Sonntag, 6. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -41
Seine Heiligkeit lädt mich ein, zum Essen zu bleiben und dabei das Thema bei den Gelong -Mönchen- im Kloster anzusprechen. Ich bedanke mich, indem ich mich verbeuge und die gefalteten Hände hebe. Danach erhebe ich mich und entferne mich langsam ehrfürchtig rückwärtsgehend.

Wo der Speisesaal der Gelong ist, weiß ich ebenfalls. Ich gehe dorthin und setze mich an den Platz des Vorlesers. Der Gelong, der diese Funktion während des Essens übernimmt, rezitiert alte buddhistische Texte und Gebete. Heute werde ich diese Funktion übernehmen. Jetzt nehme ich die Haltung zum Meditieren ein und lasse meinen Geist fliegen, bis die Essenszeit heranrückt.

Bald kommt ein Gelong nach dem Anderen in den Speisesaal. Als einer der Männer sich mir nähert, öffne ich die Augen und lächele ihn an. Ich sage:

"Setze dich zu den Anderen, Bruder. Heute will ich euch rezitieren."

Er neigt den Kopf und geht zu einem freien Platz an den Tischen. Kurz darauf sind alle Plätze belegt und Klosterschüler bringen Schüsseln mit Lebensmitteln herein. Ich ziehe den Stapel der Holztäfelchen näher zu mir heran und beginne mit dem Vorlesen.

Auch ich fülle bald meine Schale und beginne langsam zu essen. Immer wieder unterbreche ich mich, um ein weiteres Täfelchen vorzulesen. Ein Gelong nach dem Anderen ist fertig und sitzt nur noch an seinem Platz, um mir zu lauschen. Natürlich erwarten sie von mir mehr als nur das Rezitieren alter Texte.

Ich erfülle ihre Erwartungen, indem ich beginne, über mein zentrales Thema zu referieren.

"Ihr kennt unsere Tugenden, Brüder! Uns ist verboten, uns abhängig zu machen und persönlichen Besitz anzuhäufen. Die ersten Mönche in der Geschichte des Buddhismus sind umhergezogen. Sie wurden von den Gläubigen versorgt. Damit sie die kalte Jahreszeit überstehen, hat man ihnen zuerst transportable, später feste Unterkünfte geschaffen. Daraus sind die Klöster entstanden.
Aber was ist den Buddhisten, ganz besonders den Mönchen erlaubt? Die Selbstlosigkeit, das Mitgefühl und Eintreten für den Schwächeren sind uns ausdrücklich geboten. Als zentralen Punkt sehe ich hier das Mitgefühl, welches ich als bedingungslose Liebe definieren würde. Liebe zur Natur, zu den Geschöpfen des Himmels, der Erde und des Wassers, ist das Wesentlichste im Leben der Mönche."

Es entsteht daraufhin eine lebhafte Debatte bei der sich traditionsgemäß der Argumentierende erhebt und sein Argument durch Händeklatschen abschließt. Ich schiebe die Debatte allmählich durch Einwürfe in Richtung Askese kontra Mitgefühl/Liebe zu nahestehenden Personen und merke bald, wer voll hinter der mönchischen Askese steht und wer offen ist für Beziehungen.

Leise öffnet sich die Tür des Speisesaals. Meine Augen werden groß, als ich Seine Heiligkeit Khenchen Lama Rinpoche in Begleitung Seiner Eminenz Lama Khön Gyana eintreten sehe.

Beide hochgestellten Lehrer setzen sich alsbald. Die Debatte ist bei ihrem Eintritt eingeschlafen. Nun wird sie von Lama Khön Gyana wieder angefacht, dem hohen Würdenträger der Sakya-Schule. Ich habe nicht gewusst, dass er aus Weiterswiller im Elsaß gerade jetzt hier weilt.

"Liebe Brüder," hebt seine Eminenz an. "Ihr wißt, dass uns Abhängigkeit verboten ist, sowie auch persönlicher Besitz. Das Wesentlichste im Leben eines Mönches ist aber die Selbstlosigkeit, das Eintreten für den Schwächeren. Dabei würde ich das Mitgefühl herausstreichen, welches ich als bedingungslose Liebe definieren würde. Liebe zur Natur, zu den Geschöpfen des Himmels, der Erde und des Wassers - und natürlich zu einer nahestehenden Person, die ich kenne. Man kann also sagen, dass wir zur Liebe ermutigt werden."

Damit befeuert er die Debatte, denn die Meisten der anwesenden Gelong halten die Askese für die zentrale Tugend des Mönchtums. Bald stellt sich heraus, welche Gelong offen sind für eine Beziehung.

Mit diesen Gelong führe ich in den folgenden Tagen Einzelgespräche. Nach zwei Wochen habe ich zwei Kandidaten für die Position des Managers der Yong-Tai-Foundations ausgewählt. Wir wollen ihnen auf Hawaii das Verwalten sozial gebundener Gelder beibringen. Seine Eminenz Lama Khön Gyana kommt ebenfalls mit.

Dass sich ausgerechnet der Bruder des Trülku für Hawaii interessiert, ehrt mich sehr, weckt aber auch eine gewisse Erwartungshaltung. Es wäre schön, wenn er und Andrea zueinander finden würden. Da man Gefühle aber nicht steuern kann, muss ich die interessierten Gelong aus Khenchen Lama Rinpoches Kloster und Seine Eminenz Lama Khön Gyana gleichbehandeln.

Ich darf ihn bei allem Respekt nicht bevorzugen, damit Andrea eine echte Wahlmöglichkeit anhand der Charaktere und der Zuneigung erhält. Ob nun Andrea und einer der Drei Zuneigung zueinander entwickeln, wird sich in den nächsten zwölf Monaten zeigen.

*

Ich fliege schließlich mit Seiner Eminenz und den beiden Gelong, sowie einem Dutzend Klosterschüler und -schülerinnen, die gerne in einem Internat arbeiten möchten, drei Wochen nach meiner Ankunft in Deutschland nach Honolulu zurück. Die jungen Leute sind zwischen 17 und 20 Jahre alt und entweder von ihren Familien zwischen Schule und Ausbildung für den Besuch der Klosterschule begeistert worden oder Absolventen des Bundesfreiwilligendienstes.

Sie werden im Küchen- und Zimmerdienst eingesetzt, sowie bei der Hausaufgabenbetreuung und ähnlichen Diensten, auch im Sanitätsdienst. Die Gelong rotieren als Sportlehrer und in der Verwaltung des Hauses, damit sie überall hineinschauen und einen Überblick erhalten können.

Lama Khön Gyana ist schon ein besonderer Mensch: Unser Kloster in Deutschland hat früher des Öfteren Besuch von Seiner Heiligkeit Khön Dhungsay bekommen. Dieser ehrwürdige Lama lehrt die Gelong und debattiert nach buddhistischer Tradition mit ihnen.
Seine Heiligkeit Khön Dhungsay ist der direkte Nachfahre des Gründers des Klosters in Sakya -graue Erde-. Seine Eltern, Großeltern... waren alle Vorsteher der Schule und heirateten, um einen Nachfolger zu zeugen. Er gehört zur Khön-Familie, die seit dem Jahr 1073 stets die Führer der Sakya-Schule stellt.

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Samstag, 5. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -40
"Liebster Daddy," mischt sich Anne nun ein. "Lass uns nicht von Beginn an festlegen! Reden wir darüber noch einmal, wenn irgendwann der Zeitpunkt gekommen ist. Vielleicht lässt sich ja wirklich beides unter einen Hut bringen..."

Ich gebe mich fürs Erste geschlagen. Die angedachte Foundation mit Leben füllen, muss sowieso die Generation meiner Zwillinge. Ich lege beiden meine Arme auf ihre Schultern und ziehe sie an mich heran.

*

Der Architekt hat mit einem Quadrocopter Luftbildaufnahmen gemacht, um mit einem CAD-Programm den alten Grundriss nachzeichnen zu können. Dann hat er die Bausubstanz begutachtet. Er hat das Gebäude von allen Seiten fotografiert, um ein 3D-Computermodell zu erstellen.

In den darauffolgenden Wochen sind wir oft bei ihm gewesen und haben über unsere Zukunftsvorstellungen geredet. Der Architekt hat jedesmal die Wände am Computer verschoben und uns gezeigt, was machbar ist und was nicht. Nach Wochen steht das Konzept endlich. Nun beauftragt der Architekt in unserem Namen Baufirmen und nach einem Jahr steht an der Stelle der alten Villa das weitläufige Gebäude eines Internats. Wohnräume, Klassenräume und Sportstätten in einem Mix aus modernem und asiatischem Stil tun sich vor uns auf, in mehreren Stufen in den Berghang integriert. Meine Wohn- und Arbeitsräume befinden sich im rückwärtigen Teil in einen Stupa.

Das buddhistische Kloster auf Hawaii vermittelt uns sozial problematische Familien, die ein oder mehrere Kinder in ein Internat geben wollen, ohne dafür zahlen zu müssen. Dadurch kommen die Eltern mit dem vorhandenen Geld besser klar. In den Schulferien dürfen die Kinder zu ihren Familien zurück.

Nur wenige Kinder bitten Anne oder Andrea, während der Ferien im Heim bleiben zu können, weil es ihnen bei uns besser ergeht als in ihren Familien. Mit diesen Kindern machen wir Tagesausflüge über die Inseln des Archipels und beschäftigen sie mit Bastelarbeiten oder Sport, je nach Interesse.

*

Bald bekommen wir Probleme. Anne und Andrea wächst die Arbeit über den Kopf, obwohl so viel Engagement von den Kindern zurückkommt. Auch ich gerate mit der Verwaltungsarbeit in Verzug, in die eigentlich Andrea hineinwachsen wollte. Also vereinbaren wir, dass ich in den Schulferien nach Deutschland fliege, um das Problem mit meinem früheren Lehrer zu besprechen.

Ich lasse mich in Deutschland zum Kloster fahren und miete wieder in der Herberge ein Zimmer. Nachdem ich meine Kesa -Klostergewand- angezogen habe, betrete ich das Kloster.

Im Foyer tritt mir wie üblich ein Gelong entgegen und fragt nach meinem Begehr.

"Ist Lama Rinpoche vielleicht zu sprechen?" frage ich ihn.

Der Mann neigt ehrerbietig seinen Kopf und führt die gefalteten Hände an seine Lippen.

"Wen darf ich Seiner Heiligkeit melden?"

Ich lächele erstaunt und erfreut zugleich.

"Sag' Seiner Heiligkeit, Lama Kyobpa aus Hawaii hat ein Anliegen..."

"Bitte, folge mir, verehrter Khenpo -buddhistischer Lehrer-."

'Das war nun sicher nur eine Höflichkeitsfloskel,' denke ich mir, innerlich lächelnd, 'denn meine Geschichte kennt er sicher nicht. Ihn wird das Wort 'Hawaii' beeindruckt haben.'

Ich folge dem Gelong durch die Gänge des Klosters, obwohl ich den Weg zum Thronsaal kenne, und auch weiß, wo die Privaträume des Khenchen Lama liegen. Dass Dennis zum Khenchen Lama geweiht worden ist, bedeutet zweierlei:

Einmal, dass die Lamas dieses Klosters ihn als Wiedergeburt des Lama Sherab für würdig halten, das Amt zu bekleiden, und zum anderen, dass der bisherige Khenchen Lama 'heimgegangen' ist.
Wir treffen Seine Heiligkeit beim Meditieren in seinen Privaträumen an. Dort sieht es nicht viel anders aus, als in den Räumen der Lamas. Nur dass das Büro größer ist und ein Gelong die Schreibarbeit als Sekretär erledigt. Der Torwächter überlässt mich nun auch der Obhut des Sekretärs.

Leise setze ich mich Seiner Heiligkeit gegenüber an den Tisch und warte. Der Gelong will Khenchen Lama Rinpoche meine Anwesenheit melden, aber ich wedele ein paarmal kurz mit der Hand. Also entfernt er sich, um seine Arbeit am Laptop wieder aufzunehmen. Ich bin sicher, dass er Auge und Ohr offen hat.
Irgendwann öffnet Seine Heiligkeit die Augen und erkennt mich. Während ich mich tief verbeuge, streckt er beide Arme nach mir aus.

"Ich freue mich, dich wiederzusehen, Lama Kyobpa!" begrüßt er mich lächelnd. "Wie geht es dir? Und natürlich den Gelongma Anne und Andrea!"

"Ich freue mich ebenfalls, Eure Heiligkeit!" antworte ich. "Das Internat, unser Baby gewissermaßen, ist vor über einem Jahr angelaufen. Nun haben wir Personalprobleme. Es war natürlich von Anfang an klar, dass ein Internat nicht von drei Lehrern allein geführt werden kann, dass es aber so schnell wachsen würde..."

"Deine Probleme führen dich nun zu mir?" fragt Seine Heiligkeit Lama Rinpoche.

Ich nicke und frage:
"Ist es möglich, dass einer der Gelong dieses Klosters - ein Kungfu-Meister - Interesse daran hat, das Managen einer Foundation zu erlernen? Es gilt sozial gebundene Gelder zu verwalten und zweckgebunden auszugeben. Für den Anfang denke ich an drei Bewerber, um mir den Besten nach einem Jahr Aufenthalt auszusuchen. Die beiden anderen bekämen ein Zertifikat mit nach Deutschland zurück.
Auch könnten sich Klosterschülerinnen gerne bei uns bewerben, wenn sie sich die Arbeit mit Kindern vorstellen können. Sie könnten bei uns ein einjähriges Praktikum machen, für das sie ebenfalls ein Zertifikat bekommen würden. Wenn sie dann in Deutschland zurück sind und eine Ausbildung in diesem Bereich anschließen, können sie sich danach gerne ebenfalls bei uns bewerben, um eine unbefristete Anstellung zu finden."

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Freitag, 4. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -39
Wir bahnen uns den Weg zum Auto zurück und fahren wieder hinunter in die Stadt. Nach dem Essen besuchen wir das buddhistische Kloster. Dazu haben wir alle Drei unsere Mönchskleidung angelegt: Lama Kyobpa betritt in Begleitung zweier Gelongma das Gebäude.

Wir neigen die Köpfe und drehen bedächtig die Gebetsmühlen im Eingangsbereich. Die Gebete darauf kennen wir auswendig und murmeln sie leise vor uns hin.

Ein Gelong -Mönch- tritt näher und begrüßt uns mit der üblichen Geste. Ich gebe den stummen Gruß zurück. Er fragt, wer wir sind und welcher Grund uns hierherführt. Ihm lächelnd zunickend frage ich, ob Seine Heiligkeit so gütig wäre, uns für wenige Minuten sein Ohr zu leihen.

Der Gelong lächelt und führt uns. Vor einer zweiflügeligen Tür bleibt er kurz stehen und sieht mich fragend an.

"Wen darf ich Seiner Heiligkeit melden?"

"Sagen Sie ihm, Lama Kyobpa aus Deutschland und zwei Gelongma, die in Kinderkrankenpflege und als Primaryschool-Teacher ausgebildet sind, fragen nach einem Betätigungsfeld."

Der Mann betritt den Thronsaal und schließt die Tür hinter sich. Kurz darauf ist er wieder zurück und öffnet die Tür für uns. Wir nähern uns Seiner Heiligkeit langsam und ehrerbietig. Vor ihm gehe ich auf die Knie und berühre mit der Stirn den Boden. Ich bin mir sicher, dass meine Mädchen meinem Beispiel folgen.

"Setz dich, Lama Kyobpa und berichte!" fordert mich Seine Heiligkeit der Khenchen Lama auf.

Ich lasse mich im Schneidersitz vor ihm nieder und erzähle, dass wir zehn Jahre in Weiterswiller in Ost-Frankreich gelebt haben, dass die Gelongma hinter mir in Deutschland eine spezielle Ausbildung in der Betreuung von gefährdeten Kindern erhalten haben und dass wir oben am Feuerberg eine Villa umbauen und nutzen können. Dafür wollte ich eine Foundation gründen, die die Finanzen im Auge hat. Dies alles könne man vielleicht als Außenstelle dieses Klosters betrachten.

Seine Heiligkeit hört ruhig zu und stellt hier und da Zwischenfragen zum Verständnis. Danach entlässt er uns. Zum Abschied fragt er noch, wo wir zurzeit wohnen. Er sagt dann, dass wir auf seine Antwort warten sollen.

Auf dem Weg zurück zum Motel sagt Andrea zu mir:
"Dad, wir sollten schon einmal eine Firma damit beauftragen, das Grundstück und das Innere der Villa von der Vegetation zu befreien. Schließlich kann sich ja erst dann ein Architekt ein Bild davon machen, und uns sagen was von der Bausubstanz erhalten werden kann und was nicht."

"Ja, du hast vollkommen Recht!" stimme ich ihr zu.

Am nächsten Tag suchen wir einen Gärtnerei- und Forstbetrieb auf und ich unterzeichne den Auftrag.

Drei Tage später hält ein YellowCab vor der Tür. Ein Gelong bringt uns zu Seiner Heiligkeit ins Kloster. Er hat sich inzwischen in Frankreich und Deutschland über uns erkundigt und meint nun, er warte ab bis die Villa umgebaut ist. Dann würde ein Lama uns dort besuchen und uns Kontakte zu caritativen Vereinen vermitteln. Er sei gegenüber unserem Vorhaben wohlwollend gestimmt.

'Also müssen wir uns nun erst einmal sechs bis zwölf Monate um die Villa kümmern,' schätze ich gedanklich unser Vorhaben ab.

Eine Woche darauf ist die Villa freigelegt. Bevor wir sie in Begleitung eines Architekten besuchen, wollen Anne und Andrea sie in ursprünglichem Zustand sehen. Also fahren wir wieder den Kilauea hinauf und biegen von der Bergstraße in den Privatweg ein. Schon hier haben die Maschinen der Firma eine breite Schneise geschaffen.

Am Tor steigen wir aus und gehen den Weg bis zur Treppe zu Fuß. Anschließend erklimmen wir die Treppe und betreten das Foyer. Von dort zeige ich ihnen den Weg über eine Innentreppe in die Privaträume. Wir schauen uns jeden der Räume an. Sie wecken glückliche Erinnerungen in mir, die jedoch vom schmerzlichen Verlust meiner geliebten Yong Tai verdunkelt werden.

Schließlich stehen wir im Schlafzimmer. Die Tür zum Balkon ist aus den Angeln gerissen. Vorsichtig löse ich sie aus dem Türrahmen und stelle sie daneben gegen die Wand. Anne tritt auf den Balkon hinaus, als wolle sie den Ausblick genießen. Sie nestelt an ihrem Gewand, öffnet es und lässt es fallen. Darunter trägt sie ein blaues Kleid, wadenlang mit großem Rückenausschnitt.

Als wäre ich gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, bleibe ich stehen. Anne trägt Yong Tais Lieblingskleid! Sie muss es mir aus der Truhe genommen haben. Ich stoße einen heiseren Schrei aus "Yong Tai!", falle auf die Knie und beginne haltlos zu weinen.

Andrea tritt an mich heran und setzt sich neben mich, meine Schultern umfassend. Anne hebt ihr Nonnengewand vom Boden auf und zieht es wieder über das Kleid. Dann kommt auch sie zu mir, um sich sitzend an mich zu lehnen.

"Wir verbrennen die Truhe mit den Erinnerungsstücken, Dad! Jetzt, wo sich der Kreis geschlossen hat, brauchst du nicht mehr zurück zu schauen, nicht wahr?"

Ich nicke unter Tränen. Andrea erklärt:

"Wir haben im Kloster alles über die Nangwa -Wiedergeburt- gelernt. Wir haben uns natürlich früher gefragt, warum du dich gerade um uns so liebevoll kümmerst. Du hast uns von deiner verstorbenen Frau erzählt, und dass wir damals ihr Lieblingsspielzeug gewählt haben und dann nicht mehr hergeben wollten, dass Anne ihren und ich einen Teil deines Charakters besitze. So müssten in uns deine verstorbene Frau und dein ungeborenes Kind weiterleben.
Auch weil du uns auf Hawaii entdeckt hast, Yong Tais Lieblingsplatz, und dass wir dich als kleine Kinder spontan zum Dad gewählt haben, während andere adoptionswillige Paare ihre liebe Not mit uns gehabt haben sollen.
Wir haben uns entschieden, dass es so sein muss. Das bedeutet für die Zukunft, Anne wird sich in ihrer Freizeit um dich kümmern und dir im Alter zur Seite stehen. Ich werde jemanden finden und heiraten, der in deine Fußstapfen treten und dich irgendwann ersetzen kann. Wir werden die Villa und dein Lebenswerk die 'Yong Tai - Foundation' nennen!"

"Ich finde deine Argumentationskette wirklich überzeugend, meine Große," entgegne ich ihr. "Das würde aber bedeuten, dass Anne auf ihr Lebensglück verzichten müsste, wenn sie sich um ihren alten, kranken Dad kümmert und sich damit eine Liebe und Partnerschaft versagt..."

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