Sonntag, 20. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -55
Als ich die Menschen erkenne, zu denen er mich schiebt, werde ich stumm. Es ist Seine Heiligkeit Khön Sakya Trizin und Seine Eminenz Khön Gyana. Ersterer lehrt im angegliederten Kloster und Lama Khön Gyana habe ich auf Bildern in einem Schulbuch gesehen. Bei ihnen stehen zwei Frauen in Nonnengewändern, jedoch mit kunstvollen Stickereien. Das müssen die Frauen der hohen Persönlichkeiten sein! In diesem Moment fällt mir siedend heiß ein, dass Thayes Familienname ebenso Khön ist. Sollte Thaye der Sohn einer der beiden hohen Herrschaften sein? Je näher mich Thaye schiebt, desto größer werden meine Augen. Ich schaue verschämt zu Boden, als suche ich dort etwas Bestimmtes.

Thaye fragt laut:
"Verehrte Mum, an welchem Datum ist die verehrte Tante Anne genau heimgegangen?"

Die Frau, die sich ihm nun zuwendet, nennt ihm ein Datum. Thaye nimmt sein Handy und vergleicht das Datum mit meinem Geburtsdatum, das ich ihm eben erst genannt habe. Das Ergebnis zeigt er der hohen Dame und fragt:

"Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich hier in meiner Nähe auf einen Menschen treffe, der genau neun Monate nach Tante Annes Weggang geboren wurde?"

Die hohe Dame nickt und schaut mich intensiv an. Ich habe dabei den Eindruck, als durchdringt mich ihr Blick. Ich senke verlegen lächelnd meinen Kopf. Sie antwortet Thaye:

"Die Wahrscheinlichkeit ist sicher äußerst gering. Trotzdem kann es ein Zufall sein. Das bedarf weiterer Prüfungen!"

Thaye nickt:
"Du hast sicher recht, verehrte Mum!"

Er dreht den Rollstuhl herum und entfernt sich mit mir. Seine Mutter ruft ihm hinterher:

"Mach dich fertig, Thaye. Wir wollen bald fliegen!"

"Ja, verehrte Mum," ruft er über die Schultern.

Anschließend sagt er mit gedämpfter Stimme zu mir:
"Ich fahre mit meinen Eltern nach Paris zum Flughafen und komme dann mit Onkel und Tante zurück. In den nächsten Jahren mache ich in der Nähe eine Banklehre und wohne dabei im Kloster. Nebenbei schlage ich den Weg eines Mönches ein... Aber ich werde Zeit finden, mich immer wieder einmal mit dir zu treffen, kleine Minh!"

Thaye hält Wort. So wie es ihm möglich ist, kommt er jeden Sonntagnachmittag auf einen Besuch zu mir. Er schiebt mich durch den Park mit seinen jahreszeitlich abhängig unterschiedlichen Düften. Wir reden über Schulisches. Er erklärt mir vieles. Danach spielen wir ein Gesellschaftsspiel, das er mitbringt, bis es Zeit ist mich zum Schlafengehen in das Schulgebäude zu bringen. Auch er muss dann in seine Unterkunft im Kloster zurück. Irgendwann zu Beginn der Treffen bringt er neben dem Gesellschaftsspiel auch einen uralten, mehrfach geflickten chinesischen Drachen mit.

"Weißt du noch? Du hattest einmal von einem Drachen gesprochen... Dieser hier soll dich immer an mich erinnern, verehrte Minh. Und er soll ein Versprechen sein, dass ich immer wieder zu dir zurückfinde!"

Hui, ich bin jetzt neun Jahre alt und Thaye ist achtzehn! Was ist, wenn ihm ein hübsches gleichaltriges Mädchen über den Weg läuft, die keine Behinderung hat?

Aber ich freue mich jedes Mal, wenn er mich besucht und wir über die Schule und meine kindlichen Problemchen reden können.

*

Eines Tages kommt er zu mir und sagt, dass er die Banklehre abgeschlossen hat und bald nach Hawaii fliegen wird. Ich bin inzwischen elf Jahre alt. Ein starker Schmerz scheint mein Herz zu treffen. Es ist wie von einem Schwert durchbohrt zu werden. Ich schaue ihn flehend an und frage ihn:

"Wirst du mich nicht vergessen, mein Thaye?"

Er gibt mir einen sanften Kuss auf die Wange und antwortet:

"Leider kann ich dich nicht während der Ferien besuchen. Hawaii liegt quasi auf der anderen Seite der Erde. Aber ich werde deiner Abschlussfeier beiwohnen! Versprochen!"

In den folgenden Jahren bekomme ich pünktlich zu meinem Geburtstag liebe Botschaften auf Postkarten mit Fotos von der grandiosen Natur Hawaiis auf der Vorderseite. Ich habe mir ein Kästchen gekauft, in das die Postkarten hineinpassen und das abschließbar ist. Dort verwahre ich alle Karten von Thaye auf.

Fast ein halbes Jahr vor meinem Schulabschluss sind meine ehrenwerten Eltern an meinem Geburtstag anwesend. Ich bin unruhig. Das fällt meiner ehrenwerten Mama natürlich auf und sie fragt nach dem Grund.

Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich dringend zur Poststelle rollen muss. Ich erwarte ein liebes Schreiben. Sie lässt mich die Teetafel verlassen, ermahnt mich aber, sofort zurück zu kommen. Erleichtert verspreche ich es ihr.

In der Poststelle lächelt mir die Mitarbeiterin entgegen:
"Hallo Minh! Schau einmal, was ich hier für dich habe!"

Sie überreicht mir die Postkarte. Langsam beruhigt sich mein Herz. Als ich meine ehrenwerten Eltern wieder erreiche, überzieht ein glückliches Lächeln mein ganzes Gesicht.

Mama schaut mich an und sagt mir auf den Kopf zu:
"Du bist verliebt, liebste Minh!"

Ich senke den Blick und fühle meine Wangen heiß werden.

"Du brauchst dich nicht schämen, liebste Minh! Du bist heute 16Jahre alt geworden... Darf ich wissen, wer der Auserwählte ist?"

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