Sonntag, 24. April 2022
Lama Rinpoche -29
Anne, lehnt sich stumm an ihren Adoptivvater. Andrea schüttelt lächelnd den Kopf und erklärt:

"Wir werden dich immer wieder besuchen! Wenn es geht, auch zwischendurch an den Wochenenden. Ansonsten gibt es ja WhatsApp!"

Er nickt lächelnd und meint:
"Zuerst die Schule - und die Hausaufgaben! Bei Fragen bin ich natürlich wie immer für euch jederzeit zu sprechen, meine Große!"

Bei den Staatsexamina sind beide hochgradig nervös, erzählt mir Noah im Vertrauen. Dennoch erhalten sie ihre angestrebten Abschlüsse.

"Na also!" meine ich nur und lächele Noah aufmunternd zu. Er hat regelrecht mitgelitten.

Anschließend reisen die Drei durch Deutschland. Noah will den inzwischen 22jährigen Zwillingen seine Heimat zeigen und sie wie nebenbei an dem Elternhaus von Yong Tai vorbeiführen. Er ist auf Annes Reaktion gespannt, sagt er zum Reiseantritt.

Zurück von der Reise berichtet er mir von ihrer emotionalen Reaktion vor dem Elternhaus von Yong Tai, indem inzwischen andere Leute wohnen. Wir sind uns nun sicher, in Anne muss die Seele Yong Tais weiterleben.

Kurz darauf verlassen sie unser Kloster und brechen nach Hawaii auf.

*

Ein Jahr nach Noahs Abreise verstirbt Seine Heiligkeit, unser Khenchen Lama, an einer schweren Krankheit. Er legt sein Amt in meine Hände und spricht darüber auch mit den Lamas, die ihn im Krankenhaus besuchen. Dennoch muss eine Wahl erfolgen, die ich gewinne. Nun ziehe ich innerhalb unseres Klosters um, in die Wohnung des Khenchen Lama. Nach seinem Tod führe ich die Zeremonie zu seiner Einäscherung durch. Wir übergeben seine Asche anschließend den Naturelementen.

Etwa zwei Jahre später, während der US-amerikanischen Schulferien, besucht mich Noah erneut. Er ist freudig überrascht, dass ich nun der Khenchen Lama bin. Im Gespräch berichtet er mir anschließend von der erfolgreichen Gründung seiner Schule unter dem Dach einer Yong-Tai-Foundation und bittet mich gleichzeitig um einen Rat. Sie sind drei feste Lehrkräfte, er und die Zwillinge, und aus dem buddhistischen Kloster in Honolulu kommen stundenweise Gelongs zu ihnen als Aushilfe. Er bräuchte aber mindestens ein Dutzend Leute, klagt er mir.

"Ist es möglich, dass einer der Gelong dieses Klosters - ein Kungfu-Meister - Interesse daran hat, das Managen einer Foundation zu erlernen? Es gilt sozial gebundene Gelder zu verwalten und zweckgebunden auszugeben. Für den Anfang denke ich an drei Bewerber, um mir den Besten nach einem Jahr Aufenthalt auszusuchen. Die beiden anderen bekämen ein Zertifikat mit nach Deutschland zurück.
Auch könnten sich Klosterschülerinnen gerne bei uns bewerben, wenn sie sich die Arbeit mit Kindern vorstellen können. Sie könnten bei uns ein einjähriges Praktikum machen, für das sie ebenfalls ein Zertifikat bekommen würden. Wenn sie dann in Deutschland zurück sind und eine Ausbildung in diesem Bereich anschließen, können sie sich danach gerne ebenfalls bei uns bewerben, um eine unbefristete Anstellung zu finden," bietet Noah an.

Ich lade ihn ein, zum Essen zu bleiben und dabei das Thema bei den Gelong -Mönchen- im Kloster anzusprechen. Ihm gefällt die Idee und er bedankt sich, indem er sich vor mir verbeugt und die gefalteten Hände an sein Kinn hebt, sicher aus Respekt vor dem Amt, das ich jetzt bekleide. Denn nun erhebt er sich und entfernt sich langsam rückwärtsgehend.

Er geht zum Speisesaal und setzt sich auf den Platz des Vorlesers, wie ich beim Eintreten feststelle. Von dort werden den Mönchen während des Essens uralte buddhistische Texte vorgelesen. Ich erhebe mich ebenfalls, nachdem er meine Wohnung verlassen hat und gehe zur Gästewohnung seiner Eminenz Lama Khön Gyana. Es ist der jüngere Bruder Seiner Heiligkeit des Trülku der Sakya-Schule aus Weiterswiller. Zufällig weilt er zurzeit in unserem Kloster. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Speisesaal der Gelong -Mönche-. Als wir eintreffen referiert Lama Kyobpa gerade über sein Thema:

"...Aber was ist den Buddhisten, ganz besonders den Mönchen erlaubt? Die Selbstlosigkeit, das Mitgefühl und Eintreten für den Schwächeren sind uns ausdrücklich geboten. Als zentralen Punkt sehe ich hier das Mitgefühl, welches ich als bedingungslose Liebe definieren würde. Liebe zur Natur, zu den Geschöpfen des Himmels, der Erde und des Wassers, ist das Wesentlichste im Leben der Mönche."

Noahs Augen werden bei unserem Eintritt groß. Seine Eminenz und Lama Kyobpa kennen sich, weil Noah zehn Jahre in Weiterwiller gelebt hat. Wir suchen uns einen Platz und werden sogleich von einem Klosterschüler bedient. Nachdem Lama Kyobpa geendet hat, hebt Seine Eminenz zu sprechen an:

"Liebe Brüder," sagt er. "Ihr wisst, dass uns Abhängigkeit verboten ist, sowie auch persönlicher Besitz. Das Wesentlichste im Leben eines Mönches ist aber die Selbstlosigkeit, das Eintreten für den Schwächeren. Dabei würde ich das Mitgefühl herausstreichen, welches ich als bedingungslose Liebe definieren würde. Liebe zur Natur, zu den Geschöpfen des Himmels, der Erde und des Wassers - und natürlich zu einer nahestehenden Person, die ich kenne. Man kann also sagen, dass wir zur Liebe ermutigt werden."

Damit befeuert er eine Debatte, denn die Meisten der anwesenden Gelong halten die Askese für die zentrale Tugend des Mönchtums. Bald stellt sich heraus, welche Gelong offen sind für eine Beziehung.

Mit diesen Gelong führt Lama Kyobpa in den folgenden Tagen Einzelgespräche. Nach zwei Wochen präsentiert er mir zwei Kandidaten für die Position des Managers der Yong-Tai-Foundations. Seine Eminenz Lama Khön Gyana kommt ebenfalls mit. Er zeigt ebenfalls Interesse.

Bei einem Skype-Kontakt, ein Jahr später, berichtet mir Lama Kyobpa, dass er die Gelong zu Lamas geweiht hat und mit den versprochenen Zertifikaten nach Deutschland zurücksendet. Auch ein Teil der Klosterschüler kommt mit nachhause. Dafür sollen andere Klosterschüler mit Interesse zu ihm fliegen. Was er mir zu seiner Eminenz Lama Khön Gyana und Andrea zu berichten weiß, entlockt mir ein jungenhaftes Lächeln. Ich bemerke dazu:

"Ich habe mir gedacht, dass eure Entscheidung diese Richtung nimmt, und wünsche Lama Khön Gyana mit Gelongma Andrea alles Gute für ihre gemeinsame Zukunft. Ich freue mich, dass ein weiteres Mitglied der Khön-Familie bald eine erfüllende Aufgabe bekommt."

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