Donnerstag, 21. April 2022
Lama Rinpoche -26
mariant, 11:28h
Der Personenschützer schaut vom Monitor auf und meint:
"Ehrlich gesagt, würde ich mir mehr Sorgen um die Chefin machen."
Ich schaue den Mann lächelnd an.
Kaum zehn Minuten später klingelt es. Ich fahre wieder mit dem Expressaufzug nach unten und lasse die Polizeibeamten herein. Schnell überschlage ich das Geschehen heute Abend und führe die Beamten zu dem Fahrzeug, in das der späte Besucher einsteigen wollte. Von dort zeige ich auf die Bar, in der ich den Mann überwältigt und hinausgeführt habe. Wir überqueren die Straße. Vor dem Eingang wende ich mich um und zeige den Riss in meiner Jacke. Die Beamten schauen sich den Riss genau an und schätzen die Richtung, aus der der Schuss gekommen sein muss.
Die neuen Erkenntnisse geben sie per Funk an ihre Zentrale weiter. Dann soll ich sie zu dem Toten führen. Kurz nachdem wir den Raum des Personenschützers betreten haben, kommen Spezialisten der Polizei hinzu. Während die Männer ihre Arbeit machen, nimmt einer der zuerst eingetroffenen Beamten mein Protokoll auf. Ich weise sie auch auf die Hongkong-Geschichte hin. Vielleicht ergibt sich in dieser Richtung mehr.
Der Tote wird abgeholt und ich soll mich vor Ort für weitere Vernehmungen zur Verfügung halten, wird mir gesagt. Also gehe ich in meinem Zimmer zu Bett. Aus der Zeitung erfahre ich eine Woche später, dass man einen chinesischen Agenten verhaften konnte mit Schmauchspuren an seiner Kleidung. Ich fahre nun ins Polizeipräsidium und frage, ob man mich noch weiter braucht. Ansonsten würde ich gerne in mein Kloster zurückkehren.
Mir wird gesagt, dass das Gericht in einigen Wochen meine Zeugenaussage braucht. Ich nicke und erkläre, dass ich anwesend sein werde, wenn ich von dem Termin früh genug erfahre. Danach fahre ich wieder in die Heimat zurück.
*
Ich habe über ein halbes Jahr nichts mehr von Noah gehört. Dann erreicht mich eine Nachricht via Skype. Zuerst denke ich an Nepal. Aber nein, von dort kann keine Nachricht kommen, meine ich. Neugierig öffne ich Skype und sehe, dass die Nachricht von Noah kommt. Ich öffne sie und lese, dass er und Yong Tai ihre Hochzeit planen. Sie leben jetzt zurückgezogen auf Hawaii. Ich wünsche ihnen alles Glück der Welt.
Drei Monate darauf erhalte ich die Nachricht, dass die beiden im ganz kleinen Kreis geheiratet haben. Ihre Verwandten sind beim Anflug auf Hawaii durch einen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Mir kommt China in den Sinn. Ich drücke Noah mein Beileid aus, mache ihn wiederholt darauf aufmerksam, dass für uns der Tod nicht das Ende bedeutet und empfehle ihm auf sich und sein junges Glück zu achten.
Fast drei weitere Monate danach erhalte ich die nächste Nachricht von Noah. Er ist am Boden zerstört. Seine hochschwangere Frau Yong Tai ist einem Autobomben-Anschlag zum Opfer gefallen. Nun macht er sich schwere Vorwürfe, nicht auch im Wagen gesessen zu haben und mit ihr gestorben zu sein.
Wochen später trifft ein sichtlich gealterter Noah Mann bei uns im Kloster ein. Er klopft an meine Tür und redet sich die ganze Geschichte von der Seele. Nachdem er fertig ist, schließt er seine Rede mit der niederschmetternden Aussage:
"Ich weiß nicht mehr weiter, mein Tsopo -Meister-. Mein Leben ist sinnlos ohne sie!"
Ich schaue ihn lange an und antworte ihm, um ihm eine Aufgabe zu geben:
"Dir ist ein großes Vermögen zugefallen, das du irgendwie verwalten musst. Du hast aber keine Ausbildung bisher. Ich rate dir, mache eine Banklehre. Lerne mit viel Geld umzugehen und es zu mehren! Dann überlege dir, wofür du den Geldzuwachs ausgeben willst."
"Aber ohne Yong Tai hat alles keinen Sinn!" entgegnet er mir depressiv.
Darum erinnere ich ihn wieder an die buddhistische Denkart:
"Denke daran, was ich dich gelehrt habe: der Tod ist nicht das Ende! Dann bekommt dein Leben wieder einen Sinn, wenn du ihn auch jetzt noch nicht erkennst. Komm gerne im Laufe deiner Ausbildung immer wieder hierher zurück! Du hast meditieren gelernt! Nutze deine Fähigkeit."
Er lächelt unsicher, nickt nach einer Weile des Schweigens und antwortet:
"Ich danke Euch, mein Tsopo."
Nun wird er aktiv. Er holt sich Adressen, bewirbt sich bei verschiedenen Banken und erhält die Zusage für eine Ausbildung. In seiner Urlaubszeit während der nächsten drei Jahre reist er nach Hamburg und Frankfurt, Yong Tais Wirkungsstätte und ihr Elternhaus besuchend. Auch Plauen und sein Geburtsort sind Ziele der Städtereisen, die er unternimmt. Daneben kommt er immer wieder ins Kloster zurück, zum Meditieren und sich mit mir unterhalten.
Während solcher Gespräche, die seiner Seele gut zu tun scheinen, erzähle ich ihm von meiner Vergangenheit und mache ihm Mut, seine Zukunft in Angriff zu nehmen.
"Schließe erst einmal deine Ausbildung mit Bravour ab, dann sehen wir weiter!" rate ich ihm, um ihn auf das Nächstliegende zu fokussieren.
Nach diesem Schritt mögen weitere folgen.
Nach der Banklehre zieht er zu uns ins Kloster und bindet sich in unseren Tagesablauf ein. Er sagt, dass unser Kloster für ihn der beste Platz ist, um zur Ruhe zu kommen. Hier fühlt er sich geborgen und gebraucht. Daneben meditiert er täglich mehrere Stunden.
Zwölf Monate dürften darüber vergangen sein, als Noah, inzwischen 28 Jahre alt, zu mir kommt. Er beginnt geheimnisvoll:
"Tsopo Rinpoche, man sagt, du wärest die Wiedergeburt eines bedeutenden Lamas aus Nepal. Könnte es sein, dass auch gewöhnliche Menschen wiedergeboren werden?"
Ich bin etwas irritiert über die Frage und antworte ihm:
"Als du vor deiner Ausbildung, frisch von Hawaii, zu mir gekommen bist, habe ich dir gesagt, dass wir alle 'gewöhnliche Menschen sind', Noah! Es gibt keine Bevorzugung oder Benachteiligung! Der Tod ist nicht das Ende! Einzig je nach Lebensweise im jetzigen Leben, werden wir im nächsten Leben als Pflanze, Tier oder auch als Mensch wiedergeboren - oder erreichen das Nirwana bei untadeliger, heiliger Lebensweise."
Er schaut mir direkt in die Augen und erklärt mir:
"Während der letzten Meditation habe ich Yong Tai gesehen. Sie hat sich im Verlauf der Erscheinung in ein Kind verwandelt..."
"Das kann zweierlei Gründe haben," meine ich zurückhaltend. "Entweder ein Mara -böser Geist- sucht den Kontakt zu dir und will dich zur negativen Seite hinüberziehen, weil du verführbar geworden bist, da du anscheinend noch immer nicht wirklich loslassen kannst. Oder du hast doch losgelassen, gibst der bedauernswerten Li Yong Tai ihren Frieden - und sie strebt aus Liebe zu dir zurück."
"Was soll ich jetzt tun?" frage er mich nun.
"Ehrlich gesagt, würde ich mir mehr Sorgen um die Chefin machen."
Ich schaue den Mann lächelnd an.
Kaum zehn Minuten später klingelt es. Ich fahre wieder mit dem Expressaufzug nach unten und lasse die Polizeibeamten herein. Schnell überschlage ich das Geschehen heute Abend und führe die Beamten zu dem Fahrzeug, in das der späte Besucher einsteigen wollte. Von dort zeige ich auf die Bar, in der ich den Mann überwältigt und hinausgeführt habe. Wir überqueren die Straße. Vor dem Eingang wende ich mich um und zeige den Riss in meiner Jacke. Die Beamten schauen sich den Riss genau an und schätzen die Richtung, aus der der Schuss gekommen sein muss.
Die neuen Erkenntnisse geben sie per Funk an ihre Zentrale weiter. Dann soll ich sie zu dem Toten führen. Kurz nachdem wir den Raum des Personenschützers betreten haben, kommen Spezialisten der Polizei hinzu. Während die Männer ihre Arbeit machen, nimmt einer der zuerst eingetroffenen Beamten mein Protokoll auf. Ich weise sie auch auf die Hongkong-Geschichte hin. Vielleicht ergibt sich in dieser Richtung mehr.
Der Tote wird abgeholt und ich soll mich vor Ort für weitere Vernehmungen zur Verfügung halten, wird mir gesagt. Also gehe ich in meinem Zimmer zu Bett. Aus der Zeitung erfahre ich eine Woche später, dass man einen chinesischen Agenten verhaften konnte mit Schmauchspuren an seiner Kleidung. Ich fahre nun ins Polizeipräsidium und frage, ob man mich noch weiter braucht. Ansonsten würde ich gerne in mein Kloster zurückkehren.
Mir wird gesagt, dass das Gericht in einigen Wochen meine Zeugenaussage braucht. Ich nicke und erkläre, dass ich anwesend sein werde, wenn ich von dem Termin früh genug erfahre. Danach fahre ich wieder in die Heimat zurück.
*
Ich habe über ein halbes Jahr nichts mehr von Noah gehört. Dann erreicht mich eine Nachricht via Skype. Zuerst denke ich an Nepal. Aber nein, von dort kann keine Nachricht kommen, meine ich. Neugierig öffne ich Skype und sehe, dass die Nachricht von Noah kommt. Ich öffne sie und lese, dass er und Yong Tai ihre Hochzeit planen. Sie leben jetzt zurückgezogen auf Hawaii. Ich wünsche ihnen alles Glück der Welt.
Drei Monate darauf erhalte ich die Nachricht, dass die beiden im ganz kleinen Kreis geheiratet haben. Ihre Verwandten sind beim Anflug auf Hawaii durch einen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Mir kommt China in den Sinn. Ich drücke Noah mein Beileid aus, mache ihn wiederholt darauf aufmerksam, dass für uns der Tod nicht das Ende bedeutet und empfehle ihm auf sich und sein junges Glück zu achten.
Fast drei weitere Monate danach erhalte ich die nächste Nachricht von Noah. Er ist am Boden zerstört. Seine hochschwangere Frau Yong Tai ist einem Autobomben-Anschlag zum Opfer gefallen. Nun macht er sich schwere Vorwürfe, nicht auch im Wagen gesessen zu haben und mit ihr gestorben zu sein.
Wochen später trifft ein sichtlich gealterter Noah Mann bei uns im Kloster ein. Er klopft an meine Tür und redet sich die ganze Geschichte von der Seele. Nachdem er fertig ist, schließt er seine Rede mit der niederschmetternden Aussage:
"Ich weiß nicht mehr weiter, mein Tsopo -Meister-. Mein Leben ist sinnlos ohne sie!"
Ich schaue ihn lange an und antworte ihm, um ihm eine Aufgabe zu geben:
"Dir ist ein großes Vermögen zugefallen, das du irgendwie verwalten musst. Du hast aber keine Ausbildung bisher. Ich rate dir, mache eine Banklehre. Lerne mit viel Geld umzugehen und es zu mehren! Dann überlege dir, wofür du den Geldzuwachs ausgeben willst."
"Aber ohne Yong Tai hat alles keinen Sinn!" entgegnet er mir depressiv.
Darum erinnere ich ihn wieder an die buddhistische Denkart:
"Denke daran, was ich dich gelehrt habe: der Tod ist nicht das Ende! Dann bekommt dein Leben wieder einen Sinn, wenn du ihn auch jetzt noch nicht erkennst. Komm gerne im Laufe deiner Ausbildung immer wieder hierher zurück! Du hast meditieren gelernt! Nutze deine Fähigkeit."
Er lächelt unsicher, nickt nach einer Weile des Schweigens und antwortet:
"Ich danke Euch, mein Tsopo."
Nun wird er aktiv. Er holt sich Adressen, bewirbt sich bei verschiedenen Banken und erhält die Zusage für eine Ausbildung. In seiner Urlaubszeit während der nächsten drei Jahre reist er nach Hamburg und Frankfurt, Yong Tais Wirkungsstätte und ihr Elternhaus besuchend. Auch Plauen und sein Geburtsort sind Ziele der Städtereisen, die er unternimmt. Daneben kommt er immer wieder ins Kloster zurück, zum Meditieren und sich mit mir unterhalten.
Während solcher Gespräche, die seiner Seele gut zu tun scheinen, erzähle ich ihm von meiner Vergangenheit und mache ihm Mut, seine Zukunft in Angriff zu nehmen.
"Schließe erst einmal deine Ausbildung mit Bravour ab, dann sehen wir weiter!" rate ich ihm, um ihn auf das Nächstliegende zu fokussieren.
Nach diesem Schritt mögen weitere folgen.
Nach der Banklehre zieht er zu uns ins Kloster und bindet sich in unseren Tagesablauf ein. Er sagt, dass unser Kloster für ihn der beste Platz ist, um zur Ruhe zu kommen. Hier fühlt er sich geborgen und gebraucht. Daneben meditiert er täglich mehrere Stunden.
Zwölf Monate dürften darüber vergangen sein, als Noah, inzwischen 28 Jahre alt, zu mir kommt. Er beginnt geheimnisvoll:
"Tsopo Rinpoche, man sagt, du wärest die Wiedergeburt eines bedeutenden Lamas aus Nepal. Könnte es sein, dass auch gewöhnliche Menschen wiedergeboren werden?"
Ich bin etwas irritiert über die Frage und antworte ihm:
"Als du vor deiner Ausbildung, frisch von Hawaii, zu mir gekommen bist, habe ich dir gesagt, dass wir alle 'gewöhnliche Menschen sind', Noah! Es gibt keine Bevorzugung oder Benachteiligung! Der Tod ist nicht das Ende! Einzig je nach Lebensweise im jetzigen Leben, werden wir im nächsten Leben als Pflanze, Tier oder auch als Mensch wiedergeboren - oder erreichen das Nirwana bei untadeliger, heiliger Lebensweise."
Er schaut mir direkt in die Augen und erklärt mir:
"Während der letzten Meditation habe ich Yong Tai gesehen. Sie hat sich im Verlauf der Erscheinung in ein Kind verwandelt..."
"Das kann zweierlei Gründe haben," meine ich zurückhaltend. "Entweder ein Mara -böser Geist- sucht den Kontakt zu dir und will dich zur negativen Seite hinüberziehen, weil du verführbar geworden bist, da du anscheinend noch immer nicht wirklich loslassen kannst. Oder du hast doch losgelassen, gibst der bedauernswerten Li Yong Tai ihren Frieden - und sie strebt aus Liebe zu dir zurück."
"Was soll ich jetzt tun?" frage er mich nun.
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