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Samstag, 4. Juni 2022
Eine neue Hoffnung -01
mariant, 12:01h
Unsere Lehrerin in Gesellschaftslehre, Frau Müller, betritt unseren Klassenraum. In dem Moment, in dem sie uns grüßt, ersterben alle Privatgespräche und unsere Aufmerksamkeit richtet sich nach vorne. Frau Müller ist eine beliebte Lehrerin, denn sie schafft es, jeden von uns in ihrem Stoff mitzunehmen. Wir grüßen sie im Chor zurück und sind neugierig, was sie heute mit uns vorhat.
Frau Müller legt ein Buch auf ihr Lehrerpult und wendet ihre Aufmerksamkeit der Klasse zu. Sie fragt:
"Wer von euch weiß, was der Begriff 'indigenes Volk' aussagt?"
Mehrere von uns melden sich. Frau Müller überblickt die Klasse und spricht nun einen von uns persönlich an:
"Herr Dibke, was verbinden Sie mit dem Begriff?"
"Ein indigenes Volk ist ein Volk, das in einer Landschaft schon ansässig ist, als ein anderes Volk dort einwandert," antwortet er und schaut sie zuversichtlich an.
Unsere Lehrerin nickt lächelnd. Sie fragt jetzt:
"Wer kann mir Beispiele indigener Völker nennen?"
Wieder melden sich mehrere Schüler und Schülerinnen. Sie fragt die ihr am nächsten sitzende Schülerin:
"Frau Schmichke, was fällt Ihnen dazu ein?"
"Die Indianer in Nord- und Südamerika."
"Stimmt!" bestätigt unsere Lehrerin. "Wer weiß noch ein anderes Volk?"
"Die Germanen zur Zeit der Römer!" wirft ein Schüler dazwischen.
Frau Müller lächelt und windet sich:
"Joah, das kann man mit Einschränkung gelten lassen. Kennt jemand noch weitere indigene Völker, vielleicht auf anderen Kontinenten?"
Sie schaut in ratlose Gesichter und zählt noch einige auf:
"Da wären die Khoi im Süden Afrikas, die Tuareg in der Sahara und dem Sahel. Auf dem japanischen Archipel haben wir die Ainu. In Nordeuropa sind es die Saami. Im Inneren Asiens gibt es sicher noch einige. Eins davon lebt in Nordindien und in Nepal. Es sind die Tharu. Was wisst ihr über die Tharu?"
Kein Finger hebt sich. Die Klasse schaut ihre Lehrerin erwartungsvoll an. Frau Müller lässt eine Gedankenpause zu, bevor sie weiterredet.
"Vor etwa fünf- bis sechstausend Jahren sollen sich indogermanische Stämme aus Zentralasien vorzugsweise nach Westen und Süden verbreitet haben. Sie haben damals auch den indischen Subkontinent besiedelt, obwohl das Land nicht leer war. Die ansässige Bevölkerung wurde entweder assimiliert oder in Randgebiete gedrängt.
So mussten die Vorfahren der Tharu nach Norden in den Dschungel am Fuß des Himalaya ausweichen. Der Name 'Tharu' bedeutet übersetzt daher 'Waldmensch'. Sie haben eine eigene Kultur entwickelt.
Ein Aspekt davon, die Kamaiya oder 'Schuldknechtschaft' ist erst 2002 per Gesetz abgeschafft. Aber wie viele dort immer noch in Sklaverei leben, weiß niemand. Vielen der befreiten Menschen wurde Land zugewiesen, dass sich dann nicht als landwirtschaftlich nutzbar erwies. So kam es, dass viele Bauern ihre Kinder aus wirtschaftlicher Not verkauft haben, um selber genug zu essen zu haben, und gleichzeitig ihre Kinder in den Haushalten der reichen Grundbesitzer versorgt zu wissen.
Diese Praxis wurde 2013 zwar offiziell verboten, aber trotzdem haben Hilfsorganisationen alle Hände voll zu tun."
Frau Müller baut nun einen Beamer auf und lässt uns den Film einer Hilforganisation sehen. Diese Organisation ist, wie viele andere, auf Spenden angewiesen. Es wird gezeigt, wie eine Delegation der Organisation ein neu errichtetes Schulwohnheim besucht. Der Sprecher im Hintergrund erklärt, dass inzwischen 12.000 Kamlahari -schwer arbeitende Frau- aus der Leibeigenschaft befreit werden konnten. Ausbildungsstipendien für fast 200 Mädchen konnten aufgebracht werden. Eine junge Frau hat mit den Spendengeldern studieren können und kämpft heute als Rechtsanwältin Seite an Seite mit der Hilfsorganisation gegen die Sklaverei.
Drüber vergeht die Schulstunde wie im Flug. Ich habe nicht gewusst, dass es im 21. Jahrhundert immer noch Sklaverei gibt! Ich, das heißt, mein Name ist Leni Mrachartz. Mein Vater ist im Bankenbereich tätig. Er prüft die Kreditwürdigkeit der Antragsteller. Zuhause habe ich eine unbeschwerte Kindheit verbringen dürfen und bin nun in der neunten Klasse des Gymnasiums unserer Heimatstadt.
*
Nun sitze ich, Leni Mrachartz, mit sieben Mitschülern im Flugzeug. Zweidrittel unserer Klasse haben sich entschieden, lieber einen Betrag ihrer Wahl an die Hilfsorganisation zu spenden, als eine Woche ihrer Ferien zu opfern und Land und Leute kennen zu lernen. Wir mussten mehrere Impfungen über uns ergehen lassen, unter anderem auch gegen Malaria, bevor wir fliegen durften. Frau Müller hat von jedem Mitreisenden über 600 Euro eingesammelt, von denen über 200 Euro an die Gastfamilie geht. So unterstützen wir die Menschen dort auch direkt.
Der Flug ab Berlin nach Katmandu soll 12 Stunden und 35 Minuten dauern. Es ist gleichzeitig auch mein erster Flug. Ungefähr zwei Stunden haben die Formalitäten vor dem Start gedauert, dann dürfen wir das Flugzeug entern. Wir suchen unsere Sitzplätze und machen es uns bequem. Dann ertönt ein Gong und ich spüre eine Vibration. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich, dass wir uns rasend schnell fortbewegen. Dann werde ich in den Sitz gepresst und die Maschine steigt in einem irren Winkel in den Himmel. Nach einigen Minuten kippt das Flugzeug in die horizontale Lage zurück und wir dürfen den Gurt wieder lösen.
Die Flugbegleiter gehen herum und fragen jeden, ob er ein Imbiss haben möchte. Dabei lassen sie ihren Blick schweifen. Ich bestelle nur eine Kleinigkeit, denn ich habe vor, während des Großteils des Fluges zu schlafen. Bald darauf bin ich auch eingeschlummert.
Als ich wach werde, haben wir den Himalaya erreicht. Wir haben 9:40 Ortszeit und sollen in einer halben Stunde etwa in Katmandu landen. Mein erster Blick geht aus dem Kabinenfenster. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist einfach überwältigend! Wir fliegen über den Wolken. Viele Berggipfel in weiß und grau durchstoßen die Wolkendecke und erscheinen mir zum Greifen nah.
Frau Müller legt ein Buch auf ihr Lehrerpult und wendet ihre Aufmerksamkeit der Klasse zu. Sie fragt:
"Wer von euch weiß, was der Begriff 'indigenes Volk' aussagt?"
Mehrere von uns melden sich. Frau Müller überblickt die Klasse und spricht nun einen von uns persönlich an:
"Herr Dibke, was verbinden Sie mit dem Begriff?"
"Ein indigenes Volk ist ein Volk, das in einer Landschaft schon ansässig ist, als ein anderes Volk dort einwandert," antwortet er und schaut sie zuversichtlich an.
Unsere Lehrerin nickt lächelnd. Sie fragt jetzt:
"Wer kann mir Beispiele indigener Völker nennen?"
Wieder melden sich mehrere Schüler und Schülerinnen. Sie fragt die ihr am nächsten sitzende Schülerin:
"Frau Schmichke, was fällt Ihnen dazu ein?"
"Die Indianer in Nord- und Südamerika."
"Stimmt!" bestätigt unsere Lehrerin. "Wer weiß noch ein anderes Volk?"
"Die Germanen zur Zeit der Römer!" wirft ein Schüler dazwischen.
Frau Müller lächelt und windet sich:
"Joah, das kann man mit Einschränkung gelten lassen. Kennt jemand noch weitere indigene Völker, vielleicht auf anderen Kontinenten?"
Sie schaut in ratlose Gesichter und zählt noch einige auf:
"Da wären die Khoi im Süden Afrikas, die Tuareg in der Sahara und dem Sahel. Auf dem japanischen Archipel haben wir die Ainu. In Nordeuropa sind es die Saami. Im Inneren Asiens gibt es sicher noch einige. Eins davon lebt in Nordindien und in Nepal. Es sind die Tharu. Was wisst ihr über die Tharu?"
Kein Finger hebt sich. Die Klasse schaut ihre Lehrerin erwartungsvoll an. Frau Müller lässt eine Gedankenpause zu, bevor sie weiterredet.
"Vor etwa fünf- bis sechstausend Jahren sollen sich indogermanische Stämme aus Zentralasien vorzugsweise nach Westen und Süden verbreitet haben. Sie haben damals auch den indischen Subkontinent besiedelt, obwohl das Land nicht leer war. Die ansässige Bevölkerung wurde entweder assimiliert oder in Randgebiete gedrängt.
So mussten die Vorfahren der Tharu nach Norden in den Dschungel am Fuß des Himalaya ausweichen. Der Name 'Tharu' bedeutet übersetzt daher 'Waldmensch'. Sie haben eine eigene Kultur entwickelt.
Ein Aspekt davon, die Kamaiya oder 'Schuldknechtschaft' ist erst 2002 per Gesetz abgeschafft. Aber wie viele dort immer noch in Sklaverei leben, weiß niemand. Vielen der befreiten Menschen wurde Land zugewiesen, dass sich dann nicht als landwirtschaftlich nutzbar erwies. So kam es, dass viele Bauern ihre Kinder aus wirtschaftlicher Not verkauft haben, um selber genug zu essen zu haben, und gleichzeitig ihre Kinder in den Haushalten der reichen Grundbesitzer versorgt zu wissen.
Diese Praxis wurde 2013 zwar offiziell verboten, aber trotzdem haben Hilfsorganisationen alle Hände voll zu tun."
Frau Müller baut nun einen Beamer auf und lässt uns den Film einer Hilforganisation sehen. Diese Organisation ist, wie viele andere, auf Spenden angewiesen. Es wird gezeigt, wie eine Delegation der Organisation ein neu errichtetes Schulwohnheim besucht. Der Sprecher im Hintergrund erklärt, dass inzwischen 12.000 Kamlahari -schwer arbeitende Frau- aus der Leibeigenschaft befreit werden konnten. Ausbildungsstipendien für fast 200 Mädchen konnten aufgebracht werden. Eine junge Frau hat mit den Spendengeldern studieren können und kämpft heute als Rechtsanwältin Seite an Seite mit der Hilfsorganisation gegen die Sklaverei.
Drüber vergeht die Schulstunde wie im Flug. Ich habe nicht gewusst, dass es im 21. Jahrhundert immer noch Sklaverei gibt! Ich, das heißt, mein Name ist Leni Mrachartz. Mein Vater ist im Bankenbereich tätig. Er prüft die Kreditwürdigkeit der Antragsteller. Zuhause habe ich eine unbeschwerte Kindheit verbringen dürfen und bin nun in der neunten Klasse des Gymnasiums unserer Heimatstadt.
*
Nun sitze ich, Leni Mrachartz, mit sieben Mitschülern im Flugzeug. Zweidrittel unserer Klasse haben sich entschieden, lieber einen Betrag ihrer Wahl an die Hilfsorganisation zu spenden, als eine Woche ihrer Ferien zu opfern und Land und Leute kennen zu lernen. Wir mussten mehrere Impfungen über uns ergehen lassen, unter anderem auch gegen Malaria, bevor wir fliegen durften. Frau Müller hat von jedem Mitreisenden über 600 Euro eingesammelt, von denen über 200 Euro an die Gastfamilie geht. So unterstützen wir die Menschen dort auch direkt.
Der Flug ab Berlin nach Katmandu soll 12 Stunden und 35 Minuten dauern. Es ist gleichzeitig auch mein erster Flug. Ungefähr zwei Stunden haben die Formalitäten vor dem Start gedauert, dann dürfen wir das Flugzeug entern. Wir suchen unsere Sitzplätze und machen es uns bequem. Dann ertönt ein Gong und ich spüre eine Vibration. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich, dass wir uns rasend schnell fortbewegen. Dann werde ich in den Sitz gepresst und die Maschine steigt in einem irren Winkel in den Himmel. Nach einigen Minuten kippt das Flugzeug in die horizontale Lage zurück und wir dürfen den Gurt wieder lösen.
Die Flugbegleiter gehen herum und fragen jeden, ob er ein Imbiss haben möchte. Dabei lassen sie ihren Blick schweifen. Ich bestelle nur eine Kleinigkeit, denn ich habe vor, während des Großteils des Fluges zu schlafen. Bald darauf bin ich auch eingeschlummert.
Als ich wach werde, haben wir den Himalaya erreicht. Wir haben 9:40 Ortszeit und sollen in einer halben Stunde etwa in Katmandu landen. Mein erster Blick geht aus dem Kabinenfenster. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist einfach überwältigend! Wir fliegen über den Wolken. Viele Berggipfel in weiß und grau durchstoßen die Wolkendecke und erscheinen mir zum Greifen nah.
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