Montag, 28. August 2023
Neue Heimat L98 59b (68)
"Was passiert jetzt?" frage ich die junge Frau.

"Dad klettert in den Wipfel des Heimatbaums und ruft dort den Luftgeist. Er steigt auf seinen Rücken und fliegt mit ihm nach Eseís," klärt sie mich auf. "Liegen Ihnen eigentlich besondere Fragen auf dem Herzen?"

"Jaaa, alsooo," dehne ich und suche nach einer Frage.

Es ist gar nicht so einfach, mich nach all den Eindrücken zu sammeln und eine Frage aus ethnologischer Sicht zu stellen. Nach kurzer Überlegung frage ich:

"Wie sind bei Ihnen eigentlich die alltäglichen Pflichten auf die Geschlechter verteilt?"

Die junge Frau lächelt und erklärt:
"Die Frauen des Volkes sind für die Hausarbeiten zuständig. Außerdem gebären sie die Kinder und säugen sie. Auch sammeln sie im Wald die pflanzlichen Bestandteile des Essens und sie verstehen sich auf die Heilwirkung von vielen Pflanzen. Außerdem kennen sie die Gifte vieler Pflanzen und Tiere des Dschungels. Für Flechtwerk aus Pflanzenfasern sind auch die Frauen zuständig.
Die Männer gehen in der Frühe für ein paar Stunden auf die Jagd und ziehen dem Wildbret nach der Heimkehr die Haut ab. Danach übernehmen die Frauen die weitere Zubereitung. Die Haut wird von den Männern weiterverarbeitet und verschiedene Gebrauchsgegenstände gefertigt.
Diese Trennung ist jedoch nicht starr. Die Kinder erlernen von ihren Müttern durch Zuschauen und Ausprobieren, was diese können. Dazu gehören auch das Sammeln von Blättern und Früchten, sowie das Fischen. Dabei erfahren sie von der Wirkung der Pflanzen auf unseren Organismus. Von ihren Vätern lernen die Kinder die Jagd und das Verarbeiten der Häute.
Da die Ausbildung der Kinder daher eher universell ist, sind sie optimal auf ein Leben im Weltenwald vorbereitet. Wenn die Kinder geschlechtsreif werden, müssen sie eine Prüfung, eine Initiation, bestehen. Mädchen können, wenn sie wollen, eine Wanderung durch den Wald machen, um einen Mann bei einem fremden Volk zu finden. Das verhindert, das kranke Kinder geboren werden. Oder sie werden Jägerin und versorgen ihre Familie mit Fleisch. Wenn sie irgendwann heiraten und schwanger werden, ziehen sie sich allerdings wieder auf die traditionelle Frauenrolle zurück."

Oh, das ist gleich zu Beginn eine Menge von Informationen. Ich habe Angst, dass ich ein Teil davon vergesse, bis heute Nacht Ruhe einkehrt. Also hole ich meinen Kommunikator hervor und spreche die Informationen in eine Sprachdatei, die ich danach in meine Cloud hochlade. Wie Mister Albright vorhergesagt hat, werde ich ständig bei der Arbeit gestört. Die Indigenen kennen keine Privaträume. Also kommt ständig irgendjemand vorbei, spricht meine Interviewpartnerin oder ihre Mutter an. Es werden irgendwelche Gedanken ausgetauscht oder Anekdoten erzählt, dann gehen sie wieder ihrer Beschäftigung nach. Aber schon ist jemand anders da und das Geschnatter geht wieder los.

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Freitag, 25. August 2023
Neue Heimat L98 59b (67)
"Oh, na, herzlichen Glückwunsch," meine ich etwas dümmlich, weil mich diese Nachricht sehr überrascht.

"Sie ist inzwischen zu einer hübschen und intelligenten jungen Dame herangewachsen, wie ihre Mutter damals!" ergänzt Mister Albright lächelnd.

"Aber ich bin hier nicht auf der Suche nach einer Partnerin!" stelle ich fest. "Ich habe eine Frau zuhause!"

"Meine Frau wurde von meinem Schwiegervater damals zu meiner Lehrerin bestimmt. Heute liegen die Dinge anders. Erstens sind Sie verheiratet und zum anderen möchte ich meine Tochter fragen. Sie darf natürlich ablehnen. Dann suchen wir jemand anderen!"

Ich nicke.

"Damit wäre ich einverstanden."

Wir haben uns während des Gesprächs auf den Boden gesetzt, wo wir gerade gestanden haben. Das ältere Ehepaar, also die Führungspersönlichkeiten dieses indigenen Volkes, sind nach der Begrüßung weggegangen. Mister Albrights indigene Frau hat uns kurz darauf verlassen und ist kurze Zeit später in Begleitung einer jungen Frau zurückgekommen. Sie haben sich einen halben Meter entfernt niedergelassen. Nun wendet sich Mister Albright ihnen zu. Er fragt:

"Ngamlorr, Liebes, möchtest du von diesem Mann etwas über die Kultur und das Selbstgefühl der Menschen erfahren? Dieser Mann möchte dies auch von uns erfahren. So kannst du von ihm lernen und er von dir! Damit du es weißt, Liebes, Luke hat zuhause eine Frau."

Ngamlorr blickt auf den Besucher und spricht ihn auf Englisch an:

"Luuck, ich bin neugierig. Aber wenn du zu flirten beginnst, fahre ich meine Krallen aus!"

Sie öffnet die Lippen, beugt sich etwas vor und zeigt fauchend ihre langen Eckzähne.

"Chhhhh!"

Ich lächele sie freundlich an und erkläre:
"Das wird, ganz sicher nicht passieren... Wie heißen Sie? Ngamloar."

"Okay, ich wollte das nur noch einmal bekräftigen," antwortet die junge Frau. "Ich heiße übrigens Ngamlorr, mit Rrrrr am Ende."

"Okay," meine ich. "Ich muss das noch üben."

Als sie mich eben angefaucht hat, habe ich das Gefühl gehabt, dass ihre grüne Haut leicht dunkler wurde.
Mister Albright erhebt sich nun und fragt mich:

"Würden Sie mir dann bitte ihren Jetpack geben? Wenn Sie ihr Tablet am Körper tragen können, ist das in Ordnung. Sonst würde ich das Teil gerne auch nach Eseís bringen, und alles, was Sie sonst noch behindern könnte, hier im Wald. Noch ist Zeit genug, um vor der Dunkelheit zurück zu sein."

Ich nicke und nehme das Jetpack vom Rücken. Dann schaue ich in meinen Taschen und übergebe Mister Albright, was ich erübrigen kann. Er versenkt alles in einer Umhängetasche und schnallt sich dann den Jetpack auf den Rücken. Anschließend klettert er einen dieser schrägen Baumstämme hoch, die sich in der Höhe von etwa fünf Metern zu einem riesigen Baumstamm vereinigen. Kurz darauf ist er unseren Blicken entschwunden.

*

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Dienstag, 22. August 2023
Neue Heimat L98 59b (66)
"Dann kann ich aber nicht mehr selbständig von hier starten, wenn mein Auftrag erledigt ist!"

Mister Albright nickt. Er bietet mir eine Alternative an:
"Ich könnte Sie dann gerne nach Eseís zurückbringen. Auch zwischendurch schon einmal, wenn Sie mögen. Sie scheinen ja verheiratet zu sein. Da würde sich Ihre Frau sicher über gelegentliche Besuche freuen!"

Das Angebot nimmt mir ein kleines Gewicht von der Brust, das sie seit meinem Abflug etwas zusammen schnürt. Daher will ich mehr darüber erfahren.

"Womit fliegen wir dann?"

"Wir nutzen einen der 'Geister der Lüfte', wie die Leute hier sie ehrfurchtsvoll nennen," antwortet er und schaut mich dabei erwartungsvoll an.

Ich hake nach:
"Um wen oder was handelt es sich dabei?"

"Um einen Flugsaurier. Wir, also meine Frau und ich, haben je einen gezähmt. Er benimmt sich fast wie ein Hund."

"Hunde?" frage ich und erinnere mich an Schulstunden mit dem Thema 'Erde'. "Sind das diese vierbeinigen Säugetiere, die den Menschen als Rudelführer betrachten, wenn sie zusammen mit ihm aufwachsen?"

Mister Albright nickt lächelnd:
"Genau diese irdische Haustierart meine ich. Allerdings werden die Flugsaurier niemals Haustiere werden. Eher so etwas wie die australischen Dingos, diese halbwilden Hunde der Aboriginals dort vor vielen Jahrhunderten."

"Ah, okay," meine ich. "Wird er meine Annäherung denn akzeptieren?"

"Das muss man ausprobieren," meint mein Gesprächspartner zuversichtlich. "Wir nehmen Wildbret mit und Sie werfen ihm auch ein Stück vor. Dann steigen Sie auf und stecken ihre Beine in dafür vorgesehene Schlaufen. Anschließend halten Sie sich am Sattelgriff vor Ihnen fest. Danach steige ich auf und dirigiere das Tier... Aber soweit ist es erst einmal noch nicht."

"Okay, was haben Sie sich für heute sonst noch gedacht?"

"Neben Ihren Forschungen, ich denke, dass sie dafür jemandem von uns eine Menge Fragen stellen wollen, nehmen Sie an unserem normalen Alltag teil. Ich denke, das ist genau auf Ihrer Linie."

"Wen kann ich denn mit meinen Fragen löchern und damit von seinem eigentlichen Alltag abhalten?" frage ich nun.

Mister Albright schmunzelt. Er berichtet:
"Als ich mich vor fast zwanzig Jahren zu den Ngachi 'verirrt' habe, bin ich von der Tochter des Häuptlings im Wald aufgegriffen worden. Sie wollte mich erschießen. Die 'Himmelswesen' hatten bei ihnen keinen guten Ruf. Aber ihre Gottheit hat ihr ein Zeichen gesandt, und so hat sie mich nicht nur leben lassen, sondern zum Heimatbaum ihres Volkes gebracht. Ihre Mutter, die Schamanin hat mich taxiert und ihr Vater, der Häuptling hat sie zu meiner Lehrerin bestimmt. Anfangs hat sie nur widerstrebend gehorcht. Mit der Zeit haben wir uns ineinander verliebt. Da wir zwei unterschiedlichen Spezies angehören, ihre Eltern aber gerne Enkel haben wollten, musste damals ein Genetiker aus Eseís aushelfen. Er hat es tatsächlich geschafft, dass Ngachischi schwanger wurde und uns eine Tochter geboren ist."

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