Freitag, 4. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -11
Als ich das vernehme, schießen mir Tränen in die Augen und laufen die Wangen hinunter. Ich kann nicht anders, als mich platt auf den Boden zu werfen. Meine Schultern zucken durch das Weinen, mein Körper fühlt sich kraftlos an. Gleichzeitig durchströmt mich ein starkes Glücksgefühl. Der junge Lama erhebt sich nun und nähert sich mir, um mich sanft an den Schultern anzuheben. Während ich mich bei ihm anlehne, trocknet er mir die Tränen.

"Berichte deinen ehrenwerten Eltern von der Unterredung und dass dein ehrenwerter Vater baldmöglichst das Kloster aufsuchen soll," sagt er mit leiser sanfter Stimme.

Ich bin so froh! Am liebsten wäre ich ihm in westlicher Manier um den Hals gefallen. Ich habe mich erkundigt und erfahren, dass er Lama Rinpoche -der Wertvolle- heißt. Ich mag ihn sehr!

Mich erhebend, verlasse ich rückwärtsgehend mit vielen Verbeugungen den Raum.

*

Noah möchte sich beweisen und hat mich, Dennis, gefragt, ob wir Kungfu-Wettkämpfe unter Gleichaltrigen in Nepal kennen. Natürlich lassen wir in Nepal unsere Schüler zu Trainingszwecken gegeneinander antreten und geben verschiedenfarbige Gürtel als Auszeichnung. Richtige Wettkämpfe sind das jedoch nicht.

Kommerzielle Kungfu-Schulen veranstalten allerdings Wettkämpfe zwischen den Schulen. Dabei wird aber die buddhistische Philosophie eher vernachlässigt zugunsten des Wettkampfgedankens.

Mir kommt da eine Idee, über die ich mit Noahs Vater sprechen muss. Als Noah wieder einmal mit seinem Vater ins Kloster kommt und ein Gelong mit ihm Kraft- und Reaktionstraining macht, spreche ich den Vater darauf an:

"Herr Mann, waren Sie schon einmal in Hongkong?"

"Nein," meint er und macht ein verständnisloses Gesicht. "Wieso?"

"Hongkong ist eine Mehrmillionenstadt, wie zum Beispiel auch New York. Sie liegt an der chinesischen Pazifikküste und war früher britisches Mandatsgebiet. Als die Briten sich zurückzogen, wurde Hongkong ein selbstverwalteter Stadtstadt. Heute ist die Stadt eine chinesische Sonderverwaltungszone, weitgehend selbständig, aber unter starkem chinesischem Einfluss.
Himmelstrebende Hochhäuser gibt es dort und auch traditionelle Architektur. Sie hat grüne Parks, von denen zwei auch für die Touristik interessant sind...
Ich frage, weil Noah mir mit einer Asienreise in den Ohren liegt."

"Ich weiß," antwortet sein Vater und schaut mich zweifelnd an. "Er möchte Land und Leute kennenlernen und auch an einem Wettkampf teilnehmen..."

"Ich bin gegen einen Wettkampf, nur um des Wettkampfes Willen. Ich möchte ihm beibringen, dass Kungfu eine Lebenseinstellung ist und dem Frieden dient. Wir werden angehalten für alle Geschöpfe Mitgefühl zu empfinden, selbstlos für den Schwächeren einzutreten. Sie könnten mir dabei helfen!"

Herr Mann kräuselt die Stirn:
"Wie kann ich Ihnen dabei helfen, Herr Bäcker?"

Ich schenke ihm reinen Wein ein und erkläre:
"Ich stehe vor einer Reise nach Hongkong, um zwei ehrenwerte alte Herrschaften heraus zu holen, die Großeltern einer unserer Schülerinnen. Bisher ist geplant, dass ich in Zivil reise - ein Lama würde sofort verhaftet, zumindest aber beschattet - und die Schülerin als Kontaktperson mitnehme.
Noch unauffälliger wäre es, wenn ich als ihr Neffe reise. Also, wenn Sie und ihr Sohn einen Urlaub von wenigen Tagen dort verbringen und ich sie als ihr Neffe begleite. Unsere Schülerin macht dann die Hostess, die Gästebetreuerin."

"Das muss ich aber erst einmal mit meiner Frau besprechen!" entscheidet Herr Mann. "Da ist noch die Kostenfrage!"

"Natürlich!" gebe ich ihm Recht. "Das Kloster bucht eine Pauschalreise für alle beteiligten Personen, Flug, Hotel und Verpflegung inklusive!"

*

Einen Monat später sitzen wir im Flugzeug von Frankfurt über Dubai nach Hongkong, ein 20stündiger Flug. Noah hat viel geschlafen, während ich mich die meiste Zeit im Meditieren geübt habe. Nach der Landung und dem Auschecken im Flughafen, lassen wir uns von einem der Cabs ins Hotel fahren.

Wir haben im 43.Stockwerk drei Zimmer mit Zwischentüren gebucht und beziehen sie kurz nach unserer Ankunft. Noah ist ganz außer sich vor Aufregung und klebt mit der Nase an den wandhohen Fensterscheiben aus Sicherheitsglas.

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Donnerstag, 3. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -10
"Hab Dank, meine Tochter," kommentiert er meine Aktion.

Die Mimo, die bisher geschwiegen hat, ergreift nun das Wort:

"Dies ist Yong Tai, eine meiner Schülerinnen. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Ich denke, du solltest dir einmal anhören, was sie zu sagen hat."

Der ehrwürdige Lama schaut mich interessiert an.
Zunächst schaue ich wieder zu Boden, drehe mich etwas und verbeuge mich noch einmal in seine Richtung.

"Nun, Yong Tai?" ermuntert er mich mit seiner sanften Stimme.

Ich atme ein und beginne:
"Die ehrwürdige Mimo -Frau, Mutter- hat mich ermuntert, offen über das Schicksal meiner Familie zu sprechen, ehrwürdiger Lama."

"Ja?" fragt er.

"Es ist so, dass meine ehrenwerten Großeltern in unserer früheren Heimat Hongkong zurzeit unter Druck gesetzt werden, damit mein ehrenwerter Vater mit seiner Familie zurückkehrt. Dort droht ihm aber die Verhaftung, und meiner ehrenwerten Mutter und mir das Umerziehungslager.
Meine ehrenwerten Eltern sind mit mir vor etwa 14 Jahren nach Deutschland gekommen, weil der ehrenwerte Vater in der Heimat gegen die Chinesen und deren Einfluss in Hongkong demonstriert hat und deshalb von den Chinesen schon einmal verhaftet worden ist.
Nun liegen unsere Hoffnungen hier im Kloster."

Der Lama greift über den Tisch, nimmt meine Hand und bedeckt sie mit seiner anderen Hand. Spontan beuge ich mich vor und berühre seinen Handrücken mit meiner Stirn. Ich frage:

"Ist es möglich, meine ehrenwerten Großeltern aus Hongkong herauszuholen, um ihnen hier einen Lebensabend in Freiheit und ohne Repressalien zu gönnen?"

Der Lama nickt lächelnd und fragt zurück:
"Gibt es sonst noch Verwandte in Hongkong, in anderen Städten oder in Taiwan?"

"Die ehrenwerten Großeltern durften nur ein Kind haben. Sie sind vor Jahrzehnten aus der Provinz nach Hongkong gereist und geblieben, weil es dort Arbeit für sie gab."

"Ah, ihr habt schon eine Odysee hinter euch," kommentiert er meine Erklärung. "Ich werde Seiner Heiligkeit deine Geschichte vortragen! Gemeinsam werden wir eine Lösung finden!"

Vor Freude verbeuge ich mich noch einmal neben dem Tisch bis meine Stirn wieder den Boden berührt. Anschließend schickt mich die Mimo auf mein Zimmer. Vor Erleichterung habe ich das Gefühl, den Weg dorthin schwebend zurückzulegen. Mir ist so leicht zumute.

Am nächsten Morgen erscheint nach dem Frühstück ein Gelong -Mönch- in dem Unterweisungsraum, in dem eine Gelongma uns die buddhistische Philosophie lehrt. Er geht an der Zimmerwand entlang auf die Gelongma -Nonne- zu und flüstert mit ihr. Danach schauen beide zu mir herüber. Die Gelongma hebt die Hand mit nach oben gerichteter Handfläche schwungvoll. Ich erhebe mich und suche meinen Weg in Richtung Tür, möglichst ohne die anderen Schülerinnen zu stören. Der Gelong nimmt den gleichen Weg, den er gekommen ist, und spricht mich an der Tür an:

"Seine Heiligkeit wünscht die Schülerin Li Yong Tai zu sprechen."

Ich nicke und hebe die gefalteten Hände an das Kinn.

"Ich bin bereit!" antworte ich und folge dem Gelong durch die Gänge.

Als wir den Thronsaal erreicht haben und der Gelong mir bedeutet, ihm hinein zu folgen, falle ich nach dem Eintreten auf die Knie und verbeuge mich ehrfurchtvoll in Richtung des Mannes auf dem Thron.

"Komm näher, meine Tochter!" fordert Seine Heiligkeit mich mit sanfter mitfühlender Stimme auf.

Ich wage es nicht mich zu erheben, so sehr hält mich die Situation gefangen. Daher rutsche ich auf Knien näher, immer wieder den Boden mit der Stirn berührend.

"Berichte mir vom Schicksal deiner ehrenwerten Familie," ermuntert mich Seine Heiligkeit.

Ich wiederhole, was ich am Vorabend dem jetzt ebenfalls anwesenden Lama schon berichtet habe.

"Kennst du den Weg vom Flughafen zur Adresse deiner ehrenwerten Großeltern?" fragt Seine Heiligkeit, nachdem ich geendet habe.

Ich schüttele traurig den Kopf. Die ganze Zeit wage ich es nicht, den Blick zu heben.

"Aber deine ehrenwerten Eltern haben die Adresse?"

Ich nicke eifrig und hebe die gefalteten Hände an meine Lippen.

"Wir werden deiner ehrenwerten Familie helfen!" kündigt Seine Heiligkeit mir an. "Dafür muss ich aber mit deinem ehrenwerten Vater sprechen! Ist es möglich, dass er das Kloster in Kürze aufsucht?"

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Mittwoch, 2. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -09
--Li Yong Tai--

Mein Name ist Li Yong Tai. Meine ehrenwerten Eltern sind mit mir aus Hongkong geflüchtet, als ich gerade zwei Jahre alt gewesen bin, und haben hier in Deutschland eine zweite Heimat gefunden. Hier können wir ohne Angst vor dem großen Feind leben.

Seit Großbritannien seine Kronkolonie an China zurückgegeben hat, sind die Menschen dort nicht sicher, die für die Einhaltung der Menschenrechte auf die Straße gehen. So ist es auch meinem ehrenwerten Vater ergangen. Er ist verhaftet worden und erst nach Zahlung einer Kaution freigekommen. Ohne das Geld hätte ihm die Verbringung nach China in ein 'Umerziehungslager' gedroht.

Damit das bei einer erneuten Verhaftung nicht geschieht, hat er die Flucht gewählt. Von meinen ehrenwerten Großeltern weiß ich daher nur aus den Erzählungen meiner Eltern.

Da der Schulunterricht in Deutschland unsere Religion, den Buddhismus, nur am Rande berührt, hat mein ehrwürdiger Vater Erkundigungen eingezogen und mir nach meinem Schulabschluss einen Platz in der einzigen buddhistischen Klosterschule in Deutschland gesichert.

Ein Jahr bin ich schon dort, als eine deutsche Nonne -Gelongma- mit Namen Vanessa Nähkurse zu geben beginnt. Das interessiert mich. In den Gesprächen untereinander höre ich, dass sie vorher zehn Jahre lang mit ihrem Sohn in einem Kloster in Nepal gelebt hat. Ihr Sohn ist zum Lama geweiht worden, bevor sie nach Deutschland zurückgekommen sind.

Ich melde mich neben dem Studium der buddhistischen Philosophie zu ihren Nähkursen an, nachdem mein ehrenwerter Vater telefonisch sein Einverständnis erklärt hat. Vielleicht kann ich das Arbeiten mit der Nähmaschine später gebrauchen. Bald merke ich, dass mir das Schneidern allgemein Spaß macht.

Einige Monate später höre ich während der Ferien zuhause zufällig in einem Gespräch, dass meine ehrenwerten Großeltern von den Behörden in Hongkong schikaniert werden, obwohl sie ein unauffälliges Leben führen. Ich verbeuge mich tief vor meinem ehrenwerten Vater und frage ihn:

"Ehrenwerter Vater, darf ich einen Vorschlag machen?"

Der Vater unterbricht sein Gespräch mit erstaunter Miene. Mein Verhalten ihm gegenüber ist doch eher europäisch zu nennen. Dennoch erlaubt er mir, meine Gedanken auszusprechen. Ich verbeuge mich tief vor ihm und frage:

"Erlaubt mir der ehrenwerte Vater, dass ich mit unserer Geschichte zu meiner Gelongma gehen darf, mit der Bitte zu fragen, ob die Mönche -Gelong- im Kloster dort eine Problemlösung wissen?"

Mein ehrenwerter Vater denkt nach und nickt dann. Er legt mir seine Hand auf die Schulter und sagt:

"Wir müssen leider nach jedem Strohhalm greifen, der sich bietet. Schaden kann es jedenfalls nichts, wenn du das Thema in der Klosterschule ansprichst, liebe Tochter!"

*

Zurück im Kloster nach den Ferien, brauche ich einige Tage, um Mut zu fassen. Ich warte, bis sich die Gelegenheit ergibt, die Gelongma unter vier Augen zu sprechen. Nun öffne ich mich ihr vertrauensvoll. Sie hört mir aufmerksam zu und sagt anschließend, ich solle erst einmal wieder an meine Arbeit gehen. Heute Abend nach dem gemeinsamen Abendessen soll ich sie dann in ihrem Zimmer besuchen.

Beschwingt gehe ich wieder an den Zuschneide-Tisch zurück, wo ich im Augenblick beschäftigt bin. Wie vereinbart, gehe ich später vom Speisesaal aus zu Gelongma -Nonne- Vanessas Zimmer. Sie kocht gerade Tee und will drei Gedecke auf den Couchtisch stellen. Also erwartet sie noch einen Gast. Ich verbeuge mich und frage:

"Verehrte Mimo, darf ich das Eindecken übernehmen?"

Sie erlaubt es. Wenig später klopft es an der Zimmertür. Die Mimo -Frau/Mutter (hier als ehrenvoller Titel gebraucht)- geht zur Tür und öffnet. Herein tritt ein Lama, was ich am safrangelben Gewand unter dem weinroten Mantel erkenne. Sofort beuge ich mich derart in seine Richtung, dass meine Stirn fast den Boden berührt. Anschließend drehe ich den Kopf ein wenig und schaue neugierig zu dem ehrwürdigen Lama hoch.

Er hat, wie die Mimo, keine asiatischen Gesichtszüge. In diesem Moment streckt er mir seine Hand entgegen, die Handfläche nach oben gerichtet und hebt sie leicht an. Dabei sagt er mit sanfter Stimme:

"Erhebe dich, meine Tochter!"

Ich komme in aufrecht kniende Stellung hoch und erkenne dabei, dass der ehrwürdige Lama nur wenig älter als ich sein kann.

Er lässt sich am Tisch nieder und ich setze mich wieder auf meine Fersen. Dabei schaue ich schüchtern vor mich hin. Eine Sekunde vergeht vielleicht, dann besinne ich mich wieder meines Auftrages und ergreife die Teekanne auf dem Tisch, um für den ehrwürdigen Lama eine Teezeremonie zu gestalten, wie ich sie oft bei meiner ehrenwerten Mutter gesehen habe, wenn die Familie hohe Gäste bewirtet. Der ehrwürdige Lama lässt mich gewähren, hebt die gefalteten Hände an sein Kinn und verbeugt sich, dankbar lächelnd.

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