Donnerstag, 30. Juni 2022
Aufbruch ins All -03
Vor mir sitzen etwa ein Dutzend Männer rund um im Karree aufgestellte Tische. Mister Berlin führt mich zu zwei leeren Stühlen und setzt sich neben mich. Danach stellt er mir die anwesenden Männer vor. Es sind ausnahmslos Leiter verschiedener Fachrichtungen der wissenschaftlichen Abteilung im Präsidialamt.

Nun ist es an mir, mich der Runde vorzustellen und meine Geschichte zu erzählen, warum ich nun vor ihnen sitze. Dann werde ich gefragt:

"Wie stellen Sie sich nun ihre weitere Zukunft vor?"

"Ich habe es mir in den vergangenen Wochen überlegt. Da ich persönlich ungebunden bin, will ich mich hier auf dem Mars niederlassen. Mein Willkommensgeschenk kann die Rettungskapsel sein, wenn man es schafft, sie unbeschadet zur Marsoberfläche zu bringen. Die darin enthaltene Technik kann ihnen einen Schwung hin zu modernerer Technik geben," biete ich der Runde an.

"Das ist ein interessantes Angebot. Aber der Präsident hat hier das letzte Wort, da es auch ein wenig die Politik tangiert!" antwortet einer der Herren.

Die anderen Männer murmeln zustimmend. Ein weiterer Herr aus der Runde benennt nun ein ganz profanes Problem:

"Wo soll Mister Armstrong aber in der Zeit wohnen, während über ihn im Außenamt entschieden wird?"

Nach kurzer Diskussion erklärt sich Mister Berlin dazu bereit, mich in der Zeit bei sich aufzunehmen. Dann ist die Sitzung beendet. Die Herren erheben sich und streben auf den Ausgang zu. Da auch Mister Berlin aufsteht, erhebe ich mich ebenfalls und schaue ihn erwartungsvoll an.

Nun erklärt mir Mister Berlin, dass ich in der nächsten Zeit in der ingenieurtechnischen Abteilung arbeiten werde. Dort soll ich die Leute dabei beraten, eine Routine zu erarbeiten, um die Rettungskapsel unbeschadet zur Marsoberfläche herunter zu bringen und auseinanderzunehmen, ohne dass dabei etwas zerstört wird.

Er klärt mich über die Arbeitszeiten auf dem Mars auf. Im Gegensatz zur Erde, wo noch immer der Dreischichtbetrieb gilt mit dreimal acht Stunden rund um die Uhr, hat man schon früh auf dem Mars den Vierschichtbetrieb mit viermal sechs Stunden eingeführt.

"Dafür erhalten sie 2000 Stein monatlich, was nach marsianischer Zeitrechnung etwa fünf Wochen ausmacht."

Mein etwas dümmlicher Gesichtsausdruck lässt Mister Berlin kurz auflachen. Er erklärt mir:

"Da wir hier, wohin wir auch sehen, von Steinen umgeben sind - wenn man von der ursprünglichen marsianischen Natur ausgeht -, haben unsere Vorfahren sinnigerweise die allgemeingültige Währung STEIN genannt. Sie werden sich schnell daran gewöhnen!"

Anschließend führt Mister Berlin, der Leiter der ingenieurtechnischen Abteilung, mich in seinen Bereich. Er ruft einige Raumfahrt-Ingenieure herbei und nun überlegen wir zu sechst wie wir an die Rettungskapsel herankommen. Wieder begrüßt er die Leute mit dem Wort "Sol!"

Nach Schichtwechsel begleite ich Mister Berlin nachhause. Unterwegs frage ich ihn, was es nun mit dem Wort 'Sol!' auf sich hat. Mister Berlin nickt lächelnd und erklärt:

"Ein Marstag ist etwa eine halbe irdische Stunde länger als der Tag auf der Erde. Der Mars dreht sich ein wenig langsamer um seine Achse als die Erde. Darum haben die ersten Raumfahrer, die auf dem Mars landeten, den Marstag zur Unterscheidung 'Sol' genannt. Wir haben das übernommen, und so ist aus einem 'Guten Tag' oder 'Hallo' im Laufe der Zeit einfach 'Sol' geworden."

Er führt mich den Weg zurück durch die Gänge und an Mistress Albright vorbei durch eine zweiflügelige Tür aus buntem Glas vor das Haus. Hier stehen wir nun vor einer hellerleuchteten Straßenkreuzung unter der überhängenden Häuserecke, die von Säulen gestützt wird. Eine Fahrspur führt von der Straße am Eingang vorbei und mündet in die Querstraße.

Mister Berlin führt mich zum vordersten, der wartenden Wagen. Wir steigen ein und er tippt ein Fahrziel in das Navi. Dann hält er eine Plastikkarte an das Gerät. Sofort setzt sich der führerlose Wagen in Bewegung, fädelt sich in den Verkehrsfluss ein und strebt dem angegebenen Ziel zu. Dabei kann ich sehen, dass unter der Decke der Lavaröhre, in der Olympia liegt, Tageslichtlampen angebracht sind. Es ist zurzeit taghell.

Bald darauf haben wir einen anderen der von außen immer gleich aussehenden Wohnblocks erreicht. Der Wagen hält als letztes Fahrzeug in einer langen Reihe vor dem Eingang dieses Blocks. Mister Berlin hält seine Karte noch einmal an das Gerät und die Tür fährt auf. Wir steigen aus und gehen auf den Eingang zu. Auch hier betreten wir als erstes ein Foyer. Die Concierge hinter ihrem Schalter schaut kurz auf und Mister Berlin grüßt sie im Vorbeigehen.

Er führt mich zum Treppenhaus und hält mir die Tür eines Aufzuges auf, um den sich die Treppe windet. Dann fahren wir bis zur obersten Etage. Als ich aus dem Aufzug trete, stehe ich in einer Parklandschaft, die man auf dem Dach des Wohnblocks angepflanzt hat. In regelmäßigen Abständen stehen eiförmige Häuser zwischen den Pflanzen. Wir gehen auf das uns Nächststehende zu und Mister Berlin öffnet die Tür mit einer anderen Plastikkarte.

Nun kommen wir als Erstes in eine Garderobe, von der mehrere Türen abgehen und eine Treppe nach oben führt. Nachdem er seine Jacke aufgehangen hat, führt er mich über die Treppe nach oben.

Eine Etage höher liegt ein größerer Wohnraum, Küche und Essplatz. Aus der Küche hört man Arbeitsgeräusche. Er sagt laut:

"Hi, Liebes! Ich bin zuhause!"

Eine Frau in seinem Alter kommt aus der Küche. Sie lächelt, als sie uns sieht und begrüßt Mister Berlin mit einer Umarmung. Mister Berlin stellt uns nun gegenseitig vor:

"Meggi, das ist Mister Armstrong. Er wohnt ab heute in einem der Gästezimmer. Wenn das Amt über seine Zukunft entschieden hat, wird er sich eine eigene Wohnung suchen. Mister Armstrong, das ist meine Frau Meggi."

Ich begrüße meine Wirtin höflich. Sie schickt ihren Mann und mich schon einmal zum Essplatz. Wir lassen uns am Tisch nieder. Während Mistress Berlin die Speisen aufträgt, sagt Mister Berlin zu mir:

"Mister Armstrong, der Tag ist noch jung. Ich denke, wir gehen nach dem Essen hinunter und machen einen Bummel durch die Geschäfte. Sie brauchen so etwas wie eine Grundausstattung."

Ich nicke dazu. Er hat nicht unrecht. Ich habe in der Quarantäne bisher eine Einweg-Zahnbürste benutzt. Das sollte sich ändern. Auch einen eigenen Kamm und einen Rasierer werde ich brauchen.

Bevor wir mit dem Mittagessen beginnen, schenkt Mistress Berlin drei Tassen Tee aus. Mister Berlin stellt die Tassen vor uns, tunkt dann zwei Finger seiner Hand in seine Tasse und lässt die Tropfen auf einen Stein vor sich in der Tischplatte fallen. Dabei spricht er:

"Allumfassende Natur, segne unseren Gast und den heutigen 'Sol'!"

Danach wendet er sich mir zu und erklärt:
"Für uns bedeutet der 'Heimstein', wie wir ihn nennen, unsere Verbindung zur Natur. Vor der Haus- oder Heimgründung macht jeder Marsianer eine meditative Wanderung in unberührte Gegenden innerhalb der Lavaröhre. Fällt ihm ein besonderer Stein auf, nimmt er ihn mit als seinen 'Heimstein', der ihn sein ganzes Leben begleitet. Man sagt, dass der Stein seinen Menschen findet, nicht umgekehrt."

"Ah, okay," meine ich unsicher.

Ich sehe, dass ich noch einiges lernen muss, wenn ich Marsianer werden will. Mister Berlin fordert mich nun auf, es ihm gleich zu tun. Also tauche ich ebenfalls meine Finger in meinen Tee, spritze den Stein nass und wiederhole den Segensspruch.

Auch nach dem Essen sitze ich noch eine Weile mit Mister Berlin beim Tee. In dieser Zeit bereitet Mistress Berlin eine Etage höher ein Gästezimmer für mich vor. Die Kinder der Eheleute haben schon eigene Familien gegründet. So werden deren Kinderzimmer aktuell nur noch für Besuche oder Gäste verwendet.

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