Dienstag, 12. April 2022
Lama Rinpoche -17
Nun lasse ich in kurzen Abständen Kommandos auf den Jungen herabprasseln. Sein Gesichtsausdruck zeigt dabei immer mehr Unwillen. Ich sage in strengem Ton zu ihm:

"Jacke anziehen! - Jacke ausziehen! - Jacke fallen lassen! - Jacke aufheben! - Jacke hinhängen! - Jacke anziehen! - Jacke ausziehen! - Jacke fallen lassen! - Jacke aufheben! ..."

Irgendwann wird es ihm zuviel und er geht auf Distanz:

"Echt, Dennis! Mir reicht?s! Ich habe es gecheckt! Respekt zeigen! Die Jacke an, aus, an, aus... tausendmal! Das ist bescheuert! Mir reicht's! Ich gehe!"

Er macht Anstalten seine Jacke anzuziehen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich halte ihn am Arm fest und greife mit der anderen Hand nach. Dabei sage ich zu ihm:

"Ich spüre keinen Widerstand, Noah! Spanne deine Muskeln an! Sei stark!"

Nun lasse ich ihn los, nehme ihm die Jacke aus der Hand und lasse sie zwischen uns auf den Boden fallen. Dann kommandiere ich noch einmal:

"Jacke an!"

"Aber die Jacke..." beginnt Noah und man spürt, dass er kurz davorsteht, in Tränen auszubrechen.

"Jacke an!" wiederhole ich energisch.

Noah bückt sich nach der Jacke und im selben Moment führe ich einen Fußstoss aus, über Noah hinweg. Der Junge richtet sich wieder auf und schaut mich mit großen Augen an.

"Wow!" kommt aus seinem Mund.

"Siehst du!" meine ich. "Die Bewegung im rechten Moment ausgeführt, schützt dich vor einem Schlag mit dem Fuß! Du hast mit der Jacke einen ganzen Bewegungsablauf gemacht. Die Einzelschritte habe ich mit Kommandos verknüpft... Konzentriere dich und sei stark! Nicht vergessen, deine Muskeln müssen immer gespannt sein!"

Wieder spreche ich die Kommandos und dringe dabei auf ihn ein. Er versucht, den Schlägen und Tritten nach Kommando auszuweichen. Nach einigen Minuten gönne ich ihm eine Verschnaufpause.

Wieder äußert er sich nur mit einem "Wow!"

Dann nehme ich das Training wieder auf und sage:
"Konzentriere dich! Sammele deinen Geist! - Linker Fuß zurück! - Rechter Fuß zurück! - Linker Fuß..."

Dazwischen spreche ich die gewohnten Kommandos aus. Ich rücke langsam vor und schlage mit Händen und Füßen nach dem Jungen, lasse ihn, mit meinen Kommandos sich nach der Jacke zu bücken, aber immer rechtzeitig in Deckung gehen, so dass ihn die Schläge immer knapp verfehlen. Vor den Bücherregalen wende ich, übe mit ihm noch einmal das Abblocken und Ausweichen auf der Stelle und danach wieder in Bewegung zurück bis zur anderen Wand bei meinem Schreibtisch.

Schließlich meine ich:
"Lassen wir es für heute gut sein! Ich bringe dich zu deiner Mutter."

Noah ist außer Atem und nickt ergeben. Er nimmt seine Jacke in die Hand und zieht sie sich an, während wir über die Gänge des Klosters gehen.

Unterwegs frage ich ihn:
"Dein Vater ist eine Respektperson für dich! Warum ist das bei deiner Mutter anders?"

Er schaut mich empört an und antwortet:
"Ich habe Mama lieb!"

"Und warum muss dann deine Mutter ständig hinter dir herräumen?" setze ich nach.

Darauf bekomme ich keine Antwort. Ich hoffe, ich habe ihn zum Nachdenken angeregt. Nach einer Gedankenpause gebe ich ihm also den Rat:

"Zeige ihr deinen Respekt, indem du nichts mehr herumliegen lässt! Deine Mama hat dich auch sehr lieb! Sie hat dich unter ihrem Herzen getragen. Dafür solltest du dich dankbar zeigen, mein Junge. Kungfu bedeutet auch Charakterbildung! Es ist eine Einstellungssache! Denke immer daran."

Bald haben wir Mamas Zimmer erreicht und ich klopfe an. Mama öffnet uns und lässt uns eintreten. Während ich auf den Tisch zugehe, an dem Mama mit Frau Mann sitzt, bleibt Noah einen Moment zurück. Frau Mann sieht uns interessiert entgegen. Plötzlich huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann ist Noah auch schon heran. Er setzt sich neben mich auf seine Fersen und schaut erwartungsvoll zu mir auf.

"Was heißt eigentlich 'Lama Rinpoche'?" fragt er mich unvermittelt.

"Jahrelang war ich der Schüler Dennis im Kloster in Nepal," erkläre ich ihm gerne. "Kurz bevor wir wieder nach Deutschland zurückgeschickt wurden, hat Seine Heiligkeit, der Abt des dortigen Klosters, mich zum Lama ernannt und mir den Namen Rinpoche gegeben. 'Lama' bedeutet 'spiritueller Lehrer' und 'Rinpoche' kann man mit 'der Wertvolle' übersetzen. Das ist nichts Ungewöhnliches, mein Junge. Auch hinter deutschen Namen steckt eine Bedeutung!"

Ich streiche ihm sanft über sein Haar und ergänze: "Noah bedeutet zum Beispiel 'Ruhe, Trost'."

Der Junge zeigt eine erstaunte Miene und Frau Mann rutscht näher an ihn heran. Sie legt ihm ihren Arm um die Schultern und er lehnt sich vertraut bei seiner Mutter an. Das lässt mich lächeln.

Frau Mann fragt mich nun:
"Wie macht sich Noah?"

"Er zeigt gute Anlagen," antworte ich ehrlich. "Es braucht aber noch etwas, um sie heraus zu bilden."

"Das freut mich," meint Frau Mann lächelnd und wendet sich Mama zu: "Dann wollen wir jetzt aufbrechen. Morgen sind wir ja schon wieder hier."

Mama nickt, verständnisvoll lächelnd, und wir alle erheben uns. Noah ist zu seiner Jacke gelaufen, nimmt sie vom Haken und zieht sie sich über. Jetzt verstehe ich auch Frau Manns Lächeln bei unserem Eintritt.

Mama und Frau Mann verabschieden sich freundschaftlich voneinander. Anschließend führe ich sie ins Foyer zurück. Dort verabschiede ich mich von ihnen und schärfe Noah noch einmal ein:

"Kungfu liegt in allem, was wir tun, Noah! Auch darin, wie wir andere Menschen behandeln. Denke immer daran! Ich freue mich auf Morgen!"

"Okay," antwortet er schüchtern und nickt verlegen lächelnd.

Frau Mann übernimmt nun die Initiative: "Auf Wiedersehen, Herr Bäcker. Oder wie darf ich Sie nennen?"

Ich lächele sie offen an, neige den Kopf leicht und hebe die gefalteten Hände.

"Nennen Sie mich Herr Bäcker, oder Dennis, oder Lama Rinpoche," antworte ich. "Es ist alles richtig. Wichtig ist ihre Einstellung dahinter, mit der Sie mir gegenübertreten. Mir persönlich ist es gleich, wie man mich nennt. Ich bin nicht auf irgendwelche Titel erpicht."

Frau Mann lächelt unsicher und verlässt mit ihrem Jungen schnell das Kloster.

*

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Montag, 11. April 2022
Lama Rinpoche -16
Mehrere Tage darauf nähert sich mir ein Gelong während meines Nachmittagsunterrichts. Er flüstert mir zu:

"Herr Mann ist mit seinem Sohn angekommen und fragt nach dir, ehrenwerter Lama."

Ich nicke ihm zu und klatsche in die Hände. Nachdem alle Schüler zu mir schauen, gebe ich ihnen zur Aufgabe, den Text bis Morgen durchzulesen und sich darüber Gedanken zu machen, den wir gerade durcharbeiten. Danach warte ich bis sich der Unterweisungsraum geleert hat.

Anschließend folge ich dem Gelong -Mönch- in das Foyer des Klosters. Dort finde ich Noah und seinen Vater. Ich begrüße beide mit gefalteten Händen und durch Neigen meines Kopfes. Dann bitte ich sie, mir zu folgen. Auf dem Weg zum Trainingsraum im Keller, erkläre ich beiden:

"Kungfu wird hier im Westen als ostasiatische Kampfkunst angesehen. Es wurde über Jahrtausende von buddhistischen Mönchen durch genaue Naturbeobachtung entwickelt und dient dem Frieden, nicht dem Prügeln!"

Wir haben den Keller erreicht. Im großen Raum steht dort die Hälfte unserer Klosterschüler in Reih und Glied und soll Peter nachmachen. Der Gelong kommentiert dabei sein Tun und korrigiert einzelne Schüler. Er geht geduldig auf jeden Einzelnen ein. Ich lasse meine Gäste eine Weile zuschauen, dann sage ich:

"Kungfu durchzieht das ganze Leben! Unsere Klosterschüler machen Übungen, die man zum Beispiel 'Affe' oder 'Vogel' nennt. Hier erkennen Sie die genaue Naturbeobachtung der frühen Mönche. Natürlich kann man auch ganz alltägliche Bewegungsabläufe zugrunde legen und daraus die Techniken entwickeln, mit denen man mögliche Gegner in Schach hält oder sie sich gegenseitig ausschalten lässt."

"Das 'Sich gegenseitig ausschalten' war das, was Sie bei den Kerlen vor Tagen angewandt haben?" fragt Herr Mann jetzt.

"Ja," antworte ich. "Es war für mich ganz leicht, denn sie hatten ihre Gehirne in den Fäusten, nicht im Kopf! Sie überlegten nicht."

"Aber wenn man zu lange überlegt, kann es auch zu spät zum Reagieren sein!" meint er.

"Deshalb lassen wir unsere Schüler üben, üben, üben. Sie durchlaufen ein kontinuierliches Training. So werden sie mit der Zeit zu einer Choreografie, die ihnen in Fleisch und Blut übergeht. Sie reagieren sicher, ohne lange zu überlegen - und sie gewinnen an Selbstdisziplin!" entgegne ich ihm.

"Ich fürchte, so lange hat Noah keine Zeit mehr," antwortet Herr Mann düster.

"Ist es in den letzten Tagen zu weiteren Angriffen gekommen? In der Schule zum Beispiel?" frage ich mit gekräuselter Stirn.

"In der Schule ist die Pausenaufsicht verstärkt worden. Sie greift frühzeitig ein und sorgt dafür, dass es zu keiner Eskalation kommt. Den Schulweg übernimmt meine Frau. Noah kann nun aber nach den Hausaufgaben nicht mehr vor die Tür," erklärt mir der Vater.

"Das ist kein Zustand!" pflichte ich ihm bei.

Inzwischen haben wir das Foyer wieder erreicht. Noah fragt mich hier:

"Was sind das für Rollen an den Wänden entlang?"

"Das sind Gebetsmühlen," erkläre ich dem Jungen lächelnd. "Wenn man sie dreht, nimmt der Wind die Gebete um Frieden, Glück und Gesundheit mit sich fort. Irgendwann wird das eine oder andere Gebet auch erfüllt!"

Noah läuft spontan auf die Gebetsmühlen zu.

"Immer rechts herumdrehen!" rufe ich ihm schmunzelnd hinterher.

Ich erinnere mich daran, wie ich mit Mama und dem Gelong Peter in jungen Jahren auf den Berg mit der heiligen Quelle gestiegen bin. Dort oben habe ich spontan mein ganzes Gesicht in das Becken getaucht, um möglichst viel des versprochenen Glücks abzubekommen. Noahs Reaktion gerade entspringt ganz sicher dem gleichen Motiv. Er läuft einmal um das Foyer herum von einer Gebetsmühle zur Anderen und dreht sie, bevor er zu uns zurückkommt.

"Kommen Sie morgen mit ihrem Jungen hierher zurück!" biete ich dem Vater zum Abschied an. "Um wieviel Uhr kann ich damit rechnen?"

"Wir können täglich gegen 16Uhr hier sein," antwortet Herr Mann. "Allerdings wird ihn meist seine Mutter bringen müssen. Wie lange wird das Training dauern?"

"Täglich, sagen Sie? Dann reicht erst einmal eine halbe Stunde. Später kann man die Trainingseinheit erweitern. Ich denke, das reicht. Ihre Frau kann in der Zeit Kaffeeklatsch bei meiner ehrwürdigen Mutter halten," entscheide ich.

"Und wieviel würde das Training kosten?" fragt er noch einmal.

Ich schüttele den Kopf und entgegne ihm: "Ich nehme kein Geld! Wenn Sie möchten, spenden Sie dem Kloster hin und wieder einen kleinen Betrag."

"Okay," meint Herr Mann und lächelt erleichtert.

Wir verabschieden uns nun voneinander und ich wende mich wieder zur Treppe.

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages sage ich dem Gelong im Foyer Bescheid und gehe dann auf mein Zimmer. Ich setze mich mit untergeschlagenen Beinen vor meine Liege auf den Boden und beginne mit Meditieren. Nach einiger Zeit der Ruhe berührt mich jemand an der Schulter. Ich öffne die Augen und sehe, dass sich der Gelong mir lautlos genähert hat.

Er tritt ein wenig zur Seite und macht mir den Blick frei auf meinen Besuch. Dann beugt er sich zu mir herunter und flüstert:

"Frau Mann und Sohn möchten den verehrten Lama Rinpoche sprechen."

Ich nicke ihm zu und erhebe mich, um mich meinem Besuch zu nähern. Währenddessen will sich der Gelong leise entfernen.

"Verehrter Bruder," spreche ich ihn an. "Würdet Ihr die Dame zu meiner ehrwürdigen Mutter führen, bevor Ihr an Euren Platz zurückkehrt?"

Der Gelong nickt und verbeugt sich lächelnd. Kurz darauf bin ich mit Noah allein. Er schaut mich erwartungsvoll an.

Ich erkläre dem Jungen:
"Ich könnte mit dir durch Parks und Wälder spazieren gehen und dir die Wildtiere zeigen, wie sie sich bewegen. Du hast gestern im Keller unsere Klosterschüler die Bewegungen einiger Wildtiere nachahmen gesehen. Kungfu durchzieht das ganze Leben. Es kann auch ein ganzes Leben benötigen, um darin meisterlich zu werden. Kungfu ist nicht bloß das, was du mit deinen Augen siehst. Es geht tiefer! Es hat etwas mit Charakter und Einstellung zu tun - und mit deinem Umgang mit deinen Mitmenschen, Noah."

"Was muss ich tun, Meister?" fragt er mich nun, mutlos geworden.

"Hänge zuerst einmal deine Jacke hier an den Haken," fordere ich ihn auf und lächele ihn zuversichtlich an.

Er hat seine Jacke auch jetzt gedankenlos am Eingang des Zimmers ausgezogen und über einen Hocker fallen gelassen. Nun geht er zurück, hebt sie vom Hocker auf und nähert sich mir wieder, um sie an einen Haken am Raumteiler aufzuhängen.

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Sonntag, 10. April 2022
Lama Rinpoche -15
Er nickt ihm aufmunternd zu. Widerstrebend erhebt sich der Junge und verlässt den Saal mit leicht enttäuschtem Gesichtsausdruck.

Plötzlich kommen zwei jüngere Mädchen von anderen Gästen weinend herein.

"Draußen sind große Jungs!" sagen sie unter Schluchzen.

Leise hebe ich meinen Stuhl an und bewege mich vom Tisch weg, um kein Aufsehen zu erregen. Dann wende ich mich zur Tür und bin in langen Sätzen draußen. Dort orientiere ich mich kurz und laufe neben das Restaurant auf den Spielplatz. Hier treiben vier Jungs von ungefähr 13 oder 14 Jahren Noah vor sich her.
Mit wenigen Sätzen stehe ich mitten unter ihnen. Ich halte die Hand des Vordersten fest, der gerade zum Schlag ansetzt, drehe mich um und werfe ihn über meine Schulter in den Sand. Dann nehme ich mir den Nächsten vor. In der Zwischenzeit hat sich der Erste schon wieder erhoben und stürmt gegen mich. Ich drehe mich mit dem Jungen, den ich gerade in der Hand habe, so dass der Schlag diesen Jungen trifft. Den schlagenden Jungen hebe ich an, so dass er die Schläge der beiden Anderen abbekommt. Dann lasse ich ihn los und trete einen der Beiden vor die Brust, dass ihm für einen Moment die Luft wegbleibt.

Da sie sich auf verlorenem Posten sehen, ziehen sich die vier Angreifer zurück und trollen sich. Ich schaue nach Dennis und sehe ihn mit offenem Mund und großen Augen am Rand stehen und in meine Richtung blicken. Nun gehe ich auf ihn zu, nicke beruhigend und frage mit sanfter Stimme:

"Haben sie dir weh getan?"

Noah schüttelt stumm den Kopf. Es kann sein, dass das Adrenalin in seinem Blut irgendwelche Schmerzen überdeckt, also fordere ich ihn sanft auf:

"Leg dich bitte dort auf die Bank!"

Wir gehen zu der Bank am Rand des Spielplatzes. Dort taste ich seine Knochen an Gelenken und Brustkorb ab. Jetzt verspürt er Schmerzen, denn als ich seinen Brustkorb abtaste, verzieht er sein Gesicht.

Ich lächele ihn zuversichtlich an und erkläre ihm:
"Du hast zum Glück nur Prellungen davongetragen."

Kurzerhand nehme ich ihn in den Kniekehlen und unter den Achseln auf und trage ihn ins Restaurant zurück. Hier orientiere ich mich und lege ihn auf eine Sitzbank an der Garderobe des Saales. Eine Kellnerin kommt mit besorgtem Gesicht hinzu geeilt. Ich bitte sie um sechs Schnapsgläschen und etwas Watte. Sie schaut mich verwundert an, bringt dann aber die Gläschen und einen Beutel mit Watte.

Noahs Mutter ist inzwischen aufgestanden und herangekommen. Sie hat sich neben Noahs Kopf gekniet und streichelt ihn mit besorgter Miene. Dann schaut sie verwundert, wie ich Watte aus dem Beutel ziehe und damit Wattebällchen forme. Danach hole ich meine Essstäbchen und ein Feuerzeug aus meiner Tasche und frage die Mutter des Jungen:

"Würden Sie ihm bitte das T-shirt hochziehen?"

Herr Mann steht jetzt auch bei uns. Frau Mann schaut zu ihm hoch. Der Vater nickt beruhigend und meint:

"Mach ruhig, was er sagt."

Nun zünde ich ein Wattebällchen nach dem anderen an und halte es mit den Essstäbchen in das umgedrehte Schnapsglas, das ich sogleich auf eine von Noahs Prellungen drücke. Durch den geringen Unterdruck saugt es sich dort fest und zieht die Haut ein wenig in das Glas.

Nach einer Weile meint Noah:
"Es tut gar nicht mehr weh!"

Herr Mann wendet sich nun an mich und will wissen:
"Was war draußen los?"

"Vier Jugendliche haben die Kinder angegriffen," erkläre ich. "Aber eigentlich war Noah deren Ziel."

"Ja, Papa," bestätigt Noah und versucht sich aufzurichten. Dabei fallen die Schnapsgläschen herunter. Frau Mann bückt sich und sammelt sie wieder ein. Noah ergänzt:

"Dennis hat nicht viel tun müssen! Sie haben sich selbst geschlagen! Dennis hat nur mal den Einen oder Anderen gestoppt, oder herumgewirbelt."

Ich mag es nicht, so in den Mittelpunkt gestellt zu werden. Darum nicke ich nur und hebe die gefalteten Hände an mein Kinn.

"Kämpfen geht man am besten aus dem Weg," sage ich dazu.

Herr Mann antwortet mir nachdenklich:
"Mein Sohn wird allzu oft in die Enge getrieben, weil es der Meute Spaß macht - so scheint es."

"Es sind pubertierende Hitzköpfe, die sich selbst im Weg stehen, wenn sie zu mehreren auftreten. Für Mann gegen Mann sind sie zu feige!"

"Wie kann sich mein Junge in der Schule Respekt verschaffen?" fragt Herr Mann nun, sich plötzlich anders besinnend. "Die Kerle verstehen doch nur die Sprache der Fäuste! Könnten Sie ihm beibringen, wie man das macht?"

"Sich Respekt verschaffen, von den Anderen geachtet werden... Ich kann es versuchen!" antworte ich.

"Bitte," sagt Herr Mann nun. "Ich bezahle Ihnen den Kurs!"

"Darum geht es nicht!" entgegne ich mit gekräuselter Stirn. Nach einer Gedankenpause frage ich: "Sie wissen sich keinen anderen Rat?"

"Leider nein."

Nun biete ich ihm an:
"Dann besuchen Sie oder ihre Frau, wer gerade Zeit hat, mich mit ihrem Sohn nach den Hausaufgaben nachmittags im Kloster."

"Okay, danke sehr," antwortet Herr Mann.

Er hört sich erleichtert an und bietet mir seine Hand wie zu einem Vertragsabschluss. Aufmunternd lächelnd drücke ich sie ihm.

Jetzt gehe ich zu Mama und sage:
"Wir sollten aufbrechen!"

Zu ihrer Freundin Alice gewandt, meint ich versöhnlich:

"Es tut mir leid, dass sich der Abend so entwickelt hat. Heute ist doch Ihr Freudentag!"

Ich habe mich für den Aufbruch entschieden, um möglichen Ärger mit irgendwelchen Straßengangs aus dem Weg zu gehen. Wer weiß, wen die Jungs noch hierher führen nach ihrer Niederlage. Sollte sich meine Befürchtung bewahrheiten, können die Leute oder der Gastwirt selbst die Polizei rufen.

Ich lege mir meine Schultertasche über die Schulter, öffne sie und nehme zwei weiße Hadas -Schals- heraus und lege sie den Gastgebern, Alice und ihrem Mann, über die Schultern. Nun verbeuge ich mich leicht und führe meine gefalteten Hände an meine Lippen. Dabei sage ich die Formel:

"Glück und Segen Euch!"

Kurz darauf verlassen wir das Fest und nehmen die nächste Straßenbahn zurück zum Kloster.

*

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