Freitag, 2. Juni 2023
Neue Heimat L98 59b (39)
Monde sind vergangen, ich habe Vertrauen zu dem Himmelswesen gefasst und ihm von unseren Göttersagen erzählt:

"Wir befinden uns hier im Ckiffenga -Weltenwald-. Für uns er ist nicht bloß zur Nutzung bestimmt. Er lebt und steht im ständigen Austausch mit den Ngachi denkenden Wesen-. Der Wald ist sehr komplex. Mit uns im Austausch sind die jagdbaren Tiere-, die Doppeltiere und die Geister. Über allen stehen die Götter. Darunter ist Oschacha -der Schöpfer- der Höchste. Ohne ihn gäbe es das alles nicht. Das Reich der Toten verwaltet Jachi. Dass wir atmen können und der Wind die Pflanzen bestäubt, dafür sorgt Ischl.
Jedes Tier und jede Pflanze besitzen einen Geist, der von innen wirkt. Beim Tod verlässt der Geist den Körper und wandert durch den Wald auf der Suche nach einem ungeborenen Wesen, in das er fahren kann. Ist das nach einer gewissen Zeit noch nicht geschehen, geht der Geist zu Jachi.
Wir Ngachi möchten, dass der Weltenwald so bleibt, wie er schon immer war - und das für immer! Wir möchten in ihm leben können, in guter Gesundheit, und mit uns die Geister, die jagdbaren Tiere und alle Fische. Wir kultivieren nur die Pflanzen, die uns ernähren! Wir möchten, dass der Wald ein ruhiger Ort bleibt, dass der Himmel klar über uns steht, dass sich die Dunkelheit der Nacht weiterhin und mit aller Regelmäßigkeit über die denkenden Wesen und Tierwesen senkt, und dass man die Sterne sehen kann, 'Schimm'!"

"Wenn du damit die Vchhtep ansprichst, liebe Ngachischi. Ich kann nur für mich sprechen. Ich akzeptiere deinen Wunsch rückhaltlos! Die Vchhtep, die ich kenne, schätze ich genauso ein. Aber ob das für alle Zeiten gilt, weiß heute niemand zu sagen. Man könnte versuchen, einen Vertrag zu schließen, der euch deinen Wunsch garantiert. Vielleicht kann auch jemand von den Ngachi dauerhaft bei den Vchhtep leben und auf deren Entscheidungen im Sinne der Ngachi einwirken?"

"Das sollten wir im nächsten Rat thematisieren, 'Schimm'!"

Im Laufe der Zeit ist in mir neben Vertrauen auch Zuneigung zu dem Vchhtep gewachsen. Es hat sich bei einer Mutprobe als großer Tschangßu -Mann- erwiesen. Das ist folgendermaßen geschehen:

Ich habe ihm von dem 'Geist der Lüfte' erzählt, der damals sein Flugwesen besiegt hat. Das Himmelswesen hat nun wissen wollen, wo die 'Geister der Lüfte' leben. Die Luftgeister sind Einzelgänger. Sie dulden nur zur Paarung einen anderen Luftgeist in ihrer Nähe. Darum ist es damals auch zu dem Luftkampf gekommen.

Trotzdem lässt sich 'Schimm' nicht davon abbringen, ein Nest in einem Baumwipfel zu suchen und getarnt hinter Blattwerk den Luftgeist zu beobachten. Ich halte es für ein tollkühnes Unternehmen. Es kommt zum Streit. 'Schimm' verlässt daraufhin den Heimatbaum und läuft in Richtung des Sees. Ich folge ihm mit Abstand, auch um ihn gegen Angriffe der Waldtiere zu schützen.

Beim See angekommen, klettert das Himmelswesen auf einen besonders hohen Baum, um sich aus dessen Laub heraus zu orientieren. Ich bin ihm hinterher geklettert und so schauen wir gemeinsam, ob sich etwas tut. Es dauert einige Stunden bis der Luftgeist kommt und sich auf einem der benachbarten Bäume niederlässt. Er hat ein Tier im Maul und man kann sehen, dass es hinter einem Flechtwerk nun munter wird.

'Schimm' will in das Flechtwerk hineinschauen. Das Himmelswesen klettert von dem Baum herunter und auf den Baum hoch, auf dem der Luftgeist wohnt. Der Stamm des Baumes bietet Deckung. Wir sehen in dem Flechtwerk einen jungen Luftgeist. Es handelt sich also um ein Chock -Nest-. Der junge Luftgeist dürfte bald ausfliegen. Er ist zwar längst noch nicht so groß wie das Elterntier, aber ich glaube, ich habe manchmal schon 'Geister der Lüfte' in der Größe des Jungtieres am Himmel gesehen.

An den folgenden Tagen klettern wir regelmäßig auf den Baum. Nachdem fast zwei Hände voll Tage vergangen sind, klettert der junge Luftgeist auf den Rand des Chock -Nestes-, breitet seine Flughaut aus und stürzt sich aus dem Nest. Das Elterntier beobachtet alles von über den Baumwipfeln. Das Jungtier schlägt ein paar Male mit den Flughäuten und landet auf einem benachbarten Baum. Dort lässt es sich nieder und faltet seine Flughäute an seinen Körper.

Das Elterntier hat noch eine letzte Schleife gezogen und segelt davon. Es wird erst zur nächsten Brutsaison wiederkommen. Plötzlich hebt 'Schimm' seinen Bogen und ein Betäubungspfeil verlässt die Sehne. Der junge Luftgeist kippt von dem Ast, während seine riesigen Krallen ihn noch halten. Der Körper rutscht jetzt aber an das Ende des Astes, der sich nach unten biegt. Nun stürzt der junge Luftgeist ab.

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Dienstag, 30. Mai 2023
Neue Heimat L98 59b (38)
Die vielen Geistwesen im Wald, sind wahrscheinlich verstorbene Wesen, die noch kein neues Wesen gefunden haben, das im Bauch seiner Mutter heranwächst.

In der Abenddämmerung wage ich mich mit 'Schimm' probeweise ein Stück vom Heimatbaum weg. 'Schimm' trägt ein langes Messer und ich bin mit Pfeil und Bogen bewaffnet. In der Nähe des Heimatbaumes treiben sich manchmal ungefährliche Tiere herum, die sich in unserer Nähe sicherer fühlen. Ich spüre ein solches Tier und pirsche mich näher heran. Dabei gilt es lautlos vorzugehen. 'Schimm' bleibt zurück und achtet darauf, was und wie ich handele. Bald bin ich nahe genug heran für einen sicheren Pfeilschuss. Mein Pfeil verlässt die Sehne und betäubt durch das Pfeilgift das Tier auf der Stelle.

'Schimm' huscht fast lautlos vor. Es schneidet dem Tier die Gurgel durch. Dabei sagt er:

"Mein Bruder, ich danke dir. Dein Geist verbindet sich mit dem Schöpfer und dein Körper wird Teil der denkenden Wesen."

Ich freue mich. Meine Bemühungen tragen langsam Früchte. Wir tragen das tote Tier zu dem Chef der Jagdgruppe. Bei uns ist es Brauch, dass wir unsere Ssmah -Jagdbeute- mit der Gemeinschaft teilen. Er nimmt die Gabe gerne an und gibt sie an die Frauen weiter, die das Tier zerlegen und aufteilen.

*

Am Abend, nachdem ich meine Textnachricht abgesendet habe, schaue ich wieder auf meinen Kommunikator. Ich kann auf dem Display die Antwort des Kommandanten lesen. Er hat geschrieben:

"Hallo, Mister Albright. Ngachi nennen sich die Indigenen also, okay. Leider war die wissenschaftliche Abteilung, die unser Projekt auf der Erde betreut hat, so gedankenlos oder so überheblich, zu denken, wir wären auf einem erdähnlichen Planeten die einzige Spezies. Hätte man uns Etymologen mitgegeben, wären wir jetzt in einer besseren Position.
Stellen Sie Fragen! Lernen Sie alles, was man über Sprache, Bräuche und Mythologie in Erfahrung bringen kann! Assimilieren Sie sich, werden Sie im günstigsten Fall zu einem Ngachi. Das befähigt uns später, mögliche Fettnäpfchen zu umgehen und zu einem friedlichen Zusammenleben zu kommen. Wir müssen uns diesen Planeten schließlich irgendwie teilen.
P.S. Wenn möglich, lehren Sie ihrem Lehrer, ihre Mimik und Gestik zu lesen. Vielleicht können Sie auch unsere Sprache weitergeben. Dann sind Sie und ihr Lehrer Mittler zwischen den Kulturen. Wichtig sind immer die Achtung und der Respekt vor dem Anderen!"

'Hm,' denke ich mir. 'Das wird mich viel Arbeit kosten. Aber es stimmt! Im Ergebnis entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den Menschen und den Ngachi.'

*

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Samstag, 27. Mai 2023
Neue Heimat L98 59b (37)
Dort zeige ich ihm zuerst, wie man den Bogen spannt. 'Schimm' schaut zu und probiert es danach auch. Meine Haut wird dunkler, während ich mich danach hinter ihm platziere und seine Hände führe.

Als ich einigermaßen zufrieden bin, gebe ich ihm einen Pfeil und nehme mir auch einen. Ich zeige ihm, wie man einen Pfeil auf die Sehne legt und zielt. Dann schieße ich den Pfeil auf mein Ziel ab und schaue 'Schimm' erwartungsvoll an. Es probiert es nun auch und trifft knapp neben das Ziel. Ich laufe nach vorne, hebe den Pfeil auf und bringe ihn zu ihm zurück. Nun reiche ich ihm den Pfeil mit einer ruckartigen Bewegung und zeige wieder auf das Ziel. Bevor 'Schimm' fertig ist, mischt sich der Mann ein, der den Jagdtrupp geleitet und das Himmelswesen zum Heimatbaum gebracht hat. Verächtlich sagt er:

"Dieses Vchhtep wird nichts lernen! Es sieht nichts."

Meine Haut färbt sich schwarz. Genervt antworte ich ihm:

"Tckumm -Geh weg-!"

Nachdem er den Bogen richtig hält und die Sehne kräftig durchziehen kann, trifft sein Pfeil auch das Ziel. Jetzt entferne ich mich vielleicht dreißig Laufschritte seitlich von ihm. Dann drehe ich mich um, komme auf ihn zugelaufen, spanne den Bogen im Lauf und schieße den Pfeil ab. Drei Schritte danach stoppe ich meinen Lauf, drehe mich zum Ziel und meine Haut zeigt ein prächtiges Muster. Nun wende ich mich 'Schimm' zu und frage:

"Ze a -Hast du gesehen-?"

Sogleich erinnere ich mich, dass er mich noch nicht versteht. Ich gehe zu den Trieben und entflechte sie wieder. Anschließend ziehe ich ihn zu dem Platz, an dem wir uns gestern schon niedergelassen haben. Dort nehme ich den Bogen in die Hand und spreche ihm vor:

"Tchhe."

Als er das Wort nachsprechen kann, kommt das Wort für Pfeil an die Reihe:

"Chißou."

Dieses Wort scheint ihm Probleme zu bereiten. Es beginnt mit einen Fauchlaut und in der Mitte befindet sich ein Zischlaut. Auch diesmal verlange ich, es mir solange vorzusprechen bis ich zufrieden bin.

"Ckem."

Dieses Wort bedeutet 'schießen', einen Pfeil von der Sehne schicken. Der erste Laut ist ein Knacklaut. Auch diesen Laut scheint es in ihrer Muttersprache nicht zu geben. Aber 'Schimm' gibt sich Mühe.

Anschließend erhebe ich mich und fordere auch 'Schimm' dazu auf aufzustehen. Danach streifen wir unter der Krone des Ckelchichi -Heimatbaumes- umher. Ich erkläre ihm den Unterschied zwischen den Jonga -jagdbaren Wesen- und den ßijonga -Doppelwesen-, deren Leben immer mit einem unserer Leben verknüpft ist. Stirbt ein Doppelwesen, stirbt gleichzeitig auch ein ßiche -denkendes Wesen-, oder umgekehrt.

Außerdem gibt es noch die Ssoche -Geistwesen- im Wald. Sie helfen den Wesen im Wald, wenn sie in Bedrängnis sind. So zeigt sich der Ckiffenga -Weltenwald- als sehr komplex. Über den Ssoche -Geistwesen- stehen unsere fecki -Götter-. Der Höchste ist Oschacha, der Schöpfer. Direkt unter ihm steht an zweiter Stelle Jachi, der Geist der Toten.

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