Donnerstag, 3. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -38
Anne, die sich gleich neben mir an dem niedrigen Tisch in Lama Rinpoches Zimmer niedergelassen hat, lehnt sich an mich. Andrea schüttelt lächelnd den Kopf und sagt:

"Wir werden dich immer wieder besuchen! Wenn es geht, auch zwischendurch an den Wochenenden. Ansonsten gibt es ja WhatsApp!"

Ich nicke und streiche ihr zart über die Wange:
"Zuerst die Schule - und die Hausaufgaben! Bei Fragen bin ich natürlich wie immer für euch jederzeit zu sprechen, meine Große!"

In den folgenden Jahren gehen meine Mädchen auch Freundschaften mit jungen Männern ihrer Altersstufe ein. Es kommt zu schwärmerischen Liebeleien, die immer wieder daran zerbrechen, dass - besonders Anne - jeden frühen sexuellen Kontakt ablehnen.

Dann kommen die Staatsexamina und beide sind hochgradig nervös. Dennoch erhalten beide ihre angestrebten Abschlüsse. Nun reise ich mit meinen Mädchen durch Deutschland und zeige ihnen neben der reichhaltigen Natur und Kultur meines Heimatlandes auch einige emotional aufgeladene Orte.

Meine erste Fahrt mit den Mädchen führt in einen kleinen Ort an der Peripherie Frankfurts. Dafür habe ich mir einen Mietwagen genommen. Ich suche die Straße, in der das Einfamilienhaus der Familie Li gestanden hat. Jetzt, nach über zwanzig Jahren ist es kaum wiederzuerkennen. Der neue Eigentümer hat es auf seine eigenen Bedürfnisse angepasst.

Ich habe das Auto in der Nähe abgestellt und den Mädchen angeboten, dass wir uns 'etwas die Füße vertreten' und dann in einem Restaurant essen, bevor wir wieder zurückfahren und am Abend rechtzeitig zum Schlafen wieder im Kloster zurück sind.

Als wir, rechts und links meine Mädchen, in die Straße einbiegen, zeigt Andrea keine Gefühlsreaktion. Ganz anders Anne. Sie lehnt sich bei mir an und wischt sich eine Träne von der Wange. Ich umfasse ihre Schultern und schaue sie liebevoll an.

"Wir sind bald im Restaurant," sage ich beschwichtigend.

"Ich weiß nicht, was plötzlich mit mir los ist!" meint sie.

"Sei mir nicht böse, Anne. In diesem Haus hier ist vor langer Zeit Li Yong Tai aufgewachsen. Wahrscheinlich kommt dein Gefühlsausbruch daher."

"Dad!" antwortet sie laut, entwindet sich meinem Griff und geht ein wenig auf Abstand. Andrea schaut interessiert.

Dann lehnt sich Anne wieder bei mir an. Nun schlendern wir aber nicht mehr, sondern gehen den Restweg schnellen Schrittes. Während des Essens im Restaurant, sagt sie:

"Das hast du mit Absicht getan: Uns hierher zu führen... Du warst auf meine Reaktion gespannt."

"Entschuldige," antworte ich ihr. "Du hast Recht! Aber nun weißt du auch selbst mit Gewissheit, dass du eine andere Wesenheit in dir beherbergst. Du bist die Wiedergeburt Yong Tais!"

Ein paar Tage nach dem Erlebnis machen wir eine Fahrt in meine Geburtsstadt und spazieren am Gebäude des alten Klosters, an meiner alten Schule und an meinem Elternhaus vorbei.

Nach diesen 'Back to the Roots'-Reisen möchten die Zwillinge nun auch Hamburg kennenlernen, die Wirkungsstätte von Yong Tai. Das Bankenviertel befindet sich westlich hinter dem Rathaus. Die Statue auf dem Rathausmarkt stellt den Dichter Heinrich Heine dar. Wir parken den Wagen und gehen etwa fünf Minuten zu Fuß. Meine Zwillinge schauen sich alles interessiert an. Für den Rückweg nehmen wir eine Barkasse auf der Alster.

Dann essen wir im Restaurant 'Parlament Hamburg'. Hier in der Innenstadt gibt es eine Menge Ausstellungen und Museen. Ich lasse sie auswählen, welche für sie interessant sind. Diese besuchen wir in den nächsten Tagen, nachdem wir eine Jugendherberge zum Übernachten gefunden haben. Danach machen wir einen Abstecher nach Berlin und Köln, bevor wir wieder in Frankfurt sind und dort unsere Flugtickets kaufen.

Als nun die Rückkehr nach Hawaii ansteht, bin ich es, der nervös ist. Annes Nähe und Fürsorge tut mir gut. Meine Zwillinge sind inzwischen 22 Jahre alt. Wir fliegen mit Touristentickets die übliche Strecke über San Franzisko und mieten uns drei Zimmer in einem Motel in Honolulu.

Dort wollen wir uns einen ersten Eindruck verschaffen in den Vierteln der ärmeren Bevölkerung. Die Mehrzahl der Leute hier sind Native-Hawaiians. Das Hauptproblem sind Alkohol und Drogen. Kleine Kinder betteln uns an und halbwüchsige leicht bekleidete Mädchen stehen am Straßenrand in der Nähe der Pubs.
Plötzlich kommt eine Gruppe halbwüchsiger Jungen grölend die Straße herunter. Wir versuchen auszuweichen, aber sie haben schnell meine Mädchen im Griff, die Arme auf den Rücken gedreht und verlangen Geld von mir.

Die Drei, die sich mir mit der Forderung nähern, bewaffnet mit Messern, liegen kurz darauf auf dem Boden und die Beiden, die meine Mädchen festgehalten haben, dann ihren Kumpels helfen wollen, liegen auf ihnen. Wir laufen zu unserem Mietwagen zurück und nehmen erst einmal Reißaus.

Unterwegs zurück zum Motel meine ich:
"Der Erstkontakt ist gründlich schiefgegangen. Wir waren zu naiv. Erst einmal sollten wir uns um den Ausbau der alten Villa am Hang des Kilauea kümmern, denke ich. Dann sollten wir Kontakt zu caritativen Vereinen aufnehmen, die schon Kontakt zu den Leuten hier haben und deren Vertrauen genießen. Anschließend sollten wir uns zuerst um 6jährige Schulanfänger kümmern!"

Am nächsten Tag folgen wir den Kehren und Windungen der Straße den Kilauea hinauf und in den tropischen Regenwald hinein. Nach einer Stunde erreichen wir den Privatweg, der zu unserer Villa führt. Gut 23 Jahre bin ich nicht mehr hier gewesen. Wir lassen den Wagen stehen und versuchen uns mühsam den Weg durch die Vegetation zur Villa zu bahnen.
An den Mauerresten der Gartenmauer, die durch die Explosion von Yong Tais Auto teilweise eingestürzt ist, endet unser Vordringen. Ich kann einfach nicht mehr. Mich auf die Mauerruine setzend, lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf. Mit zuckenden Schultern haltlos weinend sitze ich da. Anne hat sich neben mich gesetzt und zieht mich nun an sich. Sie trocknet mir die Tränen.

"Bald sieht es hier wieder anders aus," meint sie tröstend, "und neue Erlebnisse überdecken die alten Erinnerungen!"

... comment