Freitag, 28. Januar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -04
"In der Schule ist die Pausenaufsicht verstärkt worden. Sie greift frühzeitig ein und sorgt dafür, dass es zu keiner Eskalation kommt. Den Schulweg übernimmt meine Frau. Noah kann nun aber nach den Hausaufgaben nicht mehr vor die Tür," berichtet Papa.

"Das ist kein Zustand!" pflichtet Dennis Papa bei.

Wir sind inzwischen wieder im Foyer zurück. Ich frage Dennis jetzt:

"Was sind das für Rollen an den Wänden entlang?"

"Das sind Gebetsmühlen," erklärt mir Dennis lächelnd. "Wenn man sie dreht, nimmt der Wind die Gebete um Frieden, Glück und Gesundheit mit sich fort. Irgendwann wird das eine oder andere Gebet auch erfüllt!"

Ich höre ihm aufmerksam zu und laufe spontan zu den Gebetsmühlen.

"Immer rechts herumdrehen!" ruft mir Dennis lächelnd hinterher.

Ich laufe einmal um das Foyer herum von einer Gebetsmühle zur Anderen und drehe sie, bevor ich zu den Beiden zurückkomme und von Einem zum anderen schaue.

"Kommen Sie morgen mit ihrem Jungen hierher zurück!" bietet Dennis uns nun an. "Um wieviel Uhr kann ich damit rechnen?"

"Wir können täglich gegen 16Uhr hier sein," antwortet Papa. "Allerdings wird ihn meist seine Mutter bringen müssen. Wie lange wird das Training dauern?"

"Täglich, sagen Sie? Dann reicht erst einmal eine halbe Stunde. Später kann man die Trainingseinheit erweitern. Ich denke, das reicht. Ihre Frau kann in der Zeit Kaffeeklatsch bei meiner ehrwürdigen Mutter halten," entscheidet Dennis.

"Und wieviel würde das Training kosten?" nimmt Papa das Thema Geld wieder auf.

Dennis schüttelt vehement den Kopf und entgegnet: "Ich nehme kein Geld! Wenn Sie möchten, spenden Sie dem Kloster hin und wieder einen kleinen Betrag."

"Okay," meint Papa und lächelt.

Wir verabschieden uns nun von Dennis und gehen zum Auto zurück.

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages fährt Mama mit mir zu dem Kloster. Wieder werden wir im Foyer aufgehalten und gefragt:

"Darf ich fragen, wohin Sie möchten?"

Mama erklärt dem jungen Mönch:
"Wir sind mit Lama Rinpoche verabredet."

Ich habe Mama auf der Herfahrt erklärt, dass sie hier seinen tibetischen Namen nennen soll.

"Ah," macht der Gelong -Mönch-. "Dann folgen Sie mir bitte. Ich führe Sie gerne zu dem ehrwürdigen Lama."

Es geht wieder die Treppe hinauf. Dieses Mal nimmt er jedoch einen Gang ein Stockwerk tiefer.

Er öffnet eine Tür und schaut in den Raum. Dann bedeutet er uns, ihm leise zu folgen. Der Raum ist fremdländisch eingerichtet, aber man kann einen niedrigen Schreibtisch und Bücherregale erkennen. An einer Seite des Raumes gibt es einen Raumtrenner aus Fachwerk ohne Füllung der Zwischenräume. Dahinter sitzt Dennis mit geschlossenen Augen zwischen den Möbeln auf dem Boden.

Unser Führer tritt lautlos näher und berührt Dennis leicht an der Schulter. Dennis öffnet die Augen und schaut unseren Führer lächelnd an. Dieser tritt ein wenig zur Seite und gibt den Blick auf Mama und mich frei. Er flüstert Dennis etwas zu. Dennis nickt daraufhin und erhebt sich. Während er sich uns nähert, will unser Führer den Raum leise verlassen.

"Verehrter Bruder," sagt Dennis nun. "Würdet Ihr die Dame zu meiner ehrwürdigen Mutter führen, bevor Ihr an Euren Platz zurückkehrt?"

Der Mönch nickt und verbeugt sich lächelnd. Kurz darauf bin ich mit Dennis allein. Ich schaue ihn erwartungsvoll an.

Dennis beginnt:
"Ich könnte mit dir durch Parks und Wälder spazieren gehen und dir die Wildtiere zeigen, wie sie sich bewegen. Du hast gestern im Keller unsere Klosterschüler die Bewegungen einiger Wildtiere nachahmen gesehen. Kungfu durchzieht das ganze Leben. Es kann auch ein ganzes Leben benötigen, um darin meisterlich zu werden. Kungfu ist nicht bloß das, was du mit deinen Augen siehst. Es geht tiefer! Es hat etwas mit Charakter und Einstellung zu tun - und mit deinem Umgang mit deinen Mitmenschen, Noah."

"Was muss ich tun, Meister?" frage ich nun, mit hängenden Schultern zu Boden schauend.

"Hänge zuerst einmal deine Jacke hier an den Haken," fordert er mich auf und lächelt mir zu.

Ich habe meine Jacke, wie immer, gedankenlos am Eingang des Zimmers ausgezogen und über einen Hocker fallen gelassen. Also gehe ich zurück zur Zimmertür, hebe sie vom Hocker auf und nähere mich ihm, um sie an einem Haken am Fachwerk aufzuhängen.

Nun folgen in kurzen Abständen Kommandos, die ich zunehmend sinnlos empfinde. Ich befolge sie mit immer größer werdendem Unwillen, was man mir im Gesicht ansieht.

Dennis sagt:
"Jacke anziehen! - Jacke ausziehen! - Jacke fallen lassen! - Jacke aufheben! - Jacke hinhängen! - Jacke anziehen! - Jacke ausziehen! - Jacke fallen lassen! - Jacke aufheben! ..."

Irgendwann begehre ich auf:
"Echt, Dennis! Mir reicht's! Ich habe es gecheckt! Respekt zeigen! Die Jacke an, aus, an, aus... tausendmal! Das ist bescheuert! Mir reicht's! Ich gehe!"

Ich mache Anstalten meine Jacke anzuziehen, um zu gehen. Dennis hält mich am Arm fest und greift mit der anderen Hand nach.

"Ich spüre keinen Widerstand," sagt er. "Spanne deine Muskeln an! Sei stark!"

Danach lässt er mich los, nimmt mir die Jacke aus der Hand und lässt sie zwischen uns auf den Boden fallen. Dann kommandiert er:

"Jacke an!"

"Aber die Jacke..." beginne ich den Satz. Meine Nase kribbelt. Ich verziehe das Gesicht zum Weinen.

"Jacke an!" wiederholt er energisch.

Also bücke ich mich nach der Jacke. Im gleichen Moment tritt Dennis nach mir. Der Tritt geht über mich hinweg, da ich mich ja gebückt habe. Danach richte ich mich wieder auf und schaue ihn mit großen Augen an.

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