Samstag, 16. April 2022
Lama Rinpoche -21
Da nur Yong Tai und ich damit zurechtkommen, holt die alte Dame noch Löffel aus Porzellan für Noah und seinen Vater herbei. Währenddessen muss Yong Tai viel erzählen und immer wieder streicht ihre Großmutter ihr über die Wange und wischt ihre Tränen an ihrer Kleidung ab.

In der ganzen Zeit sind wir quasi Statisten, da wir die Sprache nicht beherrschen und uns nur über das Mienenspiel mitteilen können.

Nach einer ganzen Weile spricht uns der alte Herr auf Englisch an und will von uns wissen, wie man denn so lebt im fernen Deutschland. So berichten nun auch wir ihm aus Deutschland, wobei ich Herrn Mann die Gesprächsführung überlasse.

Am frühen Nachmittag meldet sich Yong Tais Handy. Wir schauen uns teils erschrocken, teils erstaunt an. Yong Tai nimmt das Gespräch an und ruft erstaunt aus: "Fuqin -Papa-!"

Dann gibt sie das Handy an ihren Großvater weiter. Vater und Sohn reden nun eine Weile über Videotelefonie auf Chinesisch miteinander. Schließlich steht der alte Herr auf, öffnet eine Schublade und entnimmt ihr einige Dokumente, die er in eine Tasche steckt.

Da wir unwissend am Tisch sitzen, erklärt uns Yong Tai:

"Mein ehrenwerter Vater berichtet, dass er vor vier Wochen nach Honolulu geflogen ist, nachdem feststand, wann wir fliegen würden. Er ist auf Hawaii mit einem ehrenwerten Herrn bekannt, der mit Immobilien viel Geld gemacht hat. Der ehrenwerte Herr hat sich angeboten, meinem ehrenwerten Vater zu helfen. Nun ist Papa mit dem ehrenwerten Herrn und dessen Männern draußen vor der Küste und schickt nach Sonnenuntergang ein Boot an den Strand. Wir sollen mit der U-Bahn zu dem Strandbad fahren und in nördlicher Richtung am Wasser entlangwandern. Mein ehrenwerter Vater kann mein Handy orten und weiß so, wo wir sind."

"Ahso," meint Noahs Vater. "Dann könnten wir uns ja auch hier trennen. Wir fliegen planmäßig zurück und du fährst mit deinen Großeltern über den Pazifik."

Yong Tai macht ein tief enttäuschtes Gesicht. Ich schalte mich ein:

"Theoretisch könnten wir das so machen, Herr Mann. Aber es wäre ein Affront gegenüber diesen Leuten hier. Höflicherweise sollten wir die Einladung annehmen und die Gastfreundschaft der Leute genießen."

"Mein ehrenwerter Vater würde sich freuen, Sie alle kennenzulernen und Sie dem ehrenwerten amerikanischen Herrn vorzustellen!" betont Yong Tai, durch mich ermutigt.

Herr Mann hebt die Augenbrauen. Aber er nickt nach einer Gedankenpause. Also ist es abgemacht. Wir fahren mit kleinem Gepäck, auch wir haben unsere Reisedokumente dabei, zu dem Strandbad und halten uns links. Bald verlassen wir die Absperrungen und wandern über einen naturbelassenen Strand.

Nachdem es dunkel geworden ist, hören wir als Erstes Motorengeräusche, so laut wie ein Hubschrauber. Wieder rutscht uns das Herz in die Hose. Ich bin entschlossen, unsere Haut gegenüber den Chinesen so teuer wie möglich zu verkaufen. Dann leuchtet ein Scheinwerfer von See kommend den Strand aus und hat uns schnell erfasst.

Kurz darauf stoppt ein Luftkissenboot auf dem Strand. Inklusive der zwei Mann Besatzung sind wir acht Personen. Mehr Leute passen auch nicht auf das Boot. Nachdem wir hineingeklettert sind, kann ich Yong Tais Vater erkennen. Er aber wehrt alle Wiedersehensfreude höflich ab und verweist auf "Später, bitte!"

Der andere Mann im Boot hat das Fahrzeug gedreht und strebt auf die See zurück, auf ein unbekanntes Ziel zu. Bald taucht das Fahrzeug tiefer ins Wasser ein. Die Schürze wird eingezogen, die für das Luftkissen unter dem Boot gesorgt hat. Zwei Rotore am Heck bringen uns durch die Brandung und mit 30 Knoten Geschwindigkeit hinaus auf den Pazifik.

Außerhalb der von Hongkong beanspruchten Zone, in internationalen Gewässern, wartet eine große Yacht. Es könnte auch ein kleines Kreuzfahrtschiff sein. Wir klettern eine seitlich hängende Treppe hinauf, die hinter uns hochgezogen wird. Auch das Wasserfahrzeug wird an Bord genommen. Uns zeigt man nun unsere Kabinen, während die Yacht Kurs auf Hawaii nimmt. Zwei Wochen wird die Seereise dauern.
Unterwegs vertreiben sich Noah und Yong Tai die Zeit mit Erkunden des Schiffes. Sie fragen der Mannschaft 'Löcher in den Bauch' und spielen im Salon Gesellschaftsspiele. Ich halte mich zumeist in meiner Kabine auf und meditiere oder unterhalte mich mit dem Schiffseigner, zu dem auch Herr Li und Herr Mann gehen.

Die zwei Wochen auf dem Meer vergeht auf diese Weise wie im Flug. Der Schiffseigner interessiert sich nebenbei in den Gesprächen für mein Kloster. Gerne gebe ich ihm Auskunft. Auch beobachte ich mit den Anderen die Wale von der Reling aus, wenn die Schiffsführung über die Bordsprechanlage darauf aufmerksam macht. Schließlich laufen wir in Honolulu Harbour ein.

Der Schiffseigner besitzt auch eine Villa am Hang des Kilauea, in die er uns einlädt. In den darauffolgenden zwei Wochen organisiert er Besichtigungstouren mit Auto und Kleinflugzeugen über die ganze Inselgruppe. Wir verbringen eine wundervolle Zeit. Der CEO der weltweit operierenden Immobiliengesellschaft, dem die Hochseeyacht und die Villa gehört, und Herr Li reden in meinem Beisein über Yong Tais Zukunft. Der CEO bietet Herrn Li an, sie als Auszubildende einzustellen. Ich finde, das ist eine gute Idee. Yong Tai wird durch einen Bediensteten hinzugerufen und ihr das Angebot unterbreitet.

Sie ist vollkommen überrascht. Das sieht man ihr an. In der entstehende Gesprächspause melde ich mich zu Wort:

"Li Yong Tai, habe keine Angst vor der Zukunft und der damit verbundenen vorübergehenden Trennung von deiner ehrenwerten Familie! Du kannst alles schaffen, was du ernsthaft angehst. Bewahre dir deine Neugier und dein Interesse. Bewahre dir dein Mitgefühl, aber beharre auch auf Standpunkten, die du für richtig hältst. Ich wünsche dir alles Glück der Welt!"

Sie hört zu, was ich ihr zu sagen habe, dann nickt sie, wendet sich ihrem Vater zu und sagt mit fester Stimme:

"Ja, ehrenwerter Vater, ich bin bereit! Ich werde dich nicht enttäuschen!"

Bald darauf fliege ich mit Noah und seinen Vater vom Kona International Airport über San Franzisko und New York nach Frankfurt zurück. Zum Abschied schenkt Noah Yong Tai seinen Drachen aus Hongkong.

*

Sieben Jahre sind seit dem Hongkong-Abenteuer vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert. Herrn Lis amerikanischer Freund hat auf der Seereise zurück nach Hawaii neben den beruflichen Gesprächen via Satellit viel mit Herrn Li und mir über die Situation der Buddhisten in Deutschland gesprochen.

Das Ergebnis dieser Gespräche hätte ich mir nie zu träumen gewagt: Einer seiner Mitarbeiter hat Monate später unser Kloster an der sächsisch-bayrischen Grenze besucht. Ich werde zu Seiner Heiligkeit, dem Khenchen Lama, gerufen und darf gegenüber dem Mitarbeiter der Immobilienfirma meine Vorstellungen entwickeln. Der Mann hat einen Katalog mit Luftbildern mitgebracht. Darauf kann man verschiedene Gebirgstäler im deutschen Mittelgebirge erkennen.

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