
Seine Heiligkeit beugt sich etwas vor und legt ihm eine weiße Hada -Schärpe- über die Schultern. Auch erhält er einen roten Mönchshut. Nun setzt er sich hinter die zweite Reihe der Novizen mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und stimmt in das Gebet der Mönche ein.
Schließlich ist Dennis an der Reihe. Auch er wird mit heiligem Wasser gesegnet. Seine Heiligkeit legt ihm jedoch eine safrangelbe Hada über die Schultern. Er hat sich zu Dennis vorgebeugt und sagt laut:
"Sei für deine Brüder in Deutschland wie die Sonne am Taghimmel oder wie der Mond am Nachthimmel, Lama Rinpoche!"
Dennis lässt sich nach vorne fallen, fängt sich mit den Händen ab und beugt sich ganz zu Boden. Von meiner Position gewinnt man den Eindruck, er küsse die Erde. Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, hat eine Stufe übersprungen, Dennis in den Stand eines Lamas erhoben und ihm seinen rituellen Namen gegeben. 'Rinpoche' kommt aus der tibetischen Sprache und bedeutet 'der Wertvolle'. Außerdem hat er ihm eine Aufgabe erteilt.
Nach der Zeremonie geht Dennis in meiner Begleitung in die Näherei. Dort sucht er sich drei Longshirts in safrangelber Farbe und wechselt gleich an Ort und Stelle sein dunkelrotes Longshirt gegen eins der safrangelben aus. Seine anderen roten Longshirts wird er bald ebenfalls bei mir abgeben.
Seit der Zeremonie darf Dennis, schon als 18jähriger, im Kreis der Lamas im Thronsaal speisen und nimmt auch an deren Besprechungen und Ritualen teil. Auch hat er jetzt ein eigenes Zimmer, wie die anderen neuen Gelong ebenso. Trotzdem besucht er mich weiterhin in meinem Zimmer. Ich genieße das Zusammensein sehr.
*
Ein Jahr nachdem mich Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama -Abt- zu einem der ihren geweiht und mir den Namen Rinpoche -der Wertvolle- gegeben hat, ist die Zeit der Rückreise nach Deutschland gekommen.
Der Zeitpunkt der Reise ist mit dem Kloster in der Heimat abgestimmt worden. Dort hat man für Mama eine Schneiderwerkstatt im Keller eingerichtet. Dann hat der Khenchen Lama die Flugkarten besorgt und sie im Flughafen hinterlegen lassen.
Die Nonnen haben Mama, die ihr Haar inzwischen auch ganz kurz trägt, herzlich verabschiedet und ihr einige Stoffe als Muster mitgegeben. Ich bin zu Seiner Heiligkeit gegangen, habe mit den ehrwürdigen Lamas gefrühstückt und mich danach ehrerbietig von ihnen verabschiedet.
Mama und ich haben seit Jahren keine westliche Kleidung mehr getragen. Hier in Nepal interessiert das niemanden. In Deutschland muss man dagegen aufpassen, sich von den Gewohnheiten der Allgemeinheit nicht zu sehr abzusetzen.
Wir fahren mit mehreren Lastenrikschas, sogenannten Tuktuks, und auf der Ladefläche eines LKWs in die Hauptstadt. Unterwegs übernachten wir zweimal in Herbergen. Im Flughafen Katmandu, dem Tribhuvan International Airport, angekommen, gehen wir als Erstes in das Büro, das unsere Reiseunterlagen verwahrt. Dort informieren wir uns auch über die Abflugzeit und die zurzeit geltenden Reiseformalitäten.
Da wir noch sechs Stunden Zeit haben und die Preise in den Flughafenstores wegen der Touristen überteuert sind, geben wir zuerst einmal unser Gepäck auf. Anschließend lassen wir uns von einer Fahrradrikscha in die Stadt zurückfahren. Wir essen in einer der vielen Garküchen und kaufen uns jeder eine Jeans und eine leichte Jacke.
Danach lassen wir uns in den Flughafen zurückbringen und ziehen uns auf den Kundentoiletten um. Unsere Longshirts packen wir irgendwie in den Hosenbund und verpacken unsere restliche Klosterkleidung als Handgepäck, das wir in die Kabine mitnehmen.
Schließlich rückt der Abflugzeitpunkt näher. Zwei Stunden vorher stellen wir uns mit anderen Reisenden am Abflugschalter an. Nachdem die Reiseformalitäten erledigt sind, werden wir zum Flugzeug durchgelassen. Wir suchen unsere Sitzplätze und machen es uns dort bequem. Dann ertönt ein Gong und kurz darauf startet der Jet. Die meiste Zeit der zwölf Stunden Flugdauer verbringen wir schlafend. Wegen der Zeitverschiebung landet unser Flugzeug gegen Mitternacht Ortszeit in Frankfurt, während in Katmandu jetzt früher Vormittag ist.
Hinter den Ankunftsschaltern sehen wir einen alten Bekannten stehen. Es ist Peter, der Gelong -Mönch-, Peter aus dem Kloster in unserer Heimat! Freudig gehe ich schnellen Schrittes auf ihn zu, begrüße ihn lächelnd nach Nepali-Art, indem ich die gefalteten Hände an mein Kinn hebe und umarme ihn herzlich.
"Grüß' dich," sage ich grinsend. "Wie geht es dir? Steht das Kloster noch?"
Bei der zweiten Frage zwinkere ich ihm zu. Mama hat uns inzwischen erreicht.
"Seid gegrüßt!" antwortet Peter lächelnd. "Mir geht es ganz gut und das Kloster steht noch! Kommt! Der Zug wartet nicht!"
Ich nicke und wir folgen Peter, der die U-Bahn ansteuert. Eine halbe Stunde später sind wir im Hauptbahnhof und schon zwanzig Minuten darauf fährt unser Zug Richtung Plauen ab. Als der Zugbegleiter unsere Fahrscheine sehen will, hat Peter alles in einem Umschlag bereit.
Die meisten Schüler gehen mit ihren Familien in ihre Heimat zurück und lernen das Handwerk ihres Vaters, um irgendwann sein Geschäft zu übernehmen. Nur wenige Mitschüler von Dennis haben sich für das Klosterleben entschieden, viele davon aus ganz profanen Gründen: Hier im Kloster werden ihre Grundbedürfnisse Kleidung, Nahrung und Wohnung befriedigt. Ihre Familien sind oft zu arm. Dennis wird eine besondere Zeremonie zuteil.
Ein Tag nachdem die Klosterschüler von ihren Familien abgeholt wurden und in ihre Heimat abgereist sind, werden die verbleibenden achtzehn Schüler in den Stand eines Gelong -Mönchs- erhoben. Dies geschieht, indem sie in den Thronsaal des Khenchen Lama -Abt- geführt werden.
Die jungen Männer von 16 bis 18 Jahren müssen vor dem Thron Seiner Heiligkeit in zwei Reihen hintereinander niederknien. Die ehrwürdigen Lamas des Klosters haben sich an den beiden Schmalseiten des Raumes auf den Boden gesetzt. Sie lassen Trommeln und lange Flöten ertönen. Die Trommler stimmen einen Kehlkopfgesang an. Der Inhalt ist ein altes buddhistisches Gebet. Die Eltern der Schüler drängen sich an der rückwärtigen Wand.
Seine Heiligkeit ruft einen Schüler nach dem anderen auf. Dieser erhebt sich und tritt nun vor, um vor Seiner Heiligkeit wieder auf die Knie zu gehen. Nun treten zwei Gelong hinzu. Einer benetzt die Stirn des ehemaligen Klosterschülers mit heiligem Wasser aus einer goldenen Kanne, der andere fängt das Wasser unter dessen Kinn in einer Schale wieder auf.
Seine Heiligkeit beugt sich etwas vor und legt ihm eine weiße Hada -Schärpe- über die Schultern. Auch erhält er einen roten Mönchshut. Nun setzt er sich hinter die zweite Reihe der Novizen mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und stimmt in das Gebet der Mönche ein.
Schließlich ist Dennis an der Reihe. Auch er wird mit heiligem Wasser gesegnet. Seine Heiligkeit legt ihm jedoch eine safrangelbe Hada über die Schultern. Er hat sich zu Dennis vorgebeugt und sagt laut:
"Sei für deine Brüder in Deutschland wie die Sonne am Taghimmel oder wie der Mond am Nachthimmel, Lama Rinpoche!"
Dennis lässt sich nach vorne fallen, fängt sich mit den Händen ab und beugt sich ganz zu Boden. Von meiner Position gewinnt man den Eindruck, er küsse die Erde. Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, hat eine Stufe übersprungen, Dennis in den Stand eines Lamas erhoben und ihm seinen rituellen Namen gegeben. 'Rinpoche' kommt aus der tibetischen Sprache und bedeutet 'der Wertvolle'. Außerdem hat er ihm eine Aufgabe erteilt.
Nach der Zeremonie geht Dennis in meiner Begleitung in die Näherei. Dort sucht er sich drei Longshirts in safrangelber Farbe und wechselt gleich an Ort und Stelle sein dunkelrotes Longshirt gegen eins der safrangelben aus. Seine anderen roten Longshirts wird er bald ebenfalls bei mir abgeben.
Seit der Zeremonie darf Dennis, schon als 18jähriger, im Kreis der Lamas im Thronsaal speisen und nimmt auch an deren Besprechungen und Ritualen teil. Auch hat er jetzt ein eigenes Zimmer, wie die anderen neuen Gelong ebenso. Trotzdem besucht er mich weiterhin in meinem Zimmer. Ich genieße das Zusammensein sehr.
*
Ein Jahr nachdem mich Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama -Abt- zu einem der ihren geweiht und mir den Namen Rinpoche -der Wertvolle- gegeben hat, ist die Zeit der Rückreise nach Deutschland gekommen.
Der Zeitpunkt der Reise ist mit dem Kloster in der Heimat abgestimmt worden. Dort hat man für Mama eine Schneiderwerkstatt im Keller eingerichtet. Dann hat der Khenchen Lama die Flugkarten besorgt und sie im Flughafen hinterlegen lassen.
Die Nonnen haben Mama, die ihr Haar inzwischen auch ganz kurz trägt, herzlich verabschiedet und ihr einige Stoffe als Muster mitgegeben. Ich bin zu Seiner Heiligkeit gegangen, habe mit den ehrwürdigen Lamas gefrühstückt und mich danach ehrerbietig von ihnen verabschiedet.
Mama und ich haben seit Jahren keine westliche Kleidung mehr getragen. Hier in Nepal interessiert das niemanden. In Deutschland muss man dagegen aufpassen, sich von den Gewohnheiten der Allgemeinheit nicht zu sehr abzusetzen.
Wir fahren mit mehreren Lastenrikschas, sogenannten Tuktuks, und auf der Ladefläche eines LKWs in die Hauptstadt. Unterwegs übernachten wir zweimal in Herbergen. Im Flughafen Katmandu, dem Tribhuvan International Airport, angekommen, gehen wir als Erstes in das Büro, das unsere Reiseunterlagen verwahrt. Dort informieren wir uns auch über die Abflugzeit und die zurzeit geltenden Reiseformalitäten.
Da wir noch sechs Stunden Zeit haben und die Preise in den Flughafenstores wegen der Touristen überteuert sind, geben wir zuerst einmal unser Gepäck auf. Anschließend lassen wir uns von einer Fahrradrikscha in die Stadt zurückfahren. Wir essen in einer der vielen Garküchen und kaufen uns jeder eine Jeans und eine leichte Jacke.
Danach lassen wir uns in den Flughafen zurückbringen und ziehen uns auf den Kundentoiletten um. Unsere Longshirts packen wir irgendwie in den Hosenbund und verpacken unsere restliche Klosterkleidung als Handgepäck, das wir in die Kabine mitnehmen.
Schließlich rückt der Abflugzeitpunkt näher. Zwei Stunden vorher stellen wir uns mit anderen Reisenden am Abflugschalter an. Nachdem die Reiseformalitäten erledigt sind, werden wir zum Flugzeug durchgelassen. Wir suchen unsere Sitzplätze und machen es uns dort bequem. Dann ertönt ein Gong und kurz darauf startet der Jet. Die meiste Zeit der zwölf Stunden Flugdauer verbringen wir schlafend. Wegen der Zeitverschiebung landet unser Flugzeug gegen Mitternacht Ortszeit in Frankfurt, während in Katmandu jetzt früher Vormittag ist.
Hinter den Ankunftsschaltern sehen wir einen alten Bekannten stehen. Es ist Peter, der Gelong -Mönch-, Peter aus dem Kloster in unserer Heimat! Freudig gehe ich schnellen Schrittes auf ihn zu, begrüße ihn lächelnd nach Nepali-Art, indem ich die gefalteten Hände an mein Kinn hebe und umarme ihn herzlich.
"Grüß' dich," sage ich grinsend. "Wie geht es dir? Steht das Kloster noch?"
Bei der zweiten Frage zwinkere ich ihm zu. Mama hat uns inzwischen erreicht.
"Seid gegrüßt!" antwortet Peter lächelnd. "Mir geht es ganz gut und das Kloster steht noch! Kommt! Der Zug wartet nicht!"
Ich nicke und wir folgen Peter, der die U-Bahn ansteuert. Eine halbe Stunde später sind wir im Hauptbahnhof und schon zwanzig Minuten darauf fährt unser Zug Richtung Plauen ab. Als der Zugbegleiter unsere Fahrscheine sehen will, hat Peter alles in einem Umschlag bereit.
... link (0 Kommentare) ... comment
Dienstag, 5. April 2022
Lama Rinpoche -10
mariant, 11:44h
"Und du hast vom Wasser des Lebens getrunken!" ergänzt er Dennis Erzählung.
Wir gehen die Treppe wieder hinunter und betreten den Teepavillon an ihrem Fuß. Dort lassen wir uns an einem der niedrigen Tische nieder. Peter zeigt uns eine Teezeremonie, während wir von der Klettertour ausruhen.
"Das mit der Wiedergeburt ist für mich immer noch schwer zu begreifen..." meine ich unvermittelt.
Peter nickt lächelnd.
"Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, für die ist der menschliche Verstand zu klein," meint er. "Dann müssen wir lernen, es zu akzeptieren... Ein Bild!"
Peter greift in seinen roten Mantel. Ich schaue interessiert. Er holt eine Tasse hervor, füllt den Tee um und erklärt:
"Geist und Körper verhalten sich wie Inhalt und Gefäß. Würde meine Tasse kaputtgehen, fließt der Tee auf den Tisch oder Boden. Die Tasse ist 'tot', der Tee lebt weiter. Wische ich ihn auf, befindet er sich im Tuch. Aber er ist immer noch derselbe Tee. Ich kann ihn in eine andere Tasse gießen."
Mit diesen Worten gießt er den Tee wieder zurück in die Tasse des Teehauses und wischt seine Tasse trocken, bevor er sie wieder einsteckt.
Ich nicke. Das Beispiel ist sehr eindrucksvoll gewesen. Bald verlassen wir den Teepavillon. Draußen hält Peter einen anderen Lastenrikschafahrer an und fragt ihn, ob er uns zurückbringt. Der Mann willigt schnell ein und wir sind am Abend wieder im Kloster zurück. Dennis ist unterwegs schon eingenickt.
*
Fünf Jahre sind vergangen. Peter ist wieder nach Deutschland abberufen worden. Ich kann mich mit den Leuten hier inzwischen sehr gut verständigen. In der Näherei des Klosters habe ich eine Beschäftigung gefunden, die mich ausfüllt.
Dennis, jetzt 13 Jahre alt, besucht mich regelmäßig in meinem Zimmer und hat dabei immer viel zu erzählen. Peter hat ja damals den Unterricht in Nepali übernommen. Nach ein paar Monaten ist das kein Vollzeitunterricht mehr gewesen. Andere Schulfächer haben mehr und mehr vom Tag eingenommen. Auch ich bin nebenbei von einer Abteilung zur anderen gewechselt. In der Näherei bin ich schließlich 'hängengeblieben'.
In der Schule erhält Dennis Unterricht in buddhistischer Philosophie. Er lernt die 'Vier Wahrheiten' und den 'achtfachen Pfad' kennen, nach denen Buddhisten ihr Leben ausrichten sollen. Da Dennis als Wiedergeburt eines bedeutenden buddhistischen Lehrers gilt, scheint für ihn die Klosterlaufbahn vorgezeichnet. Daher lernt er noch weitere Lehrsätze kennen, 227 an der Zahl, nach denen Mönche ihr Leben ausrichten, während andere Schüler nur die Grundsätze kennenlernen, eben die 'Vier Wahrheiten' und der 'achtfache Pfad'.
Dann beginnt der Unterricht in Schreiben, Lesen und Rechnen. Er lernt sich ausschließlich verbal und respektvoll mit seinesgleichen über unterschiedliche Standpunkte zu streiten. Statt des Schulsports erhält er Unterricht in Kungfu, der mönchischen Verteidigungstechnik ohne Waffen. In den Unterrichtspausen machen die Jungs gerne Ballspiele, um sich auszupowern.
Seit kurzem lernt er auch das Meditieren, mit dem er zur Ruhe kommen kann, entspannt und seine Gefühle kontrollieren kann. Er hat mir einmal erklärt, dass man dadurch Gelassenheit und Geduld trainiert. Das sind wahrlich keine schlechten Eigenschaften!
Wenn ich Dennis zuhöre, vergeht die Zeit wie im Flug. Beim letzten Besuch berichtet er, dass Lama Dorje, der in der Schule Buddhistische Philosophie lehrt, immer öfter von Tibet erzählt. Der ehrenwerte Lama hat als Junge, ungefähr im Alter von 6 bis 8 Jahren das Land verlassen müssen. Keiner weiß das so genau, da er selbst sein richtiges Alter nicht kennt. Die Chinesen haben damals Tibet besetzt. Der ehrenwerte Lama berichtet in plastischen Worten von seiner alten Heimat und flechtet in die Erzählungen oft ein, dass er eines Tages nach Tibet zurückkehren wird.
Eines Tages berichtet Dennis, dass Lama Dorje nicht mehr zum Unterricht gekommen ist. Ein anderer Lama hat den Unterricht übernommen und erzählt Dennis und seinen Mitschülern, dass Lama Dorjes Geist fliegt. Er ist in tiefer Meditation versunken. Der Lama hat den Schülern erklärt, dass eine solch tiefe Meditation Stunden, Tage oder manchmal auch Wochen dauern kann. In einigen Fällen gleitet der Meditierende dabei willentlich in den Tod hinüber.
So ist es dann auch passiert. Lama Dorje ist meditierend verstorben. Dennis meint, als der andere Lama davon sprach, dass 'sein Geist fliegt', bedeutete das, dass Lama Dorjes Geist neben seinen Körper getreten ist und er Tibet, das Land seiner Sehnsucht erkundet hat. Anscheinend hat er dabei die Zeugung eines Babys miterlebt und ist in diesen Fötus 'gekrochen'. Damit hat er die Verbindung zu seinem alten Körper gelöst.
Man hat die Leiche des ehrwürdigen Lama in der Meditationsstellung verbrannt und die Asche den Elementen der Natur übergeben: Ein Teil hat man in den Bergbach gestreut, der in der Nähe des Klosters durch die Weiden fließt. Einen weiteren Teil hat man auf die Bergwiese gestreut. Schließlich hat man den letzten Teil mit bunten Ballons aufsteigen lassen und so den Winden übergeben. Feuer, Wasser, Luft und Erde sind auf diese Art genutzt worden, um Lama Dorje die letzte Ehre zu erweisen.
Dennis ist in der Folgezeit ruhiger und ernster geworden. Nur ab und zu noch kommt der Junge mit seinem Witz und den überraschenden Einfällen durch.
*
Wir gehen die Treppe wieder hinunter und betreten den Teepavillon an ihrem Fuß. Dort lassen wir uns an einem der niedrigen Tische nieder. Peter zeigt uns eine Teezeremonie, während wir von der Klettertour ausruhen.
"Das mit der Wiedergeburt ist für mich immer noch schwer zu begreifen..." meine ich unvermittelt.
Peter nickt lächelnd.
"Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, für die ist der menschliche Verstand zu klein," meint er. "Dann müssen wir lernen, es zu akzeptieren... Ein Bild!"
Peter greift in seinen roten Mantel. Ich schaue interessiert. Er holt eine Tasse hervor, füllt den Tee um und erklärt:
"Geist und Körper verhalten sich wie Inhalt und Gefäß. Würde meine Tasse kaputtgehen, fließt der Tee auf den Tisch oder Boden. Die Tasse ist 'tot', der Tee lebt weiter. Wische ich ihn auf, befindet er sich im Tuch. Aber er ist immer noch derselbe Tee. Ich kann ihn in eine andere Tasse gießen."
Mit diesen Worten gießt er den Tee wieder zurück in die Tasse des Teehauses und wischt seine Tasse trocken, bevor er sie wieder einsteckt.
Ich nicke. Das Beispiel ist sehr eindrucksvoll gewesen. Bald verlassen wir den Teepavillon. Draußen hält Peter einen anderen Lastenrikschafahrer an und fragt ihn, ob er uns zurückbringt. Der Mann willigt schnell ein und wir sind am Abend wieder im Kloster zurück. Dennis ist unterwegs schon eingenickt.
*
Fünf Jahre sind vergangen. Peter ist wieder nach Deutschland abberufen worden. Ich kann mich mit den Leuten hier inzwischen sehr gut verständigen. In der Näherei des Klosters habe ich eine Beschäftigung gefunden, die mich ausfüllt.
Dennis, jetzt 13 Jahre alt, besucht mich regelmäßig in meinem Zimmer und hat dabei immer viel zu erzählen. Peter hat ja damals den Unterricht in Nepali übernommen. Nach ein paar Monaten ist das kein Vollzeitunterricht mehr gewesen. Andere Schulfächer haben mehr und mehr vom Tag eingenommen. Auch ich bin nebenbei von einer Abteilung zur anderen gewechselt. In der Näherei bin ich schließlich 'hängengeblieben'.
In der Schule erhält Dennis Unterricht in buddhistischer Philosophie. Er lernt die 'Vier Wahrheiten' und den 'achtfachen Pfad' kennen, nach denen Buddhisten ihr Leben ausrichten sollen. Da Dennis als Wiedergeburt eines bedeutenden buddhistischen Lehrers gilt, scheint für ihn die Klosterlaufbahn vorgezeichnet. Daher lernt er noch weitere Lehrsätze kennen, 227 an der Zahl, nach denen Mönche ihr Leben ausrichten, während andere Schüler nur die Grundsätze kennenlernen, eben die 'Vier Wahrheiten' und der 'achtfache Pfad'.
Dann beginnt der Unterricht in Schreiben, Lesen und Rechnen. Er lernt sich ausschließlich verbal und respektvoll mit seinesgleichen über unterschiedliche Standpunkte zu streiten. Statt des Schulsports erhält er Unterricht in Kungfu, der mönchischen Verteidigungstechnik ohne Waffen. In den Unterrichtspausen machen die Jungs gerne Ballspiele, um sich auszupowern.
Seit kurzem lernt er auch das Meditieren, mit dem er zur Ruhe kommen kann, entspannt und seine Gefühle kontrollieren kann. Er hat mir einmal erklärt, dass man dadurch Gelassenheit und Geduld trainiert. Das sind wahrlich keine schlechten Eigenschaften!
Wenn ich Dennis zuhöre, vergeht die Zeit wie im Flug. Beim letzten Besuch berichtet er, dass Lama Dorje, der in der Schule Buddhistische Philosophie lehrt, immer öfter von Tibet erzählt. Der ehrenwerte Lama hat als Junge, ungefähr im Alter von 6 bis 8 Jahren das Land verlassen müssen. Keiner weiß das so genau, da er selbst sein richtiges Alter nicht kennt. Die Chinesen haben damals Tibet besetzt. Der ehrenwerte Lama berichtet in plastischen Worten von seiner alten Heimat und flechtet in die Erzählungen oft ein, dass er eines Tages nach Tibet zurückkehren wird.
Eines Tages berichtet Dennis, dass Lama Dorje nicht mehr zum Unterricht gekommen ist. Ein anderer Lama hat den Unterricht übernommen und erzählt Dennis und seinen Mitschülern, dass Lama Dorjes Geist fliegt. Er ist in tiefer Meditation versunken. Der Lama hat den Schülern erklärt, dass eine solch tiefe Meditation Stunden, Tage oder manchmal auch Wochen dauern kann. In einigen Fällen gleitet der Meditierende dabei willentlich in den Tod hinüber.
So ist es dann auch passiert. Lama Dorje ist meditierend verstorben. Dennis meint, als der andere Lama davon sprach, dass 'sein Geist fliegt', bedeutete das, dass Lama Dorjes Geist neben seinen Körper getreten ist und er Tibet, das Land seiner Sehnsucht erkundet hat. Anscheinend hat er dabei die Zeugung eines Babys miterlebt und ist in diesen Fötus 'gekrochen'. Damit hat er die Verbindung zu seinem alten Körper gelöst.
Man hat die Leiche des ehrwürdigen Lama in der Meditationsstellung verbrannt und die Asche den Elementen der Natur übergeben: Ein Teil hat man in den Bergbach gestreut, der in der Nähe des Klosters durch die Weiden fließt. Einen weiteren Teil hat man auf die Bergwiese gestreut. Schließlich hat man den letzten Teil mit bunten Ballons aufsteigen lassen und so den Winden übergeben. Feuer, Wasser, Luft und Erde sind auf diese Art genutzt worden, um Lama Dorje die letzte Ehre zu erweisen.
Dennis ist in der Folgezeit ruhiger und ernster geworden. Nur ab und zu noch kommt der Junge mit seinem Witz und den überraschenden Einfällen durch.
*
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories