Mittwoch, 13. April 2022
Lama Rinpoche -18
Wenn Herr Mann seinen Sohn zum Training ins Kloster bringt, unterhält er sich mit mir. Ich habe dann einen Gelong hinzugerufen, der mit Noah in der Zeit Krafttraining macht. Einmal bringt der Gelong Noah gerade vom Training zu mir zurück, als ich mit Herrn Mann in ein angeregtes Gespräch verwickelt bin.

Es hat damit begonnen, dass ich davon erzähle, wie ich zwei Mönche in unserem Wohnzimmer sitzen sehe. Herr Mann hat mich erzählen lassen, aber seine Miene verzieht sich immer mehr zu einem belustigten Grinsen. Ich versuche nun eine Gegenüberstellung mit dem christlichen Glauben.

"Schauen Sie, was Sie Himmel nennen, heißt bei uns Nirwana," erkläre ich gerade, als Noah hinzukommt. "Was sie Fegefeuer nennen, bezeichnen wir vielleicht als die Wiedergeburt, obwohl es das nicht wirklich trifft. Die ewige Verdammnis, die Hölle, kennen wir nicht!"

"Seien Sie mir nicht böse," antwortet Herr Mann lächelnd, "aber ich glaube nicht an die Wiedergeburt!"

"Das verlangt auch niemand von Ihnen!" stelle ich fest. "Hier geht es um Toleranz seinen Mitmenschen gegenüber. Ich gebe Ihnen ein Beispiel unserer Denkweise: Meine Tasse ist das Gefäß, der Körper. Der Tee darin ist die Seele."

Ich schlage die Tasse auf die Tischkante, dass sie zerbricht. Der Tee läuft über den Tisch und tropft auf den Boden. Dazu sage ich erklärend:

"Nun ist die Tasse keine Tasse mehr. Aber was ist der Tee auf dem Tisch und dem Boden?"

"Immer noch Tee," antwortet Herr Mann.

Ich erhebe mich und hole einen Putzlappen herbei. Damit wische ich den Tee auf und beschreibe mein Tun:

"Nun befindet sich der Tee im Tuch. Ich könnte das Tuch auswringen und den Tee in eine neue Tasse gießen. Dann hat er ein neues Gefäß, einen neuen Körper, um im Bild zu bleiben."

"Den würde ich dann aber nicht mehr trinken wollen!" meint Herr Mann grinsend dazu. Auch Noahs Gesicht überzieht bei der Vorstellung ein schüchternes Lächeln.

Ich lächele ebenfalls, gehe zum Putzeimer zurück und lasse das Tuch hineinfallen.

"Sie erkennen aber nun den buddhistischen Denkansatz," meine ich. "Wie gesagt, Sie müssen nicht daran glauben!"

Danach wende ich mich an Noah und sage:
"Übermorgen bin ich wieder für dich da, Noah. Habt eine gute Heimfahrt und dir viel Spaß und Glück in der Schule!"

"Vielen Dank, Dennis! Und, bis übermorgen dann," antwortet Noah.

Er macht meine Abschiedsgeste mit den gefalteten Händen nach. Morgen ist Sonntag, Also treffen wir uns erst in zwei Tagen wieder.

"Wiedersehen, Herr Bäcker," sagt sein Vater und streckt mir demonstrativ die Hand hin.

Ich drücke sie kurz und lächele ihnen zum Abschied zu. Sie kennen den Weg durch das Kloster inzwischen und brauchen niemand mehr, der sie hinausführt.

Am Montagnachmittag begleitet Frau Mann Noah zum Training bei mir. Sie geht zu Mama und ich wende mich dem Jungen zu. Zuerst will ich damit beginnen die Übungen aus der Vorwoche zu wiederholen, wie jeden Montag. Noah druckst herum. Dann bricht es aus ihm heraus:

"Heute Morgen, in der großen Pause, ist etwas passiert."

Sofort halte ich inne und runzele die Stirn. Ich lasse mich auf einen der beiden Hocker im Übungsraum nieder und fordere ihn auf:

"Setz dich, Noah, und erzähle!"

"Nun ja," beginnt Noah, als er mir gegenübersitzt. "Man hat mir die Brotdose geklaut. Zuerst bin ich hinterhergelaufen, aber da es gleich drei Jungs in meinem Alter waren, konnte ich sie ihnen zuerst nicht abjagen. Dann habe ich mich an deine Worte erinnert 'Ruhe bewahren'. Ich habe sie ruhig beobachtet, um den richtigen Zeitpunkt heraus zu finden. Sie haben sich mir genähert, um mich zu provozieren. Dann habe ich es geschafft, denjenigen zu Boden zu werfen, der meine Brotdose gerade in der Hand hatte. Ich habe die Brotdose eingesteckt und mich danach um die Stirnwunde des Jungen gekümmert."

Ich muss schmunzeln, lege meine Hand auf seine Schulter und schaue ihm stolz in die Augen. Nun schaut er unsicher zu Boden, aber ich lobe ihn:

"Das war sehr richtig von dir, Noah! So musst du das immer wieder tun, wenn irgend möglich. So gewinnst du ehrliche Freunde und verschaffst dir Respekt unter den Anderen!"

"Ja, stimmt," bestätigt er mir. "Als der Markus auf dem Boden lag und blutete, hat sich ein ganzer Kreis Zuschauer um uns gebildet. Seitdem lässt man mich in Ruhe und der Markus hat mir die Freundschaft angeboten."

Ich nicke und erhebe mich vom Hocker. Kurz fahre ich mit der Hand durch sein Haar.

"Du hast die Philosophie hinter dem Kungfu verstanden, mein Junge," stelle ich fest und präzisiere noch einmal: "Niemals angreifen, nur verteidigen! Und dem Gegner Respekt erweisen!
Dann wollen wir einmal das Gelernte von letzter Woche wiederholen!"

Am Schluss der halben Stunde gehen wir wieder gemeinsam zu Mama, bei der Frau Mann sitzt und Tee trinkt. Auf dem Weg dorthin fragt mich Noah:

"Gibt es nicht auch Wettkämpfe unter Gleichaltrigen, wo man das Erlernte real anwenden kann. Bis ich wieder einmal in so eine Situation komme, wie heute, können Monate oder Jahre vergehen. In der Zeit kann man viel vergessen haben."

"So eine Situation kann morgen schon wieder eintreten, oder natürlich auch erst in Monaten oder Jahren. Du musst eben ständig bereit sein, immer im Training bleiben, Noah," erwidere ich. "Übe deine Fertigkeiten täglich, während du lebst."

"Gibt es denn keine Wettkämpfe unter Gleichaltrigen?" lässt er nicht locker.

"Unsere Klosterschüler sind viel älter als du. Zu Trainingszwecken gibt es in den Klosterschulen in Nepal schon Wettkämpfe, auch unter Schülern in deinem Alter. Aber das liegt 10.000 Kilometer entfernt..." gebe ich zu bedenken.

"Mein neuer Freund ist so alt wie ich!" schlägt er vor.

Darüber schüttele ich den Kopf und lächele ihn an.

"Ich möchte keine Kungfu-Schule hier in der Stadt gründen!" sage ich bestimmend. "Mir ging es um dich, um dein Selbstbewusstsein, um deine Charakterbildung. Sobald du dir Respekt verschafft und Freunde gefunden hast, ist meine Aufgabe erledigt. Du trittst dann ganz anders auf als früher!
Und natürlich, musst du immer am Ball bleiben, wie ich schon sagte. Ständig weiter trainieren!"

"In Nepal sind die Klosterschüler jünger?" fragt er lauernd.

"Ja," gebe ich zu. "Dort kommen sie mit fünf oder sechs Jahren zu uns und verlassen die Schule mit etwa fünfzehn, um eine Ausbildung zu machen - wenn sie nicht im Kloster bleiben."

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Dienstag, 12. April 2022
Lama Rinpoche -17
Nun lasse ich in kurzen Abständen Kommandos auf den Jungen herabprasseln. Sein Gesichtsausdruck zeigt dabei immer mehr Unwillen. Ich sage in strengem Ton zu ihm:

"Jacke anziehen! - Jacke ausziehen! - Jacke fallen lassen! - Jacke aufheben! - Jacke hinhängen! - Jacke anziehen! - Jacke ausziehen! - Jacke fallen lassen! - Jacke aufheben! ..."

Irgendwann wird es ihm zuviel und er geht auf Distanz:

"Echt, Dennis! Mir reicht?s! Ich habe es gecheckt! Respekt zeigen! Die Jacke an, aus, an, aus... tausendmal! Das ist bescheuert! Mir reicht's! Ich gehe!"

Er macht Anstalten seine Jacke anzuziehen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich halte ihn am Arm fest und greife mit der anderen Hand nach. Dabei sage ich zu ihm:

"Ich spüre keinen Widerstand, Noah! Spanne deine Muskeln an! Sei stark!"

Nun lasse ich ihn los, nehme ihm die Jacke aus der Hand und lasse sie zwischen uns auf den Boden fallen. Dann kommandiere ich noch einmal:

"Jacke an!"

"Aber die Jacke..." beginnt Noah und man spürt, dass er kurz davorsteht, in Tränen auszubrechen.

"Jacke an!" wiederhole ich energisch.

Noah bückt sich nach der Jacke und im selben Moment führe ich einen Fußstoss aus, über Noah hinweg. Der Junge richtet sich wieder auf und schaut mich mit großen Augen an.

"Wow!" kommt aus seinem Mund.

"Siehst du!" meine ich. "Die Bewegung im rechten Moment ausgeführt, schützt dich vor einem Schlag mit dem Fuß! Du hast mit der Jacke einen ganzen Bewegungsablauf gemacht. Die Einzelschritte habe ich mit Kommandos verknüpft... Konzentriere dich und sei stark! Nicht vergessen, deine Muskeln müssen immer gespannt sein!"

Wieder spreche ich die Kommandos und dringe dabei auf ihn ein. Er versucht, den Schlägen und Tritten nach Kommando auszuweichen. Nach einigen Minuten gönne ich ihm eine Verschnaufpause.

Wieder äußert er sich nur mit einem "Wow!"

Dann nehme ich das Training wieder auf und sage:
"Konzentriere dich! Sammele deinen Geist! - Linker Fuß zurück! - Rechter Fuß zurück! - Linker Fuß..."

Dazwischen spreche ich die gewohnten Kommandos aus. Ich rücke langsam vor und schlage mit Händen und Füßen nach dem Jungen, lasse ihn, mit meinen Kommandos sich nach der Jacke zu bücken, aber immer rechtzeitig in Deckung gehen, so dass ihn die Schläge immer knapp verfehlen. Vor den Bücherregalen wende ich, übe mit ihm noch einmal das Abblocken und Ausweichen auf der Stelle und danach wieder in Bewegung zurück bis zur anderen Wand bei meinem Schreibtisch.

Schließlich meine ich:
"Lassen wir es für heute gut sein! Ich bringe dich zu deiner Mutter."

Noah ist außer Atem und nickt ergeben. Er nimmt seine Jacke in die Hand und zieht sie sich an, während wir über die Gänge des Klosters gehen.

Unterwegs frage ich ihn:
"Dein Vater ist eine Respektperson für dich! Warum ist das bei deiner Mutter anders?"

Er schaut mich empört an und antwortet:
"Ich habe Mama lieb!"

"Und warum muss dann deine Mutter ständig hinter dir herräumen?" setze ich nach.

Darauf bekomme ich keine Antwort. Ich hoffe, ich habe ihn zum Nachdenken angeregt. Nach einer Gedankenpause gebe ich ihm also den Rat:

"Zeige ihr deinen Respekt, indem du nichts mehr herumliegen lässt! Deine Mama hat dich auch sehr lieb! Sie hat dich unter ihrem Herzen getragen. Dafür solltest du dich dankbar zeigen, mein Junge. Kungfu bedeutet auch Charakterbildung! Es ist eine Einstellungssache! Denke immer daran."

Bald haben wir Mamas Zimmer erreicht und ich klopfe an. Mama öffnet uns und lässt uns eintreten. Während ich auf den Tisch zugehe, an dem Mama mit Frau Mann sitzt, bleibt Noah einen Moment zurück. Frau Mann sieht uns interessiert entgegen. Plötzlich huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann ist Noah auch schon heran. Er setzt sich neben mich auf seine Fersen und schaut erwartungsvoll zu mir auf.

"Was heißt eigentlich 'Lama Rinpoche'?" fragt er mich unvermittelt.

"Jahrelang war ich der Schüler Dennis im Kloster in Nepal," erkläre ich ihm gerne. "Kurz bevor wir wieder nach Deutschland zurückgeschickt wurden, hat Seine Heiligkeit, der Abt des dortigen Klosters, mich zum Lama ernannt und mir den Namen Rinpoche gegeben. 'Lama' bedeutet 'spiritueller Lehrer' und 'Rinpoche' kann man mit 'der Wertvolle' übersetzen. Das ist nichts Ungewöhnliches, mein Junge. Auch hinter deutschen Namen steckt eine Bedeutung!"

Ich streiche ihm sanft über sein Haar und ergänze: "Noah bedeutet zum Beispiel 'Ruhe, Trost'."

Der Junge zeigt eine erstaunte Miene und Frau Mann rutscht näher an ihn heran. Sie legt ihm ihren Arm um die Schultern und er lehnt sich vertraut bei seiner Mutter an. Das lässt mich lächeln.

Frau Mann fragt mich nun:
"Wie macht sich Noah?"

"Er zeigt gute Anlagen," antworte ich ehrlich. "Es braucht aber noch etwas, um sie heraus zu bilden."

"Das freut mich," meint Frau Mann lächelnd und wendet sich Mama zu: "Dann wollen wir jetzt aufbrechen. Morgen sind wir ja schon wieder hier."

Mama nickt, verständnisvoll lächelnd, und wir alle erheben uns. Noah ist zu seiner Jacke gelaufen, nimmt sie vom Haken und zieht sie sich über. Jetzt verstehe ich auch Frau Manns Lächeln bei unserem Eintritt.

Mama und Frau Mann verabschieden sich freundschaftlich voneinander. Anschließend führe ich sie ins Foyer zurück. Dort verabschiede ich mich von ihnen und schärfe Noah noch einmal ein:

"Kungfu liegt in allem, was wir tun, Noah! Auch darin, wie wir andere Menschen behandeln. Denke immer daran! Ich freue mich auf Morgen!"

"Okay," antwortet er schüchtern und nickt verlegen lächelnd.

Frau Mann übernimmt nun die Initiative: "Auf Wiedersehen, Herr Bäcker. Oder wie darf ich Sie nennen?"

Ich lächele sie offen an, neige den Kopf leicht und hebe die gefalteten Hände.

"Nennen Sie mich Herr Bäcker, oder Dennis, oder Lama Rinpoche," antworte ich. "Es ist alles richtig. Wichtig ist ihre Einstellung dahinter, mit der Sie mir gegenübertreten. Mir persönlich ist es gleich, wie man mich nennt. Ich bin nicht auf irgendwelche Titel erpicht."

Frau Mann lächelt unsicher und verlässt mit ihrem Jungen schnell das Kloster.

*

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Montag, 11. April 2022
Lama Rinpoche -16
Mehrere Tage darauf nähert sich mir ein Gelong während meines Nachmittagsunterrichts. Er flüstert mir zu:

"Herr Mann ist mit seinem Sohn angekommen und fragt nach dir, ehrenwerter Lama."

Ich nicke ihm zu und klatsche in die Hände. Nachdem alle Schüler zu mir schauen, gebe ich ihnen zur Aufgabe, den Text bis Morgen durchzulesen und sich darüber Gedanken zu machen, den wir gerade durcharbeiten. Danach warte ich bis sich der Unterweisungsraum geleert hat.

Anschließend folge ich dem Gelong -Mönch- in das Foyer des Klosters. Dort finde ich Noah und seinen Vater. Ich begrüße beide mit gefalteten Händen und durch Neigen meines Kopfes. Dann bitte ich sie, mir zu folgen. Auf dem Weg zum Trainingsraum im Keller, erkläre ich beiden:

"Kungfu wird hier im Westen als ostasiatische Kampfkunst angesehen. Es wurde über Jahrtausende von buddhistischen Mönchen durch genaue Naturbeobachtung entwickelt und dient dem Frieden, nicht dem Prügeln!"

Wir haben den Keller erreicht. Im großen Raum steht dort die Hälfte unserer Klosterschüler in Reih und Glied und soll Peter nachmachen. Der Gelong kommentiert dabei sein Tun und korrigiert einzelne Schüler. Er geht geduldig auf jeden Einzelnen ein. Ich lasse meine Gäste eine Weile zuschauen, dann sage ich:

"Kungfu durchzieht das ganze Leben! Unsere Klosterschüler machen Übungen, die man zum Beispiel 'Affe' oder 'Vogel' nennt. Hier erkennen Sie die genaue Naturbeobachtung der frühen Mönche. Natürlich kann man auch ganz alltägliche Bewegungsabläufe zugrunde legen und daraus die Techniken entwickeln, mit denen man mögliche Gegner in Schach hält oder sie sich gegenseitig ausschalten lässt."

"Das 'Sich gegenseitig ausschalten' war das, was Sie bei den Kerlen vor Tagen angewandt haben?" fragt Herr Mann jetzt.

"Ja," antworte ich. "Es war für mich ganz leicht, denn sie hatten ihre Gehirne in den Fäusten, nicht im Kopf! Sie überlegten nicht."

"Aber wenn man zu lange überlegt, kann es auch zu spät zum Reagieren sein!" meint er.

"Deshalb lassen wir unsere Schüler üben, üben, üben. Sie durchlaufen ein kontinuierliches Training. So werden sie mit der Zeit zu einer Choreografie, die ihnen in Fleisch und Blut übergeht. Sie reagieren sicher, ohne lange zu überlegen - und sie gewinnen an Selbstdisziplin!" entgegne ich ihm.

"Ich fürchte, so lange hat Noah keine Zeit mehr," antwortet Herr Mann düster.

"Ist es in den letzten Tagen zu weiteren Angriffen gekommen? In der Schule zum Beispiel?" frage ich mit gekräuselter Stirn.

"In der Schule ist die Pausenaufsicht verstärkt worden. Sie greift frühzeitig ein und sorgt dafür, dass es zu keiner Eskalation kommt. Den Schulweg übernimmt meine Frau. Noah kann nun aber nach den Hausaufgaben nicht mehr vor die Tür," erklärt mir der Vater.

"Das ist kein Zustand!" pflichte ich ihm bei.

Inzwischen haben wir das Foyer wieder erreicht. Noah fragt mich hier:

"Was sind das für Rollen an den Wänden entlang?"

"Das sind Gebetsmühlen," erkläre ich dem Jungen lächelnd. "Wenn man sie dreht, nimmt der Wind die Gebete um Frieden, Glück und Gesundheit mit sich fort. Irgendwann wird das eine oder andere Gebet auch erfüllt!"

Noah läuft spontan auf die Gebetsmühlen zu.

"Immer rechts herumdrehen!" rufe ich ihm schmunzelnd hinterher.

Ich erinnere mich daran, wie ich mit Mama und dem Gelong Peter in jungen Jahren auf den Berg mit der heiligen Quelle gestiegen bin. Dort oben habe ich spontan mein ganzes Gesicht in das Becken getaucht, um möglichst viel des versprochenen Glücks abzubekommen. Noahs Reaktion gerade entspringt ganz sicher dem gleichen Motiv. Er läuft einmal um das Foyer herum von einer Gebetsmühle zur Anderen und dreht sie, bevor er zu uns zurückkommt.

"Kommen Sie morgen mit ihrem Jungen hierher zurück!" biete ich dem Vater zum Abschied an. "Um wieviel Uhr kann ich damit rechnen?"

"Wir können täglich gegen 16Uhr hier sein," antwortet Herr Mann. "Allerdings wird ihn meist seine Mutter bringen müssen. Wie lange wird das Training dauern?"

"Täglich, sagen Sie? Dann reicht erst einmal eine halbe Stunde. Später kann man die Trainingseinheit erweitern. Ich denke, das reicht. Ihre Frau kann in der Zeit Kaffeeklatsch bei meiner ehrwürdigen Mutter halten," entscheide ich.

"Und wieviel würde das Training kosten?" fragt er noch einmal.

Ich schüttele den Kopf und entgegne ihm: "Ich nehme kein Geld! Wenn Sie möchten, spenden Sie dem Kloster hin und wieder einen kleinen Betrag."

"Okay," meint Herr Mann und lächelt erleichtert.

Wir verabschieden uns nun voneinander und ich wende mich wieder zur Treppe.

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages sage ich dem Gelong im Foyer Bescheid und gehe dann auf mein Zimmer. Ich setze mich mit untergeschlagenen Beinen vor meine Liege auf den Boden und beginne mit Meditieren. Nach einiger Zeit der Ruhe berührt mich jemand an der Schulter. Ich öffne die Augen und sehe, dass sich der Gelong mir lautlos genähert hat.

Er tritt ein wenig zur Seite und macht mir den Blick frei auf meinen Besuch. Dann beugt er sich zu mir herunter und flüstert:

"Frau Mann und Sohn möchten den verehrten Lama Rinpoche sprechen."

Ich nicke ihm zu und erhebe mich, um mich meinem Besuch zu nähern. Währenddessen will sich der Gelong leise entfernen.

"Verehrter Bruder," spreche ich ihn an. "Würdet Ihr die Dame zu meiner ehrwürdigen Mutter führen, bevor Ihr an Euren Platz zurückkehrt?"

Der Gelong nickt und verbeugt sich lächelnd. Kurz darauf bin ich mit Noah allein. Er schaut mich erwartungsvoll an.

Ich erkläre dem Jungen:
"Ich könnte mit dir durch Parks und Wälder spazieren gehen und dir die Wildtiere zeigen, wie sie sich bewegen. Du hast gestern im Keller unsere Klosterschüler die Bewegungen einiger Wildtiere nachahmen gesehen. Kungfu durchzieht das ganze Leben. Es kann auch ein ganzes Leben benötigen, um darin meisterlich zu werden. Kungfu ist nicht bloß das, was du mit deinen Augen siehst. Es geht tiefer! Es hat etwas mit Charakter und Einstellung zu tun - und mit deinem Umgang mit deinen Mitmenschen, Noah."

"Was muss ich tun, Meister?" fragt er mich nun, mutlos geworden.

"Hänge zuerst einmal deine Jacke hier an den Haken," fordere ich ihn auf und lächele ihn zuversichtlich an.

Er hat seine Jacke auch jetzt gedankenlos am Eingang des Zimmers ausgezogen und über einen Hocker fallen gelassen. Nun geht er zurück, hebt sie vom Hocker auf und nähert sich mir wieder, um sie an einen Haken am Raumteiler aufzuhängen.

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