Dienstag, 19. April 2022
Lama Rinpoche -24
"Ich darf dich begleiten!" schließt er erfreut aus meinen Ausführungen. Seine Augen strahlen mich an.

"Langsam!" bremse ich ihn. "Zuerst wirst du mit mir im Anzug trainieren. Dies sind weitere Übungen auf deinem Lebensweg. Welche Richtung dein Lebensweg nimmt, weiß man immer erst an den Scheidepunkten!"

Ich erhebe mich und zusammen gehen wir in die Kleiderkammer. Dort ziehen wir eine weite Hose in grauem Außenstoff an. Es folgen Schnürstiefel und eine lange Jacke. Darunter trage ich mein safrangelbes Tshirt und Noah sein dunkelrotes. So angezogen gehen wir in einen kleinen Trainingsraum und beginnen mit dem Krafttraining. In einer Trainingspause fragt Noah:

"Eine bedrängte Schwester in Hamburg. Was ist da los, mein Tsopo -Meister-?"

"Wir sollen sie beschützen. Sie hat zwar schon Personenschützer von ihrer Firma gestellt bekommen. Aber sie fühlt sich in Gegenwart eines buddhistischen Mönches aus unserem Kloster sicherer. Sie kennt unseren Ehrenkodex und unsere Fertigkeiten in Verteidigung. Eine Anzeige bei der Polizei läuft auch schon, wegen der Drohbriefe. Der Auftrag wäre mit der Verhaftung der Schuldigen beendet."

"Das klingt unspektakulär!" meint Noah.

"Das sollte es auch sein, mein junger Schüler!" antworte ich. "Aber die Situation könnte eskalieren und dann heißt es, unter allen Umständen Ruhe bewahren und überlegt handeln!"

"Dazu fühle ich mich in der Lage," meint er.

"Hm," mache ich und schaue ihm in die Augen. "Würdest du mich begleiten, wirst du in Situationen kommen, in denen du Angst bekommst. Das ist menschlich! Du darfst dich von ihr aber niemals beherrschen lassen! Auch dann nicht, wenn es sich dabei um die Angst um nahestehende Personen handelt! Wenn jemand zum Beispiel deine liebe Mutter angreift und sie sinkt verletzt zu Boden: Niemals darfst du dich dem Zorn hingeben und blinder Aggressivität den Vorrang in deinen Gedanken einräumen. Damit würdest du dich schwächen und deiner Mutter einen Bärendienst erweisen, statt ihr zu helfen!"

Als ich seine Mutter in die Überlegungen hineinziehe, werden Noahs Augen groß. Sein Atem geht schneller. Also senke ich die Hand und fordere ihn auf:

"Ausatmen!"

Dann hebe ich die Hand und sage:
"Einatmen!"

Dies wiederhole ich mehrmals, bis er sich beruhigt hat. Anschließend meine ich:

"Siehst du! Die Angst um eine nahestehende geliebte Person lässt dich noch immer alles vergessen, was du bisher gelernt hast. Du bist noch nicht bereit!"

Nachdem wir uns im schusssicheren Anzug mit Leichtigkeit bewegen können, erhalte ich von Seiner Heiligkeit zwei Bahnfahrkarten. Mama bringt uns mit dem Kleinlieferwagen zum Bahnhof. Sie hat so einen undefinierbaren Blick drauf und sagt zum Abschied:

"Pass auf dich und Noah auf, Dennis!"

Ich nehme sie in den Arm und verspreche es ihr. Dann nehmen wir in dem Intercity nach Hamburg Platz und fahren drei Stunden, bis der Zug den dortigen Hauptbahnhof erreicht. Ich habe Noah trotz Bedenken mitgenommen, um seinen Charakter weiter zu bilden und damit seine Ausbildung weiterzuführen. Außerdem kennt er unsere Auftraggeberin aus seiner Kindheit.

Vom Hamburger Hauptbahnhof werden wir mit einer schweren Limousine abgeholt und ins Bankenviertel gefahren. Dort hat unsere Auftraggeberin die oberen Etagen eines Bürohochhauses angemietet. Die oberste Etage dient ihr als Wohnung, mit einer Reihe von Gästezimmern und Zimmern für Hausangestellte.

Aus der Tiefgarage fahren wir in Begleitung des Chauffeurs mit dem Aufzug in die neunte Etage. Dabei denke ich kurz an das Mädel von damals und unsere Schwärmerei füreinander. Unwillkürlich werfe ich einen Zipfel des roten Mantels der Mönchskleidung über meine Schulter. Noah, der genauso gekleidet ist, schaut mich an. Ich lächele und er erwidert es.

Aus dem Aufzug betreten wir direkt ein wohnlich eingerichtetes Foyer. Unsere Auftraggeberin empfängt uns in Begleitung eines Mannes in schwarzer Lederkleidung mit einer Schusswaffe im Schulterhalfter.

Ich verbeuge mich und begrüße sie, bevor sie ein Wort an uns richten kann:

"Verehrte Frau Li, es ist mir eine große Freude, Euch gesund wiederzusehen."

Sie neigt höflich ihren Kopf und antwortet:
"Die Wiedersehensfreude ist ganz meinerseits! Ich hätte Euch gerne schon viel früher und unter anderen Umständen wiedergesehen, ehrwürdiger Lama Rinpoche."

Sich Noah zuwendend, schaut sie erst erstaunt, schenkt ihm dann aber ein strahlendes Lächeln. Sie sagt:

"Noah, du? Meine Güte, bist du groß geworden!"

Mein Begleiter, bisher stumm die neuen Eindrücke verarbeitend, antwortet ihr:

"Du aber auch... Ich meine... Du bist noch schöner geworden!"

Sie lacht fröhlich auf und neigt ihren Kopf.

"Noah," erklärt sie ihm. "Du wirst für mich immer der kleine Junge von damals bleiben, mit seinen witzigen Einfällen."

Ich schalte mich ein und verspreche ihr:
"Ich kann Euch versichern, dass Sie unsere Anwesenheit nicht behelligen wird, verehrte Frau Li!"

Li Yong Tai bietet uns Platz an. Wir setzen uns in die Sitzgruppe. Ihr Begleiter bleibt stehen und stellt sich vor:

"Ich bin der Personenschützer der Dame. Sie hat mich über Ihren Auftrag informiert. Die Situation ist gefährlicher als die Chefin bereit ist zuzugeben!"

"Ich brauche keine weiteren schießwütigen Cowboys," weist sie ihn zurecht. "Ich brauche Antworten! Ich will wissen, wer mich töten will und warum!"

"Wir sind hier, um Euch zu beschützen!" werfe ich dazwischen. "Nicht um Nachforschungen anzustellen. Dafür ist hierzulande die Polizei zuständig!"

Noah mischt sich ein und verspricht:
"Wir werden herausfinden, wer dahintersteckt, Yong Tai!"

Ich wende mich Noah zu und weise ihn zurecht:
"Wir werden unseren Auftrag nicht ausweiten, mein junger Schüler!"

Noah rudert etwas zurück, als er antwortet:
"Natürlich dient das nur dazu, die ehrenwerte Dame zu beschützen, verehrter Tsopo -Meister-!"

Yong Tai ist unserem verbalen Schlagabtausch mit gerunzelter Stirn gefolgt. Sie wirft vermittelnd ein:

"Vielleicht werden allein durch Eure Anwesenheit die Geheimnisse gelüftet - in der Art, dass der oder die Verbrecher sich aus der Deckung wagen. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet. Ich ziehe mich zurück."

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Montag, 18. April 2022
Lama Rinpoche -23
"Das ging bei dir aber ziemlich schnell, Dennis," hält er mir vor. "Du warst in meinem jetzigen Alter schon ein Lama!"

Ich lächele ihn an und sage:
"Ich gelte als Reinkarnation eines geachteten Lamas und stand deshalb unter ständiger besonderer Beobachtung. Das war wirklich nicht leicht damals. Nach zehn Jahren Klosterschule bin ich daher nicht erst Gelong geworden, sondern wurde gleich zum Lama geweiht, weil meine Prüfer sich sicher waren."

Nachdem wir im Kloster eingetroffen sind, zeige ich ihm den Schlafsaal für Klosterschüler und deren Speiseraum. Ich erkläre ihm auch, dass sie reihum Küchendienst haben und dass dazu auch gehört, die Gelong -Mönche- im Thronsaal zu bedienen.
Nach Ende des Bundesfreiwilligendienstes ist Noah bei uns geblieben. Drei Jahre ist er nun schon im Kloster. Außerhalb der Schulzeit wurde er mein persönlicher Schüler. Er macht unter meiner direkten Aufsicht seine Hausaufgaben und vervollkommnet seine Fertigkeiten in Kungfu und Meditation. Daneben führen wir viele Gespräche über den Buddhismus im Allgemeinen und die buddhistischen Mönche im Besonderen. Auch die verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus kommen dabei zur Sprache, und deren Unterschiede.

Irgendwie kommen wir bei den Gesprächen auch auf unser Hongkong-Abenteuer zu sprechen. Das sei etwas gewesen, das ihm gefallen hätte, meint er. Sein alltägliches Leben seither, sei eher langweilig verlaufen.

Ich ziehe die Augenbraue hoch und erkläre:
"Abenteuer, ha! Große Erlebnisse, Nervenkitzel - Nach solchen Dingen sehnt sich ein Gelong -Mönch- nicht! Du bist leichtfertig! - Du musst gelassener werden!"

"Aber Tsopo -Meister-," bittet er nun. "Ich habe schon viel gelernt! Ich werde dich nicht enttäuschen! Ich möchte irgendwann Gelong werden!"

"Hüte dich vor Zorn, Furcht und Aggressivität! Sie ergreifen schnell von dir Besitz! Du musst diese Gefühle bekämpfen!"

"Sind diese Gefühle so stark?" fragt er, leicht verunsichert.

"Nein, aber sie sind schneller an der Oberfläche deiner Gedanken. Sie sind verführerischer. Nur wenn man Ruhe bewahrt, erkennt man die Unterschiede zwischen Yin und Yang. Nur wenn man den inneren Frieden bewahrt, kann man ihn auch nach außen tragen!"

Ich lasse Noah eine Gedankenpause, um das Gehörte zu verarbeiten.

"Ein Gelong nutzt sein Wissen immer zur Verteidigung," rede ich weiter, "niemals zum Angriff! Er wird niemals offensiv handeln.
So, damit sollte es für heute gut sein. Geh auf dein Zimmer und meditiere! Befreie deinen Geist von allen Fragen, werde ruhig. Zweifelst du an dir, dann wirst du versagen. Lerne, dich zu beherrschen!"

*

Monate danach bittet mich Seine Heiligkeit, einer Audienz beizuwohnen. Ich begebe mich in den Thronsaal und setze mich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden neben dem Sessel des Khenchen Lama und warte. Seine Heiligkeit schlägt den Gong. Ein Gelong führt einen älteren Zivilisten herein. Erfreut erkenne ich in ihm den ehrenwerten Herrn Li. Vor Seiner Heiligkeit geht der Mann auf die Knie und verbeugt sich tief.

Seine Heiligkeit, der Khenchen Lama, ergreift das Wort:

"Erhebe dich, mein Sohn!"

Herr Li erhebt sich. Nun, auf Augenhöhe mit dem sitzenden Khenchen Lama, sagt Herr Li:

"Ich freue mich, dass Eure Heiligkeit mir diese Audienz gewährt. Ich habe ein delikates Anliegen: Meine liebe Tochter, die einmal hier Klosterschülerin war, ist inzwischen zur Leiterin der Abteilung Europa des amerikanischen Immobilienkonzerns aufgestiegen, der dieses Kloster erbauen durfte. Sie hat in der letzten Zeit mehrere Drohbriefe erhalten und fühlt sich im Augenblick nicht sicher. Der Konzern hat ihr einen gepanzerten Wagen gestellt und Personenschützer. Sie besteht aber darauf, einen ehrwürdigen Lama in ihrer Nähe zu wissen, um ruhig schlafen zu können."

Seine Heiligkeit und ich tauschen Blicke. Grundsätzlich helfen wir, wo wir können. Hier müssen wir aus Dankbarkeit etwas tun. Dann fragt er den Besucher:

"Ihr Name ist Li? Es geht um die ehemalige Schülerin Li Yong Tai?"

"Ja, Eure Heiligkeit."

"Das ganze Geld der Welt kann dem Menschen keine Sicherheit geben. Personenschützer tragen Waffen. Das führt dazu, dass auch die Gegenseite Waffen in Erwägung zieht. Eine Spirale ohne Ende entsteht...
Ich werde Lama Rinpoche mit der heiklen Aufgabe betrauen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass er den Anforderungen gewachsen ist. Deine verehrte Tochter wird sich seinen Anordnungen zum Thema Sicherheit beugen! Auch ihre Mitarbeiter müssen sich daranhalten!"

"Das wird sie!" versichert Herr Li erleichtert. "Und sie wird auch ihre Mitarbeiter dahingehend anweisen!"

"Lama Rinpoche wird sich in Kürze bei der verehrten Li Yong Tai melden!"

"Ich danke Eurer Heiligkeit für Sein Wohlwollen!" antwortet Herr Li und bewegt sich langsam rückwärts zur Tür des Thronsaales.

Als ich mit Seiner Heiligkeit alleine bin, wendet er sich an mich:

"Bruder Rinpoche, du wirst einen schusssicheren Anzug brauchen!"

Ich nicke und hebe die gefalteten Hände zum Kinn. Dabei spreche ich eine erste Vermutung aus:

"Entweder ist die Schwester der Mafia im Weg oder der große Feind im Norden (-von Tibet-) hat die Aktion in Hongkong nicht vergessen."

"Du wirst es herausfinden, Bruder Rinpoche!"

"Ja, Eure Heiligkeit," antworte ich und bin nun auch entlassen.

Ich gehe vom Khenchen Lama direkt zu Noah. Er sitzt meditierend in seinem Zimmer, wie so oft schon in letzter Zeit. Eine wärmende Flamme der Freude steigt dann jedes Mal in mir auf, wenn ich ihn so vorfinde. Noah befindet sich auf dem rechten Weg!

Mich geräuschlos neben ihn niederlassend, warte ich ab. Eine ganze Weile später öffnet Noah die Augen und wendet sich mir zu. Ich hebe die gefalteten Hände und eröffne ihm:

"Seine Heiligkeit schickt mich nach Hamburg, um einer bedrängten Schwester zur Seite zu stehen."

"Hat Lama Rinpoche einen Auftrag für mich, für die Zeit seiner Abwesenheit?" fragt Noah in ruhigem Ton.

"Deine Meditationsübungen haben dich die Angst, den Zorn und die Aggressivität beherrschen gelernt?" frage ich zurück.

Noah macht große Augen. Ich erkläre es ihm:
"Seine Heiligkeit hat mir empfohlen, bei meinem Auftrag einen schusssicheren Anzug zu tragen. Das Kleidungsstück ist schwer, aber es schützt vor feigen Heckenschützen, die aus dem Verborgenen agieren. Um den Anzug zu beherrschen, muss man zuerst einmal Krafttraining im Anzug machen. Auch Reaktionstraining! Man darf den Anzug nicht mehr als Bürde empfinden, quasi vergessen, dass man ihn trägt. Das dauert ein paar Tage intensiven Trainings! Man muss lernen, auch im Anzug selbstsicher und beherrscht zu sein!"

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Sonntag, 17. April 2022
Lama Rinpoche -22
Ich soll nun die Bilder mit dem Bild der Umgebung meines früheren nepalesischen Klosters vergleichen, wie ich es in Erinnerung habe. Das ausgesuchte Gebirgstal will die Immobilienfirma des Freundes von Herrn Li erwerben und ein buddhistisches Kloster hineinbauen.

Nach einigem Hin- und Herblättern zeige ich auf ein weites Tal, in dem sich eine Bundesstraße an einer Steilwand entlang schlängelt. Ich frage den Mann:

"Wie weit außerhalb der nächstgelegenen Ortschaft liegt dieses Tal?"

Der Mann schaut mich verständnislos an und antwortet:

"Dieses Tal ist etwas abgelegen. In beiden Richtungen der Bundesstraße kommen kleine Ortschaften in dreißig bis fünfzig Kilometer Entfernung. Die nächste größere Stadt liegt 200 Kilometer entfernt."

Ich lächele ihn an und sage:
"Dann ließe sich dort eine Raststätte mit großem Parkplatz an der Bundesstraße bauen. Dahinter, in den Hang hinein käme dann das Kloster mit Ställen und anderen Wirtschaftsgebäuden. Hinter dem Eingangsgebäude befände sich ein Innenhof mit Säulengängen am Rand und ein hinterer Gebäudeteil mit einem Stupa."

"Ah," lächelt der Mann, "Sie bevorzugen die ganz große Lösung!"

Ich lächele zurück und meine:
"Wir wollen weitgehend autonom leben, unsere Nahrungsmittel und Energie selbst erzeugen. Die Straße ermöglicht den Gläubigen, das Kloster einfach mit dem Auto zu erreichen. Der Rastplatz mit Gästezimmern im Komfort einer Jugendherberge ermöglicht es ihnen, erst am nächsten Tag die möglicherweise weite Heimreise anzutreten. Das Restaurant des Rastplatzes kümmert sich um ihr leibliches Wohl. Natürlich darf der Rastplatz jedem Vorbeifahrenden offenstehen, der Hunger verspürt oder eine Pause braucht!"

Der Mann nickt. Nach einer Gedankenpause meint er:
"Beim Kloster selbst bevorzugen Sie also ebenso die große Lösung?"

"Jaein," meine ich. "Schaf-, Ziegen- und Hühnerställe, sowie Weiden und Felder - Metzgerei und Mühle sollten im Untergeschoß vorhanden sein, um autark sein zu können. Eine Näherei... Darüber eine Klosterschule mit Schulhof. Räume für die Gläubigen und die Mönche. Nicht ganz so groß wie in Nepal, da hier nicht so viele Schüler, Mönche und Nonnen leben werden."

Wieder nickt der Mann. Er macht sich Notizen. Anschließend verabschiedet er sich von uns und gibt bekannt, dass er darüber mit seinem Chef sprechen will.

In den folgenden zwei Jahren ist in dem ausgesuchten Tal ein neues Kloster entstanden. Den alten Standort unseres Klosters haben wir an einen sozialen Verein übergeben. Dort soll eine Nahrungsmittel-Ausgabestelle eingerichtet werden und Schlafplätze für Obdachlose.

Die Näherei meiner Mutter ist komplett an den neuen Standort umgezogen. Für die Landwirtschaft und die Herberge haben wir Lamas aus einem Kloster nahe Straßburg zugewiesen bekommen, mit dem wir schon länger einen losen Kontakt pflegen.

Inzwischen haben wir der Immobilienfirma fast ein Drittel der Kosten in Raten zurückzahlen können. Bankzinsen fallen nicht an, da die Firma sie uns spendet.

Und noch etwas ist geschehen: Nach der Rückkehr in Deutschland und mit Beginn des neuen Schuljahres bricht der Kontakt zu Noah ab. In Gedanken wünsche ich ihm alles Gute für sein Leben. Sein Vater hat es mir wohl übelgenommen, ihn und Noah in das Hongkong-Abenteuer hineingezogen zu haben.

Im Kloster Ryumon Ji in Weiterswiller, fünfzig Kilometer nördlich von Straßburg lehrt Seine Heiligkeit Trülku Khön Dungsay das Oberhaupt der Sakya-Schule des tibetischen Buddhismus. Er hat zwei Söhne Lama Khön Trizin und Lama Khön Gyana.

Die Sakya Schule, eine der vier Schulen des tibetischen Buddhismus, lehrt nicht die sexuelle Enthaltsamkeit für Mönche, wie die anderen drei Schulen, da ja auch die Familie Khön seit 900 Jahren den Trülku stellt, der dieser Schule vorsteht. Wir haben vereinbart, dass wir untereinander Lehrer austauschen und im ständigen religiösen Dialog bleiben.

Jetzt, nach sieben Jahren ohne Kontakt zu Noah, und nach dem Umzug unseres Klosters in einen zentraleren Bereich Deutschlands, der von den Medien begleitet worden ist, erhalte ich einen Brief. Noah, inzwischen 19 Jahre alt, fragt an, ob er eine Zeitlang das Klosterleben kennenlernen darf. Er hat die Schule beendet und auf einem Berufskolleg das Abitur gemacht.

Nun wäre es an der Zeit, sich um eine Ausbildung zu kümmern. Er hat sich aber beim Bundesfreiwilligendienst gemeldet und will die Zeit in unserem Kloster verbringen, um sich in dieser Zeit über Verschiedenes klarzuwerden, wie er schreibt.

Noah ist inzwischen alt genug, selbständig über sein Leben zu entscheiden. Also schreibe ich ihm nach Rücksprache mit Seiner Heiligkeit zurück, dass er willkommen ist. Er soll nur schreiben, wann sein Zug in der nächsten Großstadt hält. Wenige Wochen danach fahre ich mit dem Kombiwagen des Klosters dorthin und warte auf den jungen Mann.

Nach einer schüchternen Begrüßung seinerseits fahren wir zu unserem Kloster zurück. Unterwegs lasse ich mir von ihm über sein Leben in den vergangenen Jahren berichten. Sein Schulfreund Markus hat jetzt eine Ausbildung im Bankfach begonnen. Eigentlich haben Markus und Noahs Vater ihm zugeredet, sich ebenfalls dort zu bewerben. Aber Noah meint, die Entscheidung noch ein paar Jahre aufschieben zu können.

"Etwas in meinem Herzen zieht mich zu euch ins Kloster. Darüber muss ich mir erst einmal klar werden," meint er. "Habt Ihr in all den Jahren etwas über Yong Tai gehört?"

Das muss ich ihm leider verneinen. Enttäuscht antwortet er:

"Ich habe einen besonderen Baum in der Nähe meines Elternhauses, eine Zwillingsbirke. Diesen Platz kennt nicht einmal Markus. Dort habe ich oft im Gras gelegen und dem Zug der Wolken zugeschaut. Ich habe mir vorgestellt, an was mich die Form der einen oder anderen Wolke erinnert. Ab und zu habe ich die Augen geschlossen und nach innen gehorcht. Dabei habe ich oft Yong Tai gesehen..."

"Interessant, was du da erzählst," erwidere ich. "Ich werde dich das Meditieren lehren!"

"Sie ist so unerreichbar, und mir doch so nah!" stellt er fest.

Ich erkläre ihm nun den Fahrplan für seine Zeit in unserem Kloster:

"Du wirst als Klosterschüler in der buddhistischen Philosophie ausgebildet. Kungfu steht ebenfalls auf dem Lehrplan. Ebenso wirst du dich in Meditation üben. Einmal im Jahr werden alle Klosterschüler geprüft. Irgendwann steht jeder Klosterschüler vor der Entscheidung, sich in der Wirtschaft draußen zu bewerben oder dem Kloster zu dienen und Mönch zu werden. Würdest du als Mönch im Kloster bleiben, entscheiden deine Handlungen und Meditationsfertigkeiten, wann du ein Lama wirst."

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