Mittwoch, 8. Juni 2022
Eine neue Hoffnung -05
Er zeigt ein Pokerface, wartet eine ganze Weile und korrigiert dann auf 48.000 Rupien. Schließlich einigen wir uns auf die Mitte und ich zahle ihn 46.500 Rupien aus. Ashok bekommt große Augen. Er beugt sich vor und will seine Lippen auf meine Füße drücken, während wir uns lächelnd erheben. Wir heben die gefalteten Hände ans Kinn und verabschieden uns. Ich beuge mich zu dem Jungen hinunter und ziehe ihn auf seine Füße.

Auf dem Rückweg zu unserer Gastfamilie, fragt Frau Müller:

"Du bist ja die geborene Verhandlerin! Hast du das von deinem Vater? Was passiert nun mit dem Restgeld?"

"Hm," meine ich, "wer von den Mittschülern das Geld braucht, kann seinen Anteil zurückerhalten. Den Rest spende ich der Organisation, die die Tharu hier betreut, wenn das okay ist."

Die gleiche Frage stelle ich später meinen Mitschülern. Sie sind einverstanden, das Geld zu spenden. Dann wende ich mich an den Mönch und den Jungen. Ich biete Ashok an, von jetzt an den Mönch zu begleiten und alles von ihm zu lernen, was dieser an Wissen vermitteln kann. Freudig verabschiedet sich der Junge von uns und schaut den Mönch an.

*

Die Woche bei den Tharu ist wie im Flug vorüber gegangen. Die Leute sind uns sehr hilfsbereit und aufmerksam vorgekommen. Entsprechend herzlich fällt der Abschied aus, als der Bus in der Dorfmitte hält und unser Gepäck auf das Dach verladen wird.

Wir haben gelernt, dass die Tharu ursprünglich im Dschungel gelebt haben. Als der Chitwan-Nationalpark eingerichtet worden ist, sind sie zwangsumgesiedelt worden und betreiben nun am Rand des Dschungels ihre Landwirtschaft. Wenn sie Feste feiern, und wir durften eines miterleben, haben sie uns ihre traditionellen Tänze und ihre Musik vorgeführt.

Bevor der Bus abfährt werde ich beinahe von einem Jungen umgerannt. Ich schaue genauer hin und sage überrascht:

"Ashok! What's going on?"

"Apsara!" ruft er aus und schnappt nach Atem. "Do you live on the high mountains there?"

Ich umarme den Jungen und erkläre:
"No, Ashok, I live very far away! In a country called Germany and in a big city called Berlin there."

Ashok macht ein enttäuschtes Gesicht. Ich denke, ich muss ihn noch einmal erinnern:

"Stick to the monk and learn a lot from him for your future!"

"Please, what's your name?" fragt er nun.

Ich streiche ihm durchs Haar und antworte:
"My name is Leni Mrachartz."

Er macht ein zweifelndes Gesicht und bittet:
"Please write it down!"

Ihm zunickend, tue ich ihm den Gefallen. Dann steige auch ich in den Bus und wir begeben uns auf die Rückfahrt nach Katmandu.

*

Nachdem die Touristen weggefahren sind, unter ihnen auch meine Apsara -Engel, Fee, Elfe, Nymphe-, verlasse ich an der Seite des heiligen Mannes unser Dorf. Ich, Ashok, will den Rat der Apsara mit Namen 'Leni' genau befolgen.

Seine Erzählung über den Lebenslauf Buddhas habe ich nun schon oft gehört. Um den Mann und seine Handlungen zu verstehen, frage ich den Sadhu -heiliger Mann-:

"Siddharta hat all den Reichtum seiner Familie zurückgelassen? Was aus seiner Frau und seinem Sohn wird, hat ihn dabei nicht gekümmert? Warum?"

"Ihn hat das Schicksal der Menschen interessiert und er hat sich gefragt, wie sie ihr Leiden beenden können. Darüber hat er nachgedacht, wenn er sich auf seinen Wanderungen einmal niedergelassen hat," antwortet mir der heilige Mann.

"Er wollte also, dass die Menschen nicht mehr leiden," hake ich noch einmal nach.

"Genau!" bekräftigt der Sadhu.

Nun gehe ich eine ganze Weile nachdenklich neben dem Sadhu her. Irgendwann frage ich ihn direkt:

"Und du? Du ziehst umher und erzählst den Menschen die Geschichte. Was bezweckst du damit, Babaji -Vater-?"

"Ich habe mich als junger Mann, ungefähr in deinem Alter, auf die Wanderschaft begeben und bin dem Sadhu gefolgt, der damals in unser Dorf gekommen ist, wie ich zu euch. Ich wollte die gleichen Erfahrungen machen, wie Siddharta vor langer Zeit. Ich wollte über die Meditation mit der Zeit selber zum Erleuchteten werden."

"Und?" frage ich ihn. "Bist du es geworden, Babaji?"

"Egal was du beginnst, mein Junge: es ist noch nie ein Meister aus den Wolken gefallen. Alles braucht seine Zeit! Geduld ist eine wichtige Eigenschaft, und natürlich Gelassenheit. Ein Sadhu muss den Leuten Gutes tun, ihnen Freude bereiten, bescheiden leben und seine Mitmenschen immer wieder seelisch aufrichten. Siddharta Gautama Buddha ist 80 Jahre alt geworden, bis er starb und ins Nirwana einging."

"Du wanderst bisher alleine durch die Landschaft. Gibst du mir als deinem Shiyshya -Schüler- die Upadesha -Lehren-, so dass ich Moksha -Befreiung- erreiche. Ich will dir gerne dienen und dabei meine Augen und Ohren offenhalten, um zu lernen!"

"Dein Interesse zeigt mir, dass in dir eine gute Seele wirkt, mein Sohn!"

Mein Herz macht einen Sprung. Der Sadhu empfiehlt mir:

"Du solltest dich noch einmal umsehen, Ashok. Es wird für lange Zeit das letzte Mal sein."

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Dienstag, 7. Juni 2022
Eine neue Hoffnung -04
Nun betritt er lächelnd unsere Hütte. Emma macht ein empörtes Gesicht. Sie zieht sich unter das Moskitonetz zurück. Der Mann lässt sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder und beginnt:

"Once upon a time there live a boy named Siddharta Gautama..."

Ich bin von der Geschichte gefesselt, ziehe mich während der Erzählung aber doch auf mein Bett unter das Moskitonetz zurück, als mich Mücken zu belästigen beginnen. Nachdem der Mann geendet hat, frage ich ihn:

"Are you a buddhistic priest?"

Er lächelt und erklärt:
"I'm a wandering monk."

"This morning I spoke with a little boy. He said, a holy man tells him much. He is marked with a big red sign at his forehead. Is he a Kamaiya?"

"Yes," antwortet der Mönch. "His family is very poor."

"Hm," mache ich. "This boy called me an Apsara. Does it mean 'angel' or 'fairy'?"

"Yes," bestätigt mir mein Gesprächspartner. "Apsara are attendants of the Bodhisattvas. These are enlightened beings who use their work for the good of people."

"Oh," mache ich nun. "Doesn't a monk also have a disciple?"

"What?" fragt er nach.

"A student," präzisiere ich.

"Yes, sometimes," antwortet der Mann lächelnd.

"What has to happen so that this boy can become your student?" frage ich ihn jetzt.

"Oh, that's different. His owner could demand 50.000 nepal rupees."

Ich mache große Augen und rechne den Betrag mit meinem Handy in Euro um. 365 Euro erscheinen auf dem Display.

'Das dürfte Papa erübrigen können,' denke ich und sage zu dem Mann:

"Please, lay down here and sleep on the floor!"

Ich schiebe meine Decke unter dem Moskitonetz hervor. Der Mann lächelt dankbar und rollt meine Decke zusammen. Darauf bettet er seinen Kopf. Dann schlafe auch ich bald ein.

*

Am nächsten Morgen bitte ich den Mönch, mit uns zu frühstücken. Unsere Gastfamilie begegnet dem Mann mit Ehrerbietung und macht ihm wie selbstverständlich Platz. Auch er erhält eine Schale Reis. Meine Mitschüler und Frau Müller reagieren mit Befremden.

"Wen schleppst du denn da an?" fragt Frau Müller.

"Das ist ein buddhistischer Wandermönch," erkläre ich. "Er hat mir gestern Abend das System der Schuldknechtschaft hier in Nepal erklärt."

"Aber die gibt es doch schon lange nicht mehr!" meint sie.

"Offiziell!" halte ich dagegen. "Ich habe gestern einen Jungen mit einem Sklavenzeichen auf dem Feld entdeckt und mich mit ihm unterhalten. Gestern Abend hat mir der Mönch dann einiges erklärt. Um dem Jungen die Freiheit wiederzugeben, braucht es 50.000 Nepalesische Rupien. Das sind bloß 365 Euro, habe ich umgerechnet! Wenn wir zusammenlegen, könnten wir das Geld aufbringen."

"Woher willst du wissen, dass der Mönch nicht mit dem Geld verschwindet?"

"Dann kommen Sie doch mit zu dem Besitzer," antworte ich ihr. "Bitte!"

Wir haben im Flughafen Katmandu Geld getauscht, um Taschengeld dabei zu haben. Nun bitte ich meine Mitschüler zur Kasse und habe schnell 52.000 Nepalesische Rupien zusammen. Nach dem Frühstück gehen wir hinaus auf die Felder. Bald habe ich den Jungen entdeckt. Ich gehe auf ihn zu und frage ihn:

"Good Morning, what's your name, please?"

"Ashok Gurun, Lady," antwortet er schüchtern.

"Hi Ashok, please, show me your master! I want to speak with him."

Er tritt nun auch auf den Wall, der die Reisfelder voneinander abgrenzt. Sofort kommt ein Mann herbei. Es entspannt sich ein Wortgefecht zwischen den Beiden, von dem ich kein Wort verstehe. Nur einmal scheine ich den Begriff 'Apsara' heraushören zu können. Schließlich lässt er den Jungen mit uns gehen. Ashok führt uns zu einer Hütte aus Backsteinwänden und Wellblechdach. Der Junge geht hinein und kommt kurz darauf mit einem Mann heraus, der eine traditionelle weite weiße Männerhose trägt und darüber ein besticktes buntes Longshirt. Er setzt sich auf einen Hocker neben dem Eingang und bietet uns an, uns zu setzen.

Der Mönch lässt sich vor ihm im Schneidersitz nieder und wir tun Gleiches. Dann bitte ich den Mönch, dass er übersetzt. Anschließend frage ich den Gläubiger der Familie des Jungen, wieviel Rupien er braucht, um dem Jungen die Freiheit zu geben. Der Mann entblößt seine Zähne zu einem breiten Lächeln und erklärt, dass er dafür 70.000 Nepalesische Rupien haben will. Ich lächele und erkläre, dass sei zu viel. Ich würde ihm 35.000 Rupien bieten. Nun meint er, dass das zu wenig sei. Er lacht dabei über das ganze Gesicht. Ich meine:

"Kommen Sie, machen Sie mir ein besseres Angebot. Bedenken Sie, was es bedeutet, das ganze Geld auf einen Schlag in der Hand zu haben, statt in kleinen monatlichen Raten. Auch brauchen Sie dann nicht mehr für Ashoks Ernährung und Kleidung aufkommen. Rechnen Sie sich aus, was Sie dadurch sparen, statt Ashok bis zu seinem Lebensende zu versorgen."

Nun sagt er: "Okay, 55.000 Rupien."

Ich schüttele den Kopf und entgegne ihm:
"Sie sind ein harter Verhandler! Rechnen Sie sich doch wirklich einmal die Ersparnis aus, wenn sie Ashok heute in die Freiheit entlassen. Ich gebe Ihnen 42.000 Rupien. Damit können Sie zufrieden sein."

Der Herr überlegt, dann reduziert er auf 50.000. Ich schüttele lächelnd den Kopf und meine:

"Mein letztes Angebot sind 45.000 Rupien! Kommen Sie, schlagen Sie ein."

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Montag, 6. Juni 2022
Eine neue Hoffnung -03
Sicher hat sie uns "Guten Morgen" gewünscht, interpretiere ich es. Als wir vor die Tür treten fällt mir als Erstes eine große Schüssel voll Wasser direkt an der Tür auf. Ich laufe zurück und hole Waschlappen, Handtuch und mein Zahnputzzeug. Emma, meine Hütten-Mitbewohnerin, macht dasselbe. Nach unserer Morgenhygiene gehen wir nach nebenan in die Hütte der Familie. Dort sitzen alle schon im Kreis und frühstücken.

Wir entschuldigen uns auf Englisch für unser Zuspätkommen und nutzen dabei die gleiche Geste, die die junge Frau heute Morgen gebraucht hat, nur mit einem eher verlegenen Gesichtsausdruck. Nachdem wir uns hinzugesetzt haben, erhalten wir auch eine Reisschale. Wieder nutzen wir zum Essen unsere Finger, wie alle hier.

Nach dem Frühstück schaut Emma nach den Anderen aus unserer Gruppe, während ich durch das Dorf spaziere. Alles ist so neu für mich. Nachdem ich zwischen zwei Hütten hindurchtrete, die etwas weiter auseinander stehen, sehe ich vor mir Männer auf den Feldern arbeiten. Kleine Kinder spielen ausgelassen seitlich an der Baumgrenze des Dschungels.

Ich gehe auf einem Wall weiter ins Feld hinein. Plötzlich fällt mir ein Junge auf, der vielleicht in die vierte Klasse gehen müsste. Der Junge arbeitet hier zwischen den Männern. Als er aufschaut, erkenne ich einen riesigen roten Fleck über der Nasenwurzel, der so unregelmäßig geformt ist, als hätte man ihm flüssiges Wachs dorthin geträufelt.

Ich assoziiere das Zeichen sogleich mit 'Kamaiya', der Bezeichnung für 'hart arbeitender Landarbeiter'. Das bedeutet hier eine Person, die für ihr Essen und Kleidung arbeiten muss, ohne darüber hinaus eine Bezahlung zu erhalten. Überrascht spreche ich ihn an und frage ihn auf Englisch:

"Are you a slave?"

Er erhebt sich und antwortet mir in gebrochenem Englisch:

"I human!"

Sofort entschuldige ich mich:
"Excuse me please, I didn?t want to deny that -Entschuldigung, das wollte ich nicht abstreiten-!"

Ich drehe mich auf dem schmalen Wall um, um wieder ins Dorf zurückzugehen. Da spricht er mich an:

"You Apsara?"

Ich wende mich ihm wieder zu und frage mit verständnislosem Blick:

"A... what?"

"Apsara, stranger in village say fairy, angel!"

Nun lächele ich ihn fröhlich an, weil ich denke, er macht einen Witz und antworte:

"I'm not an angel. I'm a human, too."

Der Junge schaut mich misstrauisch an.
"Perhaps you forgot..."

Ich ziehe lächelnd die Mundwinkel herunter und antworte ihm:

"You are a funny boy. How do you know so much?"

"Sometimes a holy man is in the village."

"Oh, and he told you this?" frage ich noch, aber unser Gespräch wird von einem anderen Landarbeiter gestört, der in ihrer Sprache auf den Jungen einredet.

Nachdenklich gehe ich ins Dorf zurück. Frau Müller kommt mir entgegen und fragt in einer Mischung aus Furcht und Ärger:

"Leni, wo warst du? Wir haben dich überall gesucht!"

Sie legt mir eine Hand in den Rücken und schiebt mich vorwärts.

"Wir haben heute eine Exkursion vor und sind jetzt schon spät dran!"

Auf dem Dorfplatz steht ein Landrover mit Sitzbänken auf der Ladefläche. Schnell steige ich auf. Unser Guide hilft mir und Frau Müller dabei, dann setzt er sich vorne auf den Beifahrersitz und der Wagen setzt sich in Bewegung. Wir fahren in den Dschungel, was hier nicht bedeutet, dass wir uns auf einem Pfad fortbewegen, von undurchdringlichem Grün umgeben.

Der Chitwan-Nationalpark besitzt einzelne Bauminsel, zwischen denen sich hohes Gras befindet, sowie Seen, Moore und Flüsse. Wir sehen wilde Elefanten, Nashörner und Tiger. Unser Guide berichtet, dass es hier noch viel mehr Tierarten gibt, die sich zumeist nicht zeigen. Am gefährlichsten sind die Bären, sagt er. Am Abend erreichen wir wieder unser Dorf.

Während der Safari habe ich den Jungen ganz vergessen. Als wir vom Landrover herunterklettern, sehe ich einen Mann in wallendem safrangelbem Gewand auf dem Dorfplatz sitzen. Um ihn herum sitzen viele junge Erwachsene und lauschen seiner Erzählung. Da durchzuckt ein Gedanke meinen Kopf. Der Junge von heute Vormittag hat von einem 'heiligen Mann' gesprochen. Ob er damit diesen Mann meint?

Ich laufe zu ihm und lasse mich hinter den anderen Zuhörern nieder. Verstehen kann ich den Mann nicht, aber die begleitende Gestik fasziniert mich. Der Mann hat mein Näherkommen und Verweilen registriert und lächelt mir zu, wenn sein Blick mich streift. Da werde ich von Emma angesprochen, die mir gefolgt ist:

"Leni! Was ist los? Komm essen!"

Ich mache eine bedauernde Miene und erhebe mich wieder, um Emma zu unserer Gastfamilie zu folgen. Nach dem Essen erhebe ich mich, um mich mit Emma in unsere Hütte zurückzuziehen. Vor der Hütte unserer Gastfamilie stehe ich plötzlich dem Mann in dem gelben Gewand gegenüber. Verdattert fällt mir nichts anderes ein, als ihm "Good evening" zu wünschen.

Er faltet seine Hände und führt die Fingerspitzen zu seiner Unterlippe. Er antwortet:

"Do you want to hear the story I told?"

"Gladly!" meine ich lächelnd und fordere ihn auf: "Please, come in!"

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