Freitag, 22. April 2022
Lama Rinpoche -27
"Behalte sie in liebevoller Erinnerung, aber lasse sie los!" rate ich ihm eindringlich. "Gib sie frei! Bleiben deine Visionen, dann suche nach ihr. Denn was du frei gibst und es strebt aus sich heraus zu dir zurück, ist dein! Nicht jedoch das, was du nicht loslassen kannst!
Suche nach einem Kind, das zum Todeszeitpunkt gezeugt und neun Monate später geboren wurde."

"Was ist mit dem Kind, das sie unter ihrem Herzen trug?" fragt er mich.

"Es könnte direkt ins Nirwana übergegangen sein, so wie auch die Christen glauben, dass solche unschuldigen Kinder sofort ins Paradies kommen," erkläre ich ihm darauf.

Bedächtig nickend, bedankt er sich für meinen Rat.
Einige Monate nach dieser Unterredung kommt er wieder zu mir. Er erklärt mir, dass er meinem Rat gefolgt ist und die Vision sich verflüchtigt hat. Nun aber hat er sie wieder gesehen. Sie hat ein Baby im Arm getragen und ist einen Weg entlang gegangen, an dessen Rand Pflanzen wachsen, wie er sie von Hawaii kennt.

Ich ermuntere ihn jetzt:
"Dann musst du nach Hawaii reisen und dort suchen!"

Eine Woche darauf fliegt er mit einer Linienmaschine zum Kona International Airport nach Hawaii und will zuerst das dortige buddhistische Kloster aufsuchen, wie ich ihm geraten habe. Ich wünsche ihm viel Glück, wohl wissend, dass seine Suche ungleich schwieriger wird, als Lama Dorjes Suche damals. Vor allem, wie will er kleine Kinder prüfen, ob sie die Nangwa -Wiedergeburt- von Yong Tai und dem damals noch ungeborenen Kind sind?

*

Zwei Wochen nachdem Noah nach Hawaii geflogen ist, ist er wieder zurück. Das überrascht mich. Ich hätte mit einer längeren Suche gerechnet. Ich sitze gerade vor meiner Liege auf dem Boden und meditiere, als ich Bewegung in meiner Nähe wahrnehme. Also öffne ich die Augen und erkenne zwei dunkelhäutige Mädchen, etwa fünf Jahre alt. Noah steht bei ihnen und ermahnt sie gerade:

"Sit down, quiet, please."

Er selbst lässt sich seitlich von mir an den Tisch im Schneidersitz nieder. Eins der Mädchen sucht seine Nähe und lehnt sich an ihn. Das andere, exakt gleich aussehende Mädchen, wählt meine Liege als Sitzplatz. Noah berichtet mir, wie er die Mädchen gefunden hat und was er mit ihnen auf Hawaii erlebt hat. Er sagt, dass sie früher adoptionswillige Paare regelrecht vergrault haben. Er habe den Kindern im Kinderheim Spielzeug gespendet und das Souvenir aus Hongkong, den Plüschdrachen, sowie Yong Tais Lieblingspuppe hinzugetan.

Genau diese beiden Spielzeuge haben sich die Zwillinge ausgesucht und niemanden der anderen Kinder auch nur in die Nähe der Spielzeuge gelassen. Das hat zu Streit unter den Kindern geführt, so dass die Betreuer gezwungen gewesen sind, einzugreifen und die beiden Spielzeuge vorübergehend sicherzustellen. Anschließend habe er sich um eine Probewoche mit den Zwillingen bemüht, wie die adoptionswilligen Paare vor ihm auch.

Die Mädchen sind ihm gegenüber ganz anders aufgetreten, als das Personal des Kinderheims die vorangegangenen Adoptionsversuche beschrieben haben. Sie haben ihn gleich am ersten Tag von sich aus 'Daddy' genannt. Nach einer ganzen Weile, als Noah geendet hat, erheben wir uns, um zum Abendessen zu gehen. Noah erklärt das den Mädchen:

"Wir bringen euch eben zum Abendessen zu den Klosterschülerinnen. Ich gehe mit Lama Rinpoche zum Abt des Klosters, um dort mein Abendessen einzunehmen. Ich muss auch noch etwas wichtiges mit Seiner Heiligkeit besprechen. Danach hole ich euch ab und wir gehen zum Schlafen in unsere Zimmer."

"Daddy? Will you read a story before sleeping?" fragt das Mädchen, dass sich neben mir auf meiner Liege niedergelassen hat.

"Yes, I will!" verspricht er ihr.

Sie rutscht von der Liege, läuft auf ihn zu und umarmt ihn.

'So viel Vertrauen und keine Scheu, nachdem sie sich erst kurz kennen, ist bemerkenswert!' denke ich mir.

Sie folgen Noah und mir zum Speisesaal. Dort finden wir schon Klosterschülerinnen und Gelongma -Nonnen- vor. Wir erklären ihnen, dass die Mädchen heute hier speisen, und dass sie eine weite Reise hinter sich haben. Sie können kein Deutsch sprechen, aber auf Englisch wäre eine Verständigung möglich. Dann gehen wir weiter in Richtung des Thronsaals.

Nach dem Essen bleiben Noah und ich beim Khenchen Lama sitzen. Noah berichtet auch Seiner Heiligkeit von den letzten Ereignissen auf Hawaii und fragt:

"Ich möchte die Mädchen einerseits mit der asiatischen Lebensweise vertraut machen und sie eine Klosterschule besuchen lassen. Dazu, denke ich, ist das Kloster nahe Katmandu sehr geeignet. Was haltet Ihr davon?"

"Du sagst, du erkennst in Anne deine verstorbene Frau Li Yong Tai wieder - und Andrea müsste demnach die Seele deines ungeborenen Kindes beherbergen..."

"Ja, Eure Heiligkeit. Obwohl gleichaussehend, kann man beide leicht auseinanderhalten. Anne ist anlehnungsbedürftig, zurückhaltend, trotzdem neugierig. Ihr erster Griff unter all den Spielsachen galt Yong Tais Lieblingspuppe, die sie seitdem nicht mehr aus den Augen lässt. Andrea ist immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt und zieht Anne oft mit. Ihr erster Griff galt dem Stoffdrachen, den ich vor langer Zeit von meinem Vater in Hongkong geschenkt bekommen habe. Ich habe ihn Yong Tai damals beim Abschied auf Hawaii zur Erinnerung geschenkt. Andrea hat viel von meinem Charakter," erklärt Noah.

Seine Heiligkeit nickt. Er meint:
"Das Kloster nahe Katmandu, wo Lama Rinpoche seine Ausbildung begonnen hat, ist weit entfernt. Hast du schon einmal etwas über die Sakya-Schule gehört?"

"Ja, Eure Heiligkeit," antwortet er irritiert. "Im tibetischen Buddhismus gibt es vier Schulen. Eine davon ist Sakya. Anders als in den anderen Schulen, bei denen die Nangwa -Reinkarnation- des vorherigen Trülku -Oberhauptes- gesucht wird, wird dort seit der Gründung vor 900 Jahren der erstgeborene Sohn des bisherigen Trülku sein Nachfolger."

"Das heißt also, in der Sakya-Schule wird nicht so viel Wert auf die Askese gelegt. Sollte in einem Gelong die Liebe zu einer weiblichen Person in seiner Nähe entfacht werden, heiraten sie und zeugen Kinder. Die Tugenden des Mönchtums sind damit natürlich nicht außer Kraft gesetzt! Die Tugend des Mitgefühls gegenüber allen Lebewesen wurde stattdessen ausgeweitet! Warum rede ich davon? Ich kenne deinen Lebensweg, mein Bruder, und sehe Parallelen bei der Sakya-Schule. Nun gibt es in wenigen hundert Kilometern Entfernung eine Sakya-Schule. Sie liegt im Elsass, nur fünfzig Kilometer von Straßburg entfernt. Dort bist du mit den Zwillingen am besten aufgehoben. Wenn du magst, nehme ich Kontakt dorthin auf."

Noah verbeugt sich tief vor Seiner Heiligkeit und bestätigt, dass die Zwillinge dort sicher am besten aufgehoben wären. Danach erheben wir uns. Während sich Noah voller Ehrfurcht langsam rückwärts der Tür nähert, bin ich schon vorgegangen und halte sie ihm auf. Draußen frage ich Noah:

"Habt ihr schon eine Unterkunft?"

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