Samstag, 29. Januar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -05
"Wow!" ist das Einzige, was mir in dem Moment einfällt zu sagen.

"Siehst du!" sagt Dennis. "Die Bewegung im rechten Moment ausgeführt, schützt dich vor einem Schlag mit dem Fuß! Du hast mit der Jacke einen ganzen Bewegungsablauf gemacht. Die Einzelschritte habe ich mit Kommandos verknüpft... Konzentriere dich und sei stark! Nicht vergessen, deine Muskeln müssen immer gespannt sein!"

Wieder spricht er die Kommandos und dringt dabei auf mich ein. Ich versuche, den Schlägen und Tritten nach Kommando auszuweichen. Nach einigen Minuten gönnt er mir eine Verschnaufpause.

Meine Reaktion ist wieder nur: "Wow!"

Kurz darauf sagt er:
"Konzentriere dich! Sammele deinen Geist! - Linker Fuß zurück! - Rechter Fuß zurück! - Linker Fuß..."

Dazwischen höre ich die gewohnten Kommandos. Während Dennis so vorrückt, geht er mich weiter an. Ich versuche ihn abzublocken und bücke mich bevor er mich tritt, weil davor immer das Kommando 'Jacke aufheben!' kommt. Vor den Bücherregalen wendet er, übt mit mir noch einmal, wie zu Beginn, das Abblocken und Ausweichen auf der Stelle und danach wieder in Bewegung zurück bis zur anderen Wand bei seinem Schreibtisch.

Schließlich meint er:
"Lassen wir es für heute gut sein! Ich bringe dich zu deiner Mutter."

Ich bin außer Atem und nicke ergeben. Meine Jacke ziehe ich an, während wir über die Gänge des Klosters gehen.

Unterwegs fragt mich Dennis:
"Dein Vater ist eine Respektperson für dich! Warum ist das bei deiner Mutter anders?"

Ich schaue Dennis groß an und antworte:
"Ich habe Mama lieb!"

"Und warum muss dann deine Mutter ständig hinter dir herräumen?"

Ich weiß darauf im Moment keine Antwort. Er macht eine kurze Pause und gibt mir dann den Rat:

"Zeige ihr deinen Respekt, indem du nichts mehr herumliegen lässt! Deine Mama hat dich auch sehr lieb! Sie hat dich unter ihrem Herzen getragen. Dafür solltest du dich dankbar zeigen, mein Junge. Kungfu bedeutet auch Charakterbildung! Es ist eine Einstellungssache! Denke immer daran."

Bald bleiben wir vor einer Zimmertür stehen. Dennis klopft an. Frau Bäcker, seine Mutter, öffnet uns und lässt uns eintreten. Ich ziehe meine Jacke aus und orientiere mich kurz. Dann hänge ich sie an einen Haken neben der Tür und folge Dennis an den Tisch.

Mama schaut auf, als wir hereinkommen. Sie lächelt uns entgegen und macht große erstaunte Augen, als ich die Jacke an den Haken hänge. Danach sieht sie Dennis an, während ein feines Lächeln ihre Mundwinkel umspielt. Als ich beim Couchtisch ankomme, sehe ich Dennis daran knien und knie mich neben ihn. Dann setze ich mich auf meine Fersen und schaue ihn erwartungsvoll an.

"Was heißt eigentlich 'Lama Rinpoche'?? frage ich nun.

"Jahrelang war ich der Schüler Dennis im Kloster in Nepal," erklärt er mir. "Kurz bevor wir wieder nach Deutschland zurückgeschickt wurden, hat Seine Heiligkeit, der Abt des dortigen Klosters, mich zum Lama ernannt und mir den Namen Rinpoche gegeben. 'Lama' bedeutet 'spiritueller Lehrer' und 'Rinpoche' kann man mit 'der Wertvolle' übersetzen. Das ist nichts Ungewöhnliches, mein Junge. Auch hinter deutschen Namen steckt eine Bedeutung!"

Er streicht mir sanft übers Haar und ergänzt: "Noah bedeutet zum Beispiel 'Ruhe, Trost'."

Ich mache große Augen und Mama rutscht näher an mich heran. Sie legt mir ihren Arm um die Schultern. Ich lehne mich bei Mama an. Nun lächelt Dennis.

Mama fragt ihn:
"Wie macht sich Noah?"

"Er zeigt gute Anlagen," antwortet Dennis ehrlich. "Es braucht aber noch etwas, um sie heraus zu bilden."

"Das freut mich," sagt Mama lächelnd, und zu Frau Bäcker gewandt meint sie: "Dann wollen wir aufbrechen. Morgen sind wir ja schon wieder hier."

Frau Bäcker nickt lächelnd und wir alle erheben uns. Ich habe inzwischen meine Jacke erreicht und ziehe sie mir über.

Mama und Frau Bäcker verabschieden sich freundschaftlich voneinander. Anschließend führt Dennis uns zurück ins Foyer. Dort verabschiedet er sich von uns und sagt zu mir:

"Kungfu liegt in allem, was wir tun, Noah! Auch darin, wie wir andere Menschen behandeln. Denke immer daran! Ich freue mich auf Morgen!"

"Okay," erwidere ich schüchtern, und nicke verlegen lächelnd.

Mama verabschiedet sich und fragt: "Auf Wiedersehen, Herr Bäcker. Oder wie darf ich Sie nennen?"

... comment