Mittwoch, 27. April 2022
Lama Rinpoche -32
Thaye schaut seine Tante und mich jetzt unsicher an. Ich hocke mich neben ihn, um zu Thaye auf Augenhöhe zu sein und erkläre dem Jungen:

"Du wirst in den kommenden Jahren in der Schule in Weiterswiller noch einiges über die Nangwa -Manifestation, Wiedergeburt- lernen. Für jetzt nur so viel: Du hast schon als Kleinkind mehr Interesse für den Stoffdrachen gezeigt, als für jedes andere Spielzeug. Du hast ihn zuletzt Tante Anne geschenkt, damit er auf sie aufpasst, während ihr getrennt seid. - Der Stoffdrachen hatte ursprünglich einmal deinem Großvater gehört, dem ehrwürdigen Lama Kyobpa, als dieser noch ein kleiner Junge war und Noah Mann hieß. Dieser kleine Junge hatte eine Spielgefährtin, die Yong Tai hieß. Als die beiden sich trennen mussten, hat dein Großvater den Drachen Yong Tai als Erinnerung geschenkt. Später wurde dein Großvater mein Schüler und brauchte im Kloster natürlich auch eine Reisschale. Als er älter wurde, wurde er zuerst zum Gelong -Mönch- und später zum Lama geweiht. Seitdem durfte er auch einen eigenen Mönchshut tragen. Nun hast du spontan Schale und Hut deines Großvaters aus je vier Möglichkeiten gewählt. Daraus entnehmen wir, dass in dir mein ehemaliger Schüler Noah Mann und späterer Lama Kyobpa weiterlebt. Das ist insoweit bemerkenswert, da du von klein auf einen besonderen Draht zu Tante Anne hast. Tante Anne gilt als Nangwa von Yong Tai, der großen Liebe Noahs."

Ich rufe meinen Sekretär herbei und bitte ihn:

"Würdest du Thaye zu den anderen Kindern in den Innenhof bringen, mein Bruder? Und habe dort ein Auge auf ihn! Ich muss noch etwas mit der verehrten Schwester besprechen."

Während die Beiden den Raum verlassen, erhebe ich mich und wende mich Anne zu:

"Meine Schwester, nun weißt du, dass Lama Kyobpa nicht von dir lassen kann. Die Liebe ist das stärkste Gefühl im Universum! Was gedenkst du zu tun?"

Sie schaut mir direkt in die Augen. In ihr ist wohl ein Entschluss gereift.

"Darf ich um höchste Diskretion bitten?" bittet sie mich.

Ich nicke mit ernstem Gesicht und antworte:
"Natürlich, meine Tochter!"

"Daddy hat mich vor seinem Weggang in der tiefen Meditation unterrichtet. Würde ich den gleichen Weg wählen wie Daddy, müsste ich aber meine geliebte Schwester Andrea zurücklassen."

"Du willst wiedergeboren werden, um dann an der Seite Thayes die Foundation in dritter Generation zu leiten?" frage ich erstaunt.

Sie nickt mir fest entschlossen zu.

"Überlege dir dein Handeln gut, meine Tochter! Du könntest als Thayes Patentante ihn sein Leben lang stützen und seine Vertraute sein."

"Sobald Thaye heiratet bin ich an der dritten oder vierten Stelle seiner vertrauten Personen," gibt sie zu Bedenken.

"Die Yong Tai in dir möchte mit Noah in ihm alt werden! Egoismus ist eine schlechte Angewohnheit, meine Tochter!" erkläre ich ihr.

"Aber warum hat Daddy mich sonst in der tiefen Meditation unterwiesen vor seinem Weggang?" hält sie dagegen. "Er möchte es sicher auch!"

"Dann wähle Ort und Zeitpunkt gut, meine Tochter! Ich wünsche dir viel Glück! Erleben werde ich es wohl nicht mehr!"

Ich ziehe sie mit mir hinüber in meine Räume und nehme eine kleine goldene Karaffe vom Regal. Dann gieße ich ein paar Tropfen heiliges Wasser auf ihre Stirn.

"Ich segne dich, meine Tochter!" sage ich dazu.

Sie fällt ergriffen vor mir auf die Knie und küsst meine Hand.

"Nun wollen wir nach Thaye sehen," meine ich, helfe ihr auf und begleite sie hinunter in den Innenhof.

Wir verabschieden uns herzlich voneinander. Vielleicht ist dieses Treffen wirklich das letzte Mal, an dem wir uns noch lebend sehen. Wenn Thaye seine Schulabschlussfeier hat, wäre ich schon über 90.

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