Donnerstag, 19. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 11
"Das ist meine Aufgabe als Guru," antworte ich meinem Shishy -Schüler-. "Ohne zu werten gehe ich auf die Menschen zu und helfe dem, der Hilfe braucht, weil er vor sich einen Berg des Schicksals erblickt und darüber mutlos wird. Wenn Buddhas Lehren dein Leben bestimmen, begegnest du deinen Mitmenschen auch mit dem richtigen Mitgefühl und liebevoller Zugewandtheit.
Auch deine eigene Erfahrung trägt zu der Motivation bei, deinen Mitmenschen helfen zu wollen. Wenn du deine Erfahrungen zur Grundlage deines Handelns machst, wirst du bemerken, dass wir als Menschen für andere Menschen mitverantwortlich sind. Das gibt unserem Leben einen Sinn. Deine Erfahrungen zeigen dir auch, dass du manchmal Fehler machst, aber aus ihnen lernen kannst. Das macht dir Mut. Statt zu fragen, was Buddha uns lehren kann in bestimmten Lebenssituationen, fragen wir besser: Was kann die Wirklichkeit uns lehren? Buddha hilft uns nur dabei, die Realität zu unserem Lehrer zu machen."

"Wir sind bisher immer auf wohlmeinende Menschen gestoßen," beginnt Amal nach einer Weile von Neuem. "Was, wenn uns plötzlich Menschen mit Waffen bedrohen?"

"Ihnen dürfen wir nicht anders gegenübertreten, Amal. Du darfst dich nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen, weder aus Angst, noch vor Zorn. Hüte dich auch vor der Aggressivität! Diese drei Gefühle nehmen schnell von dir Besitz! Du musst sie unbedingt bekämpfen!"

"Sind diese Gefühle denn so stark?" fragt er, leicht verunsichert.

"Nein, aber sie sind verführerischer. Nur wenn man Ruhe bewahrt, erkennt man die Unterschiede zwischen Yin und Yang. Nur wenn man den inneren Frieden bewahrt, kann man ihn auch nach außen tragen!"

"Aber wenn sich der Mensch in Waffen davon nicht beeindrucken lässt?" setzt Amal nach.

"Das weißt du erst, wenn dein Gegenüber angreift. Du darfst dich nur verteidigen, Amal! Wenn dein Gegenüber dich mit Heimtücke in Sicherheit wiegt, und einen unbedachten Augenblick nutzt, dich zu töten, bedenke: Der Tod ist nicht das Ende! Auch deine Eltern sind nach ihrem Tod wiedergeboren worden."

"Was ist aber, wenn ich zufällig miterlebe, dass böse Menschen in ein Dorf einfallen, die Bauern berauben und töten wollen?"

"Können sich diese Menschen nicht wehren, darfst du eingreifen, Amal. Aber hüte dich dabei vor den schlechten Gefühlen! Sie machen dich blind. Bleibe rational und überlege dir eine Taktik, wie du am ehesten Erfolg hast. Behalte also den Überblick, statt dich auf eine Sache zu konzentrieren."

"Gut," meint der Junge. "Aber wie könnte ich in dieser Situation helfen, ohne bei meinem Auftritt sofort getötet zu werden. Damit wäre den Bauern auch nicht geholfen..."

Ich lächele.

"Zwei Wege," sage ich. Amal schaut mich aufmerksam an. "Du hast mich schon oft auf dem Boden sitzen und mit geschlossenen Augen nachdenken gesehen. Das mache ich, um äußere Einflüsse weitestgehend auszuschließen. Dann horche ich in mich hinein, um alsbald zu wissen, wie ich am besten vorgehe."

"Und der andere Weg?" lässt Amal nun nicht locker.

"Die waffenlose Selbstverteidigung! Unsere Vorfahren haben unsere Brüder in der Wildnis beobachtet und Bewegungsfolgen erarbeitet, die uns helfen, unsere Gegner ohne Waffen zu besiegen. Diese Selbstverteidigung nennt man Kalaripayattu."

"Kannst du mir beides lehren, Paramapaavan -deine Heiligkeit-?"

"Ich will es gerne versuchen," erwidere ich ihm.

Dies ist der Beginn eines jahrelangen Trainings in Meditation, sowie in der Selbstverteidigung. Ich führe das Training immer durch, wenn ich mit ihm in der Natur alleine bin, nicht wenn wir in einem Dorf unter Menschen sind.

Allmählich kann ich verstehen, warum mein alter Lehrer nicht mehr als einen Shishy -Schüler- gleichzeitig gewollt hat.

Treffen wir auf unseren Pfaden auf Städte, umgehen wir sie, denn dort würden wir am ehesten auf bewaffnete Menschen treffen, und ich trage die Verantwortung für meinen Shishy.

*

Wir wandern jetzt ein Dutzend Jahre von Dorf zu Dorf. Dort erzählen wir den Menschen von Siddharta und wer will, erfährt auch mehr. Ich spreche dann über 'Die vier edlen Wahrheiten Buddhas'.

Irgendeiner lädt uns danach immer ein, in seinem Haus zu speisen und zu nächtigen. Zumeist ist das mit der Bitte verbunden, ihm bei einem gesundheitlichen oder zwischenmenschlichen Problem zu helfen.

Ich bin gewohnt, dass die Menschen immer nur so viel Nahrung erzeugen, wie die Dorfgemeinschaft auch verbraucht. Nun kommen wir in eine Gegend, in der die Bauern, Viehzüchter und Fischer viel mehr erzeugen und den Überschuss in Leinensäcke verpacken und auf Wagen laden.

Auf meine Frage, wohin sie die Säcke verkaufen, wird mir geantwortet:

"Ehrenwerter Herr, das sind unsere Steuern, die wir Shahar Mandir -Stadt Tempel- schulden. Von Zeit zu Zeit kommen Saadhu -Mönche- in Begleitung von Soldaten und laden die Steuern auf große Wagen."

"Oh," mache ich erstaunt und fordere den Mann auf, sich zu setzen und mir mehr davon zu erzählen.

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