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Donnerstag, 10. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -17
Ich lasse Noah eine Gedankenpause, um das Gehörte zu verarbeiten.

"Ein Gelong nutzt sein Wissen immer zur Verteidigung," rede ich weiter, "niemals zum Angriff! Er wird niemals offensiv handeln.
So, damit sollte es für heute gut sein. Geh auf dein Zimmer und meditiere! Befreie deinen Geist von allen Fragen, werde ruhig. Zweifelst du an dir, dann wirst du versagen. Lerne, dich zu beherrschen!"

*

Nach einem Essen im Thronsaal soll ich, Lama Rinpoche, zurückbleiben, während die anderen Brüder den Raum verlassen, um ihre verschiedenen Tätigkeiten aufzunehmen. Als ich mit Seiner Heiligkeit alleine bin, schlägt er den Gong. Ein Gelong führt einen älteren Zivilisten herein. Erfreut erkenne ich in ihm den ehrenwerten Herrn Li. Vor Seiner Heiligkeit geht der Mann auf die Knie und verbeugt sich tief.

Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, ergreift das Wort:

"Erhebe dich, mein Sohn!"

Herr Li erhebt sich. Nun, auf Augenhöhe mit dem sitzenden Khenchen Lama, sagt Herr Li:

"Ich freue mich, dass Eure Heiligkeit mir diese Audienz gewährt. Ich habe ein delikates Anliegen: Meine liebe Tochter, die einmal hier Klosterschülerin war, ist inzwischen zur Leiterin der Abteilung Europa des amerikanischen Immobilienkonzerns aufgestiegen, der dieses Kloster erbauen durfte. Sie hat in der letzten Zeit mehrere Drohbriefe erhalten und fühlt sich im Augenblick nicht sicher. Der Konzern hat ihr einen gepanzerten Wagen gestellt und Personenschützer. Sie besteht aber darauf, einen ehrwürdigen Lama in ihrer Nähe zu wissen, um ruhig schlafen zu können..."

Seine Heiligkeit und ich tauschen Blicke. Dann fragt er den Mann:

"Ihr Name ist Li? Es geht um die ehemalige Schülerin Li Yong Tai?"

"Ja, Eure Heiligkeit."

"Das ganze Geld der Welt kann dem Menschen keine Sicherheit geben. Personenschützer tragen Waffen. Das führt dazu, dass auch die Gegenseite Waffen in Erwägung zieht. Eine Spirale ohne Ende entsteht...
Ich werde Lama Rinpoche mit der heiklen Aufgabe betrauen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass er den Anforderungen gewachsen ist. Deine verehrte Tochter wird sich seinen Anordnungen zum Thema Sicherheit beugen! Auch ihre Mitarbeiter müssen sich daran halten!"

"Das wird sie!" versichert Herr Li erleichtert. "Und sie wird auch ihre Mitarbeiter dahingehend anweisen!"

"Lama Rinpoche wird sich in Kürze bei der verehrten Li Yong Tai melden!"

"Ich danke Euer Heiligkeit für Sein Wohlwollen!" antwortet Herr Li und bewegt sich langsam rückwärts zur Tür des Thronsaales.

Als ich mit Seiner Heiligkeit alleine bin, wendet er sich an mich:

"Bruder Rinpoche, du wirst einen schusssicheren Anzug brauchen!"

Ich nicke und hebe die gefalteten Hände zum Kinn. Dabei spreche ich eine erste Vermutung aus:

"Entweder ist die Schwester der Mafia im Weg oder der große Feind im Norden (-von Tibet-) hat die Aktion in Hongkong nicht vergessen."

"Du wirst es herausfinden, Bruder Rinpoche!"

"Ja, Euer Heiligkeit," antworte ich und bin nun auch entlassen.

Ich gehe vom Khenchen Lama zu Noah. Er sitzt meditierend in seinem Zimmer, wie so oft schon in letzter Zeit. Eine wärmende Flamme der Freude steigt dann jedes Mal in mir auf, wenn ich ihn so vorfinde. Noah befindet sich auf dem rechten Weg!

*

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Mittwoch, 9. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -16
Noah ist inzwischen alt genug, selbständig über sein Leben zu entscheiden. Also schreibe ich ihm nach Rücksprache mit Seiner Heiligkeit, unserem Khenchen Lama zurück, dass er willkommen ist. Er soll nur schreiben, wann sein Zug in der nächsten Großstadt hält. Wenige Wochen danach fahre ich mit einem Überlandbus zum Zielbahnhof und warte auf den jungen Mann.

Nach einer schüchternen Begrüßung seinerseits fahren wir mit dem Überlandbus in das 30 Kilometer vom Kloster entfernte Dorf. Unterwegs lasse ich mir von ihm über sein Leben in den vergangenen Jahren berichten. Sein Schulfreund Markus hat jetzt eine Ausbildung im Bankfach begonnen. Eigentlich haben Markus und Noahs Vater ihm zugeredet, sich ebenfalls dort zu bewerben. Aber Noah meint, die Entscheidung noch ein paar Jahre aufschieben zu können.

"Etwas in meinem Herzen zieht mich zu euch ins Kloster. Darüber muss ich mir erst einmal klar werden," meint er. "Habt Ihr in all den Jahren etwas über Yong Tai gehört?"

Das muss ich ihm leider verneinen. Enttäuscht antwortet er:

"Ich habe einen besonderen Baum in der Nähe meines Elternhauses, eine Zwillingsbirke. Diesen Platz kennt nicht einmal Markus. Dort habe ich oft im Gras gelegen und dem Zug der Wolken zugeschaut. Ich habe mir vorgestellt, an was mich die Form der einen oder anderen Wolke erinnert. Ab und zu habe ich die Augen geschlossen und nach innen gehorcht. Dabei habe ich oft Yong Tai gesehen..."

"Interessant, was du da erzählst," erwidere ich. "Ich werde dir das Meditieren beibringen!"

"Sie ist so unerreichbar, und mir doch so nah!" stellt er fest.

Wir nehmen ein Taxi für die restlichen Kilometer bis zum Rastplatz an der Bundesstraße. Während dieser Fahrt erkläre ich ihm den Fahrplan für seine Zeit in unserem Kloster:

"Du wirst als Klosterschüler in der buddhistischen Philosophie ausgebildet. Kungfu steht ebenfalls auf dem Lehrplan. Ebenso wirst du dich in Meditation üben. Einmal im Jahr werden alle Klosterschüler geprüft. Irgendwann steht jeder Klosterschüler vor der Entscheidung, sich in der Wirtschaft draußen zu bewerben oder dem Kloster zu dienen und Mönch zu werden.
Würdest du als Mönch im Kloster bleiben, entscheiden deine Handlungen und Meditationsfertigkeiten, wann du ein Lama wirst."

"Das ging bei dir aber ziemlich schnell, Dennis," hält er mir vor. "Du warst in meinem jetzigen Alter schon ein Lama!"

Ich lächele ihn an und sage:
"Ich gelte als Reinkarnation eines geachteten Lamas und stand deshalb unter ständiger besonderer Beobachtung. Das war wirklich nicht leicht damals. Nach zehn Jahren Klosterschule bin ich daher nicht erst Gelong geworden, sondern wurde gleich zum Lama geweiht, weil meine Prüfer sich sicher waren."

*

Drei Jahre ist Noah nun schon im Kloster. Nach Ende des Bundesfreiwilligendienstes ist er geblieben. Außerhalb der Schulzeit wurde er mein persönlicher Schüler. Er macht unter meiner direkten Aufsicht seine Hausaufgaben und vervollkommnet seine Fertigkeiten in Kungfu und Meditation. Mit meiner Hilfe hat er in den Jahren so viel angenommen, wie ich in all den Jahren in Nepal. Daneben führen wir viele Gespräche über den Buddhismus im Allgemeinen und die buddhistischen Mönche im Besonderen. Auch die verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus kommen dabei zur Sprache, und deren Unterschiede.

Irgendwie kommen wir bei den Gesprächen auch auf unser Hongkong-Abenteuer zu sprechen. Das sei etwas gewesen, das ihm gefallen hätte, meint er. Sein alltägliches Leben seither, sei eher langweilig verlaufen.

Ich ziehe die Augenbraue hoch und erkläre:
"Abenteuer, ha! Große Erlebnisse, Nervenkitzel - nach solchen Dingen sehnt sich ein Gelong -Mönch- nicht! Du bist leichtfertig! - Du musst ruhiger werden!"

"Aber Tsopo -Meister-," bittet er nun. "Ich habe schon viel gelernt! Ich werde dich nicht enttäuschen! Ich möchte irgendwann Gelong werden!"

"Hüte dich vor Zorn, Furcht und Aggressivität! Sie ergreifen schnell von dir Besitz! Du musst diese Gefühle bekämpfen!"

"Sind diese Gefühle so stark?" fragt er, leicht verunsichert.

"Nein, aber sie sind schneller an der Oberfläche deiner Gedanken. Sie sind verführerischer. Nur wenn man Ruhe bewahrt, erkennt man die Unterschiede zwischen Yin und Yang. Nur wenn man den inneren Frieden bewahrt, kann man ihn auch nach außen tragen!"

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Dienstag, 8. Februar 2022
Doch die Liebe währet ewiglich -15
Ich soll nun die Bilder mit dem Bild der Umgebung meines früheren nepalesischen Klosters vergleichen, wie ich es in Erinnerung habe. Das ausgesuchte Gebirgstal will die Immobilienfirma des Freundes von Herrn Li erwerben und ein buddhistisches Kloster hineinbauen.

Nach einigem Hin- und Herblättern zeige ich auf ein weites Tal, in dem sich eine Bundesstraße an einer Steilwand entlang schlängelt. Ich frage den Mann:

"Wie weit außerhalb der nächstgelegenen Ortschaft liegt dieses Tal?"

Der Mann schaut mich verständnislos an und antwortet:

"Dieses Tal ist etwas abgelegen. In beiden Richtungen der Bundesstraße kommen kleine Dörfer in dreißig bis fünfzig Kilometer Entfernung. Die nächste größere Stadt liegt 200 Kilometer entfernt."

Ich lächele ihn an und sage:
"Dann ließe sich dort eine Raststätte mit großem Parkplatz an der Bundesstraße bauen. Dahinter, in den Hang hinein käme dann das Kloster mit Ställen und anderen Wirtschaftsgebäuden. Hinter dem Eingangsgebäude befände sich ein Innenhof mit Säulengängen am Rand und ein hinterer Gebäudeteil mit einem Stupa."

"Ah," lächelt der Mann, "Sie bevorzugen die ganz große Lösung!"

Ich lächele zurück und meine:
"Wir wollen weitgehend autonom leben, unsere Nahrungsmittel und Energie selbst erzeugen. Die Straße ermöglicht den Gläubigen, das Kloster einfach mit dem Auto zu erreichen. Der Rastplatz mit Gästezimmern im Komfort einer Jugendherberge ermöglicht es ihnen, erst am nächsten Tag die möglicherweise weite Heimreise anzutreten. Das Restaurant des Rastplatzes kümmert sich um ihr leibliches Wohl.
Natürlich darf der Rastplatz jedem Vorbeifahrenden offenstehen, der Hunger verspürt oder eine Pause braucht!"

Der Mann nickt. Nach einer Gedankenpause meint er:
"Beim Kloster selbst bevorzugen Sie also ebenso die große Lösung?"

"Jaein," meine ich. "Schaf-, Ziegen- und Hühnerställe, sowie Weiden und Felder - Metzgerei und Mühle sollten im Untergeschoß vorhanden sein, um autark sein zu können. Eine Näherei... Darüber eine Klosterschule mit Schulhof. Räume für die Gläubigen und die Mönche. Nicht ganz so groß wie in Nepal, da hier nicht so viele Schüler, Mönche und Nonnen leben werden."

Wieder nickt der Mann. Er macht sich Notizen. Anschließend verabschiedet er sich von uns und gibt bekannt, dass er darüber mit seinem Chef reden will.

In den folgenden zwei Jahren ist in dem ausgesuchten Tal ein neues Kloster entstanden. Den alten Standort unseres Klosters haben wir an einen sozialen Verein übergeben, der die Fahrradwerkstatt mit übernehmen will. Außerdem soll dort eine Nahrungsmittel-Ausgabestelle eingerichtet werden und Schlafplätze für Obdachlose.

Die Näherei meiner Mutter ist komplett an den neuen Standort umgezogen. Für die Landwirtschaft und die Herberge haben wir Lamas aus einem Kloster nahe Straßburg zugewiesen bekommen, mit dem wir schon länger einen losen Kontakt pflegen.

Inzwischen haben wir der Immobilienfirma fast ein Drittel der Kosten in Raten zurückzahlen können. Bankzinsen fallen nicht an, da die Firma sie uns spendet.

Und noch etwas ist geschehen: Nach der Rückkehr in Deutschland und mit Beginn des neuen Schuljahres bricht der Kontakt zu Noah ab. In Gedanken wünsche ich ihm alles Gute für sein Leben. Sein Vater hat es mir wohl übelgenommen, ihn und Noah in das Hongkong-Abenteuer hineingezogen zu haben.

Im Kloster Ryumon Ji in Weiterswiller, fünfzig Kilometer nördlich von Straßburg lehrt Seine Heiligkeit Trülku Khön Dungsay, das Oberhaupt der Sakya-Schule des tibetischen Buddhismus. Er hat zwei Söhne Lama Khön Trizin und Lama Khön Gyana.

Die Sakya Schule, eine der vier Schulen des tibetischen Buddhismus, lehrt nicht die sexuelle Enthaltsamkeit für Mönche, wie die anderen drei Schulen, da ja auch die Familie Khön seit 900 Jahren den Trülku stellt, der dieser Schule vorsteht. Wir haben vereinbart, dass wir untereinander Lehrer austauschen und im ständigen religiösen Dialog bleiben.

*

Jetzt, nach sieben Jahren ohne Kontakt zu Noah, und nach dem Umzug unseres Klosters in einen zentraleren Bereich Deutschlands, der von den Medien begleitet worden ist, erhalte ich einen Brief. Noah, inzwischen 19 Jahre alt, fragt an, ob er eine Zeitlang das Klosterleben kennenlernen darf. Er hat die Schule beendet und auf einem Berufskolleg das Abitur gemacht.

Nun wäre es an der Zeit, sich um eine Ausbildung zu kümmern. Er aber hat sich beim Bundesfreiwilligendienst gemeldet und will die Zeit in unserem Kloster verbringen, um sich in dieser Zeit über Verschiedenes klarzuwerden, wie er schreibt.

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