Montag, 21. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -56
Ich reiche ihr die Karte und schaue die ehrenwerte Mama dabei unsicher an. Darf ich überhaupt das Geheimnis zwischen Thaye und mir preisgeben? Was ist, wenn meine ehrenwerten Eltern mir die Beziehung verbieten? Vielleicht haben sie sich insgeheim schon Gedanken zu dem Thema gemacht und bei den Eltern eines altersgemäßen Jungen vorgefühlt?

Die ehrenwerte Mama schaut sich das Foto auf der Vorderseite intensiv an. Anschließend dreht sie die Karte herum und liest die Worte auf der Rückseite und den Absender. Sie schaut mich daraufhin groß an. Tränen glitzern in ihren Augen. Zitternd versucht sie dem ehrenwerten Papa die Karte über den Tisch zuzuschieben. Dabei fällt die Karte zu Boden. Papa bückt sich danach und liest die Rückseite, während er sich wieder aufrichtet. Auch er schaut mich nun mit ernstem Gesicht an und sagt:

"Dein Liebster heißt Khön Thaye Tenzin und lebt auf Hawaii? Wie hast du denn den jungen Mann kennengelernt - bei dieser Entfernung?"

"Thaye war hier Schüler. Danach hat er in der Nähe Bankkaufmann gelernt und wurde gleichzeitig der Schüler eines Lamas aus dem Kloster hier. Bevor er nach Hawaii abgereist ist, wurde er zum Gelong -Mönch- geweiht. Seitdem bekomme ich jedes Jahr zum Geburtstag eine Karte. Er hat mich also nicht vergessen. Er hat mir versprochen, bei meiner Schulentlassung dabei zu sein!" antworte ich, vielleicht eine Spur zu trotzig.

"Sein Familienname ist Khön!" flüstert Papa, als spräche er zu sich selbst. Dann schaut er mich direkt an und fragt er mit fester Stimme: "Gibt es da eine Verbindung zu Seiner Heiligkeit Khön Sakya Trizin?"

"Ja, verehrter Papa," bestätige ich seine Vermutung. "Khön Thaye ist Sohn Seiner Eminenz Khön Gyana, des hohen Bruders von Seiner Heiligkeit."

Die Karte hat mein ehrenwerter Papa auf den Tisch abgelegt. Sofort angele ich sie mir, um sie später zu den Anderen zu legen. Die ehrenwerte Mama hat immer noch Tränen in den Augen und versucht, sie mit einem Tüchlein zu trocknen. Papa legt ihr beruhigend seine Hand auf ihren Unterarm.

"Wir haben noch fünf Monate bis wir seine Exzellenz treffen," sagt er, als müsse er nicht nur die ehrenwerte Mama, sondern auch sich selbst beruhigen. "Wir werden uns vorbereiten."

*

Ich habe mich sehr angestrengt, seit Thaye nach Hawaii abgereist ist. Sein Umgang mit meinen schulischen Problemchen hat mit gezeigt, welche Herangehensweise am ehesten Erfolg verspricht. So habe ich auch in der Vergangenheit schon meine ehrenwerten Eltern mit sehr guten Zeugnissen erfreuen können.

Mein Lehrer hat des Öfteren versucht, meinen Lernwillen zu bremsen. 'Wenn ich so weitermachen würde,' prophezeit er mir, 'werde ich zum Workaholic und steuere auf ein Burnout zu.'

Endlich ist der Tag der Zeugnisvergabe gekommen. Der letzte Schultag meiner Klasse soll feierlich begangen werden. Dazu ist Seine Heiligkeit anwesend. Er sitzt uns gegenüber auf seinem erhöhten Thron. Wir haben uns im Schneidersitz halbkreisförmig vor ihn platziert und tragen alle die weiße Festkleidung. Hinter uns stehen ausgewählte Schüler der unteren Klassen.

Sie haben einige Lieder einstudiert. Rechts und links von uns stehen die Eltern der Schüler, die heute ihr Zeugnis bekommen. Bei der Hektik der Vorbereitung habe ich meine ehrenwerten Eltern noch nicht entdeckt. Dann beginnt die Veranstaltung.

Seine Heiligkeit rezitiert ein uraltes Gebet. Dann leitet er über in eine kleine Ansprache. Anschließend gibt ein Lehrer den Schülern hinter uns ein Zeichen und sie beginnen, ihr erstes Lied vorzutragen. Nach Ende des Liedes nimmt Seine Heiligkeit einen Stapel Formulare in die Hand. Nun ruft er uns nacheinander zu sich und teilt die Abschlusszeugnisse aus.

Dabei hat er für jeden Schüler noch ein persönliches Wort. Ich muss gestehen, dass ich aufgrund der Aufregung vergessen habe, was Seine Heiligkeit mir auf meinen Lebensweg mitgegeben hat.

Zum Schluss singt die Gruppe hinter uns noch ein Lied. Danach leert sich der Saal allmählich. Ich rolle dem Ausgang langsam entgegen, mich immer wieder nach meinen Eltern umschauend. Auch frage ich mich, wo denn Thaye bleibt. Hat er es am Ende doch nicht geschafft rechtzeitig hierher zu kommen? Zunehmend niedergeschlagener werdend, fühle ich, wie mich jemand am Ärmel zieht.

Ich wende mich um, und erkenne Thaye. Er trägt eine rote Mönchsrobe. Im ersten Impuls will ich ihm um den Hals fallen. Er kräuselt die Stirn und hält mir die offenen Handflächen entgegen. Aber in seinen Augenwinkeln erkenne ich Lachfältchen.

"Endlich sehe ich dich wieder, liebste Minh!" sagt er. "Unserer Freude sollten wir freien Lauf lassen, sobald wir alleine sind!"

Ich schlucke und nicke. Er hat natürlich Recht. Dann sind auch schon meine ehrenwerten Eltern heran. Sie haben teure Kleidung angelegt. Papa beugt sein Knie vor Thaye und hebt die gefalteten Hände an sein Kinn. Die ehrenwerte Mama neben ihm geht vollends auf die Knie und verbeugt sich tief.

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Sonntag, 20. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -55
Als ich die Menschen erkenne, zu denen er mich schiebt, werde ich stumm. Es ist Seine Heiligkeit Khön Sakya Trizin und Seine Eminenz Khön Gyana. Ersterer lehrt im angegliederten Kloster und Lama Khön Gyana habe ich auf Bildern in einem Schulbuch gesehen. Bei ihnen stehen zwei Frauen in Nonnengewändern, jedoch mit kunstvollen Stickereien. Das müssen die Frauen der hohen Persönlichkeiten sein! In diesem Moment fällt mir siedend heiß ein, dass Thayes Familienname ebenso Khön ist. Sollte Thaye der Sohn einer der beiden hohen Herrschaften sein? Je näher mich Thaye schiebt, desto größer werden meine Augen. Ich schaue verschämt zu Boden, als suche ich dort etwas Bestimmtes.

Thaye fragt laut:
"Verehrte Mum, an welchem Datum ist die verehrte Tante Anne genau heimgegangen?"

Die Frau, die sich ihm nun zuwendet, nennt ihm ein Datum. Thaye nimmt sein Handy und vergleicht das Datum mit meinem Geburtsdatum, das ich ihm eben erst genannt habe. Das Ergebnis zeigt er der hohen Dame und fragt:

"Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich hier in meiner Nähe auf einen Menschen treffe, der genau neun Monate nach Tante Annes Weggang geboren wurde?"

Die hohe Dame nickt und schaut mich intensiv an. Ich habe dabei den Eindruck, als durchdringt mich ihr Blick. Ich senke verlegen lächelnd meinen Kopf. Sie antwortet Thaye:

"Die Wahrscheinlichkeit ist sicher äußerst gering. Trotzdem kann es ein Zufall sein. Das bedarf weiterer Prüfungen!"

Thaye nickt:
"Du hast sicher recht, verehrte Mum!"

Er dreht den Rollstuhl herum und entfernt sich mit mir. Seine Mutter ruft ihm hinterher:

"Mach dich fertig, Thaye. Wir wollen bald fliegen!"

"Ja, verehrte Mum," ruft er über die Schultern.

Anschließend sagt er mit gedämpfter Stimme zu mir:
"Ich fahre mit meinen Eltern nach Paris zum Flughafen und komme dann mit Onkel und Tante zurück. In den nächsten Jahren mache ich in der Nähe eine Banklehre und wohne dabei im Kloster. Nebenbei schlage ich den Weg eines Mönches ein... Aber ich werde Zeit finden, mich immer wieder einmal mit dir zu treffen, kleine Minh!"

Thaye hält Wort. So wie es ihm möglich ist, kommt er jeden Sonntagnachmittag auf einen Besuch zu mir. Er schiebt mich durch den Park mit seinen jahreszeitlich abhängig unterschiedlichen Düften. Wir reden über Schulisches. Er erklärt mir vieles. Danach spielen wir ein Gesellschaftsspiel, das er mitbringt, bis es Zeit ist mich zum Schlafengehen in das Schulgebäude zu bringen. Auch er muss dann in seine Unterkunft im Kloster zurück. Irgendwann zu Beginn der Treffen bringt er neben dem Gesellschaftsspiel auch einen uralten, mehrfach geflickten chinesischen Drachen mit.

"Weißt du noch? Du hattest einmal von einem Drachen gesprochen... Dieser hier soll dich immer an mich erinnern, verehrte Minh. Und er soll ein Versprechen sein, dass ich immer wieder zu dir zurückfinde!"

Hui, ich bin jetzt neun Jahre alt und Thaye ist achtzehn! Was ist, wenn ihm ein hübsches gleichaltriges Mädchen über den Weg läuft, die keine Behinderung hat?

Aber ich freue mich jedes Mal, wenn er mich besucht und wir über die Schule und meine kindlichen Problemchen reden können.

*

Eines Tages kommt er zu mir und sagt, dass er die Banklehre abgeschlossen hat und bald nach Hawaii fliegen wird. Ich bin inzwischen elf Jahre alt. Ein starker Schmerz scheint mein Herz zu treffen. Es ist wie von einem Schwert durchbohrt zu werden. Ich schaue ihn flehend an und frage ihn:

"Wirst du mich nicht vergessen, mein Thaye?"

Er gibt mir einen sanften Kuss auf die Wange und antwortet:

"Leider kann ich dich nicht während der Ferien besuchen. Hawaii liegt quasi auf der anderen Seite der Erde. Aber ich werde deiner Abschlussfeier beiwohnen! Versprochen!"

In den folgenden Jahren bekomme ich pünktlich zu meinem Geburtstag liebe Botschaften auf Postkarten mit Fotos von der grandiosen Natur Hawaiis auf der Vorderseite. Ich habe mir ein Kästchen gekauft, in das die Postkarten hineinpassen und das abschließbar ist. Dort verwahre ich alle Karten von Thaye auf.

Fast ein halbes Jahr vor meinem Schulabschluss sind meine ehrenwerten Eltern an meinem Geburtstag anwesend. Ich bin unruhig. Das fällt meiner ehrenwerten Mama natürlich auf und sie fragt nach dem Grund.

Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich dringend zur Poststelle rollen muss. Ich erwarte ein liebes Schreiben. Sie lässt mich die Teetafel verlassen, ermahnt mich aber, sofort zurück zu kommen. Erleichtert verspreche ich es ihr.

In der Poststelle lächelt mir die Mitarbeiterin entgegen:
"Hallo Minh! Schau einmal, was ich hier für dich habe!"

Sie überreicht mir die Postkarte. Langsam beruhigt sich mein Herz. Als ich meine ehrenwerten Eltern wieder erreiche, überzieht ein glückliches Lächeln mein ganzes Gesicht.

Mama schaut mich an und sagt mir auf den Kopf zu:
"Du bist verliebt, liebste Minh!"

Ich senke den Blick und fühle meine Wangen heiß werden.

"Du brauchst dich nicht schämen, liebste Minh! Du bist heute 16Jahre alt geworden... Darf ich wissen, wer der Auserwählte ist?"

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Samstag, 19. März 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -54
Vier Monate bin ich, Nguyen Minh Thoung, nun schon in der Klosterschule. Obwohl meine ehrenwerten Eltern und Verwandten vietnamesischer Abstammung sind (meine Großeltern sind als junge Eltern mit ihren Kindern als sogenannte 'Boatpeople' aus Vietnam geflüchtet), werde ich hier wie jedes andere Kind behandelt. Auch der Rollstuhl ist kein Grund großer Rücksichtnahme.

Allerdings habe ich nur wenige Freundinnen und einige der Jungs verspotten mich manchmal, wenn wir auf dem Innenhof gemeinsam spielen. Aber da stehe ich drüber!

Gleichaltrige Jungs gehen nicht darüber hinaus. Einige haben sogar Respekt vor meiner Schnelligkeit mit dem Spezial-Rollstuhl. Bis ich auf einmal von hinten von zwei vielleicht 12jährigen Jungs attackiert worden bin.

Einer hat irgendeinen langen Gegenstand in die Speichen gesteckt, so dass ich mit einem Aufschrei vornüberfalle. Darauf bin ich nicht gefasst gewesen und es ist so schnell geschehen, dass ich zuerst ziemlich benommen auf dem Boden liegen geblieben bin.

Einer der Schüler aus der Abschlussklasse, die sich in der Pausenaufsicht immer in Zweiergruppen abwechseln, kommt zu mir gelaufen und hilft mir auf. Er stellt den Stuhl wieder aufrecht, hebt mich in seine Arme und setzt mich in den Stuhl zurück. Ich umfasse seinen Hals und bedanke mich mit einem Kuss auf seine Wange. In diesem Moment schaut mich der Junge mit großen Augen an.

In der Zwischenzeit hat sein Klassenkamerad zwei Jungs am Kragen gepackt und schleppt sie in das Gebäude, zu den Lehrern.

Mein Helfer fragt mich nach meinem Namen und nennt mir auch seinen. Er heißt Khön Thaye Tenzin, sagt er. Zum Ende der Pause, ich rolle gerade in meinen Klassenraum, werde ich angesprochen. Ich schaue mich um und sehe zwei Jungs neben mir und hinter ihnen einen der Lehrer stehen. Die Jungs verbeugen sich tief mit gefalteten Händen und entschuldigen sich zerknirscht bei mir.

Der Lehrer fordert mich nun auf, ihnen eine Strafe für ihr respektloses Verhalten auszusprechen. Hilfesuchend schaue ich mich um. Der Lehrer, der bei uns seinen Unterricht fortsetzen will, ist hinzugetreten. Ich sage schnell:

"Zeigt, dass ihr gegenüber euren Mitschülern respektvoll sein könnt und sie ehrt! Lasst es eure Lehrer, eure Eltern und die Pausenaufsicht sehen!"

Der Lehrer, der die beiden Missetäter begleitet, nickt mir lächelnd zu und führt die Beiden davon. Mein Lehrer sagt zu mir:

"Du hast weise entschieden, Nguyen Minh Thoung. Aus dir wird einmal eine große Lehrerin, solltest du diesen Berufszweig einschlagen wollen! Doch nun komm an deinen Platz."

In der Folgezeit sehe ich Khön Thaye Tenzin immer wieder, wenn er Pausendienst hat. Er ist nie weit entfernt und scheint mich immer im Auge zu haben.

Wenige Monate darauf ist wieder einmal Schulabschlussfeier. Die meisten Schüler verlassen die Schule mit einem Zeugnis. Eine Handvoll Schüler bleiben, um als Schüler eines Lamas den Weg zum Mönch einzuschlagen. Wir sind dabei, um die Jugendlichen mit einem Lied zu verabschieden. Mein Beschützer Thaye ist wohl einer derjenigen, die uns verlassen. Das stimmt mich traurig. Ich überdecke dieses Gefühl mit Neugier. Ich frage ihn in einer Unterrichtspause aus.

Thaye erzählt mir, dass er aus Hawaii kommt, nach der Klosterschule eine Banklehre machen wird und dann nach Hawaii zurückkehrt. Bei der Nennung von 'Hawaii' unterbreche ich ihn forsch und frage:

"Das muss wunderschön sein, auf Hawaii! Nimmst du mich mit?"

Thaye lacht und beugt sich zu mir herunter. Er flüstert:
"Meine Eltern leiten dort auch so eine Schule. Ich werde irgendwann die Leitung übernehmen. Du müsstest bis dahin studieren und Lehrerin werden, wenn du mich nach Hawaii begleiten willst!"

"Das werde ich!" sage ich mit fester Stimme.

"Hm," macht er da. "Weißt du, ich hatte eine sehr liebe Patentante. Meine ehrenwerten Eltern haben mir bei ihrem ersten Besuch hier - sonst ist Tante Anne immer gekommen - gesagt, dass sie während einer tiefen Meditation heimgegangen ist. Seither frage ich mich, ob ich jemals ihre Wiedergeburt finden werde... Weißt du, ich soll ebenfalls die Wiedergeburt eines Lamas sein. Man hat mich geprüft."

Ich streiche ihm über den Oberarm und tröste ihn:
"Ganz bestimmt wirst du sie irgendwann wieder treffen, Thaye! Du bist so... so... Du bist so freundlich zu mir!"

Er lacht und meint:
"Man hat mir einmal gesagt, dass ich in einem früheren Leben zu meiner damaligen Liebe gesagt haben soll: 'Wir werden uns ewig lieben'. Aber wenn man sich aus den Augen verliert..."

"Das Schicksal wird euch bestimmt wieder zusammenführen, mein starker Beschützer!" sage ich und assoziiere in Gedanken dabei ein Märchen von einem Prinzen, der seine Prinzessin vor einem Drachen beschützt. Das sage ich ihm dann auch.

Er schaut mich mit ernsten Augen an, als ich ihm die Assoziation erzähle, und fragt mich nach meinem Geburtstag. Dann stellt er sich hinter mich und schiebt den Rolli mit mir zu einer Gruppe Erwachsener. Ich lache verunsichert und frage:

"Was machst du, Thaye? Wird das hier eine Entführung?"

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