Montag, 28. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -35
Auf meine Frage hin: "Daddy, what's that?" erklärt er: "That's a Monastery."

Wir gehen an der Hand von Daddy auf das Gebäude zu und erklimmen die Treppe. Oben gibt es zwei Doppeltüren, von denen Daddy die Rechte öffnet und wartet, bis wir das Gebäude betreten haben.

Die Einrichtung der Eingangshalle ist mir total fremd. Ich muss die neuen Eindrücke erst einmal aufnehmen und verarbeiten. Jetzt verstehe ich irgendwie, warum Daddy die Kleidung gewechselt hat. Er wirkt jetzt, als passe er in dieser Aufmachung hierher. An den Wänden rechts und links und auch an der gegenüberliegenden Wand sind senkrecht stehende Rollen angebracht. Sie sind braun und mit fremden Zeichen bemalt.

Anne fängt sich als Erste. Sie fragt Daddy:
"Daddy, may I drive the rolls?"

"Yeah," antwortet Daddy. "But only to he right!"

Ich frage Daddy zurückhaltend, während Anne von einer zur anderen Rolle läuft und sie anstößt:

"What does it mean, Daddy?"

"Auf den Zylindern, man nennt sie Gebetsmühlen, stehen Gebete. Wenn man sie dreht, trägt die Luft sie mit sich fort. Mit Glück wird das eine oder andere Gebet erhört," erklärt er mir.

Bevor ich eine weitere Frage stellen kann, kommt ein Mann in der gleichen Kleidung wie Daddy auf uns zu. Einem Impuls folgend verstecke ich mich hinter Daddy und schaue neugierig, was passiert. Der Mann begrüßt ihn herzlich und zeigt mit der Hand auf eine Treppe. Daddy schaut nach mir und ruft Anne herbei. Zusammen folgen wir dem Mann die Treppe hinauf und durch die Gänge. Unterwegs frage ich:

"Daddy, who's that man?"

"He's a monk!" erklärt mir Daddy.

Ich runzele die Stirn, schaue zu Daddy hoch und frage nun:

"Are you a monk, too?"

Daddy lächelt fröhlich und meint:
"May be soon, Andrea."

Wir betreten zusammen einen Raum mit vielen Büchern und einem Schreibtisch. Hinter einem Raumteiler aus Balken kann ich eine Couch und einen niedrigen Tisch erkennen. Ein Mann in ähnlicher Kleidung sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und schaut uns entgegen. Das Longshirt dieses Mannes hat eine mattgelbe Farbe. Unser Begleiter lässt uns allein und Daddy sagt:

"Sit down, quiet, please."

Er selbst setzt sich in der gleichen Art wie der Mann nieder, an den niedrigen Tisch. Anne setzt sich zu Daddy auf den Boden, während ich die Couch bequemer finde. Nun faltet Daddy die Hände und neigt seinen Kopf, dann reden beide Männer in der fremden Sprache miteinander. Der Mann in dem gelben Long-shirt schaut uns zwischendurch immer wieder einmal an, auch mein Drachen scheint ihn zu interessieren.
Eine ganze Weile später stehen Daddy und der Mann auf. Daddy sagt zu uns:

"Wir bringen euch eben zu den Klosterschülerinnen zum Abendessen. Ich gehe mit Lama Rinpoche zum Abt des Klosters, um dort mein Abendessen einzunehmen. Ich muss auch noch etwas wichtiges mit Seiner Heiligkeit besprechen. Danach hole ich euch ab und wir gehen zum Schlafen in unsere Zimmer."

"Daddy? Will you read a story before sleeping?" frage ich.

"Yes, I will!" verspricht er mir.

Ich umarme ihn und wir folgen Daddy und dem Mönch zum Speisesaal. Dort finden wir schon junge Frauen und ein paar Ältere vor. Wir werden freundlich aufgenommen. Einige können sich mit uns auf Englisch unterhalten. Daddy und der Mönch sind inzwischen weitergegangen.

*

Nach dem Essen bleiben Lama Rinpoche und ich, der Schüler Noah Mann, beim Khenchen Lama sitzen. Ich berichte Seiner Heiligkeit von den letzten Ereignissen auf Hawaii und frage:

"Ich möchte die Mädchen einerseits mit der asiatischen Lebensweise vertraut machen und sie eine Klosterschule besuchen lassen. Dazu, denke ich, ist das Kloster nahe Katmandu sehr geeignet. Was haltet Ihr davon?"

"Du sagst, du erkennst in Anne deine verstorbene Frau Li Yong Tai wieder - und Andrea müsste demnach die Seele deines ungeborenen Kindes beherbergen..."

"Ja, Euer Heiligkeit. Obwohl gleichaussehend, kann man beide leicht auseinanderhalten. Anne ist anlehnungsbedürftig, zurückhaltend, trotzdem neugierig. Ihr erster Griff unter all den Spielsachen galt Yong Tais Lieblingspuppe, die sie seitdem nicht mehr aus den Augen lässt.
Andrea ist immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt und zieht Anne oft mit. Ihr erster Griff galt dem Stoffdrachen, den ich vor langer Zeit von meinem Vater in Hongkong geschenkt bekam. Ich habe ihn Yong Tai damals beim Abschied auf dem Flughafen von Honolulu zur Erinnerung geschenkt. Andrea hat viel von meinem Charakter."

Seine Heiligkeit nickt. Er meint:
"Das Kloster nahe Katmandu, wo Lama Rinpoche seine Ausbildung begonnen hat, ist weit entfernt. Hast du schon einmal etwas über die Sakya-Schule gehört?"

"Ja, Euer Heiligkeit," antworte ich, etwas irritiert. "Im tibetischen Buddhismus gibt es vier Schulen. Eine davon ist Sakya. Anders als in den anderen Schulen, bei denen die Nangwa -Reinkarnation- des vorherigen Trülku -Oberhauptes- gesucht wird, wird dort seit der Gründung vor 900 Jahren der erstgeborene Sohn des bisherigen Trülku sein Nachfolger."

"Das heißt also, in der Schule Sakya wird nicht so viel Wert auf die Askese gelegt. Sollte in einem Gelong die Liebe zu einer weiblichen Person in seiner Nähe entfacht werden, heiraten sie und zeugen Kinder. Die Tugenden des Mönchtums sind damit natürlich nicht außer Kraft gesetzt! Die Tugend des Mitgefühls gegenüber allen Lebewesen wurde stattdessen ausgeweitet!
Warum rede ich davon? Ich kenne deinen Lebensweg, mein Bruder, und sehe Parallelen bei der Sakya-Schule. Nun gibt es in wenigen hundert Kilometern eine Sakya-Schule. Sie liegt im Elsaß, nur fünfzig Kilometer von Straßburg entfernt. Dort bist du mit den Zwillingen am besten aufgehoben.
Wenn du magst, nehme ich Kontakt dorthin auf."

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