Donnerstag, 5. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 04
Irgendwann findet dieser innere Kritiker nichts mehr zum Kritisieren. Der Zustand der Neutralität ist erreicht. Der Kritiker hat Pause und es bleibt nur die nicht wertende Aufmerksamkeit übrig.

Nun versuche ich die Wurzeln jener Gedanken zu erreichen, die dafür sorgen, dass der Quell der Gedanken einfach nicht abreißt. Willentlich kommt man an den Bewusstseinszustand des 'Zeugen' nicht heran. Man muss ihn sich erarbeiten, indem man die Konfliktpunkte und die Quelle der Störgedanken und der Störgefühle in angemessenem Tempo löst.

Paramapaavan -seine Heiligkeit- erklärt mir in den Nachgesprächen, dass ich mich vielleicht daran erinnere, wie ich möglicherweise als Kind den Kopf in den Nacken gelegt und einen jungen Jujube -Rosenapfel- am Baum in der untergehenden Sonne gesehen habe, wenn mich die Freude des ersten vollkommen gedankenfreien Augenblicks überrascht. Da ist es nun, das namenlose Staunen. Reine Beobachtung. Keine Wertung. Das Bewusstsein denkt nicht, während es etwas wahrnimmt. Natürlich nimmt es den Apfel wahr und so weiter, doch der Denkapparat ist offline.

Das Zeugenbewusstsein findet noch 'bodenständig' statt, ganz im Hier und Jetzt. Die Aufmerksamkeit nimmt wahr, dass sich der Geist bestimmte Gedankenbilder spinnt, doch sie identifiziert sich nicht mit der Geschichte, lässt sich nicht von ihr ködern. Der 'Beobachter' hält keinen Gedankensplitter an.

Auf diese Weise eröffnet sich mir die Möglichkeit, eine gewisse Beeinflussung meines Denkens vorzunehmen. So erschaffe ich mir hilfreiche Vorstellungen im Geist.
In meinen Meditationen versuche ich, mich immer weiter zu entwickeln. Ich trete quasi neben mich und beobachte meine Gedanken und Gefühle. Mein ICH kann mein inneres Wesen nicht fühlen, das kann es nur selbst tun.

Der innere Beobachter, das 'Zeugenbewusstsein', ist nun das Bewusstsein des inneren Wesens, das geweckt werden muss. Denn solange das innere Wesen sich selbst nicht bewusst erkennt, bleibt es inaktiv ? es schläft. In diesem Stadium befinde ich mich im Augenblick noch. Wenn Erkennen möglich werden soll, muss es zwei geben: einen Erkennenden und ein Erkanntes, also eine Dualität.

Paramapaavan -seine Heiligkeit- hat einmal von Prana -Lebenshauch- gesprochen, einer alles durchdringenden Lebenskraft. Also versuche ich sie bei meinen Meditationen zu finden.

Irgendwann hat mich mein Lehrer bei einer Meditation durch Berührung gestört. Als ich in das 'Hier und Jetzt' zurückfinde, habe ich das Gefühl den Boden mit meinem Hintern hart zu Berühren. Er schaut mich mit großen Augen an und verbietet mir, noch einmal so tief zu meditieren, wie er es nennt.

Paramapaavan -seine Heiligkeit- berichtet mir nun aufgeregt von Sagen, nach denen sich ein Guru vor langer Zeit von den Lehren Buddhas entfernt hat. Auch dieser Guru hat die tiefe Meditation beherrscht und nach Prana -Lebenshauch- geforscht. Er hat aber statt dem achtfachen Pfad zu folgen, das Karuna -begierdeloses unendliches Mitgefühl- den Menschen zu bringen und nach Prajna -vollkommene Weisheit- zu streben, die Habgier zu seinem Lebensziel erkoren.

Du weißt ja, Yoni und Linga (Yin und Yang) sind ein Gegensatz rhythmischer Art. Auf die Nacht folgt der Tag und wieder die Nacht. Es ist ein ewiger Kreislauf. Wir erkennen das an und werten nicht! Er aber hat gewertet und das Böse, die Habgier, für sich erkoren.

"Bitte halte dich davon fern, Kiron! Ich möchte nicht, dass du dich auch für die dunkle Seite entscheidest!" endet er.

"Wenn ich aber an das Gute glaube und es in der Welt unterstützen möchte?" frage ich ihn.

"Beobachte beim -Dhyana- Meditieren deine Gedanken und Gefühle. Hüte dich vor Zorn, Furcht und Aggressivität! Sie ergreifen schnell Besitz von dir! Du musst diese Gefühle bekämpfen!" antwortet er eindringlich.

"Sind diese Gefühle so stark?" frage ich nun, leicht verunsichert.

"Nein, aber sie sind schneller an der Oberfläche deiner Gedanken. Sie sind verführerischer. Nur wenn man Ruhe bewahrt, erkennt man die Unterschiede zwischen Yoni und Linga. Nur wenn man den inneren Frieden bewahrt, kann man ihn auch nach außen tragen!" erklärt er mit todernstem Gesicht.

In den folgenden Gesprächen habe ich erfahren, warum mein Hintern so geschmerzt hat, als er meine Meditation gestört hat. Ich muss wohl einige Zentimeter über dem Boden geschwebt sein, als ich Kontakt zu Prana gesucht habe.

In der Folgezeit versuche ich die tiefe Meditation während Paramapaavan -seine Heiligkeit- schläft. Prana -der Lebenshauch- ist neutral. Ich beherzige seinen eindringlichen Rat, keine negativen Gefühle zuzulassen, denn ich will niemand schaden und mich an niemandem bereichern.

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Dienstag, 3. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 03
"Niemals darfst du angreifen, Kiron! Damit ginge ja das erste Leid von dir aus. Du brauchst dich aber auch nicht töten lassen, sondern du darfst dich verteidigen. Wenn der Gegner aber übermächtig ist, und du sterben solltest... Habe keine Angst! Der Tod ist nicht das Ende. Du wirst wiedergeboren und der Kreislauf des Lebens beginnt für dich erneut. Das geschieht so oft, bis du ein Leben zu führen verstehst wie Buddha. Dann erreichst du auch das Nirwana."

"Kennst du einen Weg, der mich die Angreifer überwinden lässt, Paramapaavan -deine Heiligkeit-?"

"Warum fragst du, Kiron?"

"Ja, zum einen habe ich oft bei kindlichen Streitereien den Kürzeren gezogen. Das Gefühl der Ohnmacht sitzt tief. Zum anderen mag ich nicht so schnell sterben, wenn sich mir Bewaffnete in den Weg stellen."

"Du darfst dich nur verteidigen, Kiron. Etwas anderes ist es, wenn du eine hilflose Person antriffst, der ein Bewaffneter das Leben nehmen will. Hier musst du abwägen. Stirbt die hilflose Person, wird sie wiedergeboren. Der Tod hat seinen Schrecken verloren! Bist du dir aber sicher, die hilflose Person retten zu können, darfst du sie verteidigen."

"Und wie geht das, diese Verteidigung? Klappt das auch, wenn der andere ein Messer hat?"

"Wenn das Überraschungsmoment auf deiner Seite ist, klappt das auch, wenn der Andere bewaffnet ist. Du musst eben zuerst danach trachten, ihn zu entwaffnen, um ein Gleichgewicht herzustellen."

Meine Gegner in der Kindheit sind eigentlich nie bewaffnet gewesen. Sie sind entweder kräftiger gewesen oder flinker als ich.

Ehe ich weitere Fragen in dieser Richtung stellen kann, redet der Guru weiter:

"Die Lebensregeln der Anhänger Buddhas sind in einem achtfachen Pfad zusammengefasst. Befolgen die Menschen sie genau, so überwinden sie die Habgier und können zur wahren Erkenntnis aller Dinge gelangen. Sie führen den Menschen auf einen Mittelweg zwischen einem Leben in Luxus und einem Leben des Verzichts. Willst du allerdings ein Guru werden, sollte dir der Verzicht zur Lebensaufgabe werden."

"Der achtfache Pfad? Davon habe ich noch nie gehört. Was besagt er, Paramapaavan -deine Heiligkeit-?"

"Erstens, bemühe dich um Weisheit und verhalte dich immer richtig... Zweitens, sei gütig und friedfertig... Drittens, lüge niemals... Viertens, tue keinem Lebewesen Böses an und stehle nicht... Fünftens, schade niemandem und zerstöre die Natur nicht... Sechstens, gib dir Mühe und erfülle deine Pflichten... Siebtens, sei achtsam, denke und handele stets besonnen... Und schließlich achtens, konzentriere dich, denke nach und meditiere."

Ich höre meinem Guru -spirituellen Lehrer- zu und werde sprachlos dabei. Erst nach einer ganzen Weile antworte ich mit hängendem Kopf:

"Das sind schwierige Regeln!"

Paramapaavan -seine Heiligkeit- schaut mich von der Seite an und meint:

"Sei nicht so schnell entmutigt, Kiron! Alles braucht seine Zeit. Du bist ja auch erst seit heute mein Shishy -Schüler-. Denke dich einmal fünf oder zehn Jahre weiter! Dann hast du diese Regeln verinnerlicht und lebst sie. Menschen sind nun einmal nicht perfekt! Aber sie müssen perfekt werden wollen, dann schaffen sie vieles."

*

Nun ziehe ich schon zwei Jahre mit dem Guru über das Land. Ich bemühe mich, mein Leben nach den Regeln der Anhänger Buddhas auszurichten, die mir mein Lehrer vorlebt.

Er bringt mir den Dharma, die Lehren Buddhas, auf mündlichem Wege bei. Allmählich trage ich sie in meinem Herzen und in meinem Geist. Sie geben mir eine gewisse mentale Stärke.

Daneben hat er begonnen, mir das Dhyana - Meditieren- beizubringen. Anfangs habe ich immer gedacht, er setzt sich hin, um über irgendetwas nachzudenken. Dann hat er sich entschlossen, mich darin zu unterweisen.

Dazu soll ich mich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden setzen und die Augen schließen, damit die Einflüsse der Umwelt weitestgehend ausgeschaltet sind. Anschließend soll ich mich entspannen und beginnen, meinen Gedanken zuzuhören, als wäre nicht ich derjenige, der da denkt. Wie mein Lehrer sagt, entdecke ich oft einen Disput zwischen meiner rationalen und der emotionalen Seite. Ich lasse dann meinen Gedanken ihren freien Lauf und beobachte sie. Ich versuche, ihnen passiv zuzuhören.

Dabei merke ich, dass ich mich trotzdem in alle Gedanken irgendwie einmische. Den Einen bevorzuge ich. Einen anderen verwerfe ich. Mein Lehrer hat das als das 'kritische Bewusstsein' bezeichnet. Verschiedene Wünsche, Hoffnungen, Pläne usw. kristallisieren sich heraus und der innere Kritiker bewertet sie.

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Sonntag, 1. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 02
"Bitte, setz dich, Paramapaavan -deine Heiligkeit-. Was führt dich zu uns?"

"Dein aufgeweckter Sohn hat mir einen Wunsch geoffenbart, den er gerne seinem Vater vortragen möchte," antwortet der Guru.

Ich muss selbst für mich einstehen. Also schaue ich Mama an und sage:

"Würdest du bitte bei aadaraneey Pita -ehrenwerter Papa- ein Wort für mich einlegen, priy Maan -liebe Mama-? Ich möchte der Guru ka shishy -Schüler des Guru- werden und alles von ihm lernen."

Mama lächelt stolz und ruft meine jüngere Schwester heran. Sie wird beauftragt, zu Papa auf das Feld zu laufen, und ihn nachhause zu holen. Meine beiden älteren Brüder können eine Weile ohne ihn arbeiten.

Eine halbe Stunde darauf kommt Papa nachhause und lässt sich lächelnd gegenüber dem Guru nieder. Mama schenkt auch ihm eine Schale Tee aus. Nach einer Weile bemerkt der aadaraneey Pita -ehrenwerte Papa-:

"Was macht Paramapaavan -seine Heiligkeit- so sicher, dass Kiron, mein lieber Sohn, ein geeigneter Shishy -Schüler- für dich sein könnte? Wir sind Anhänger von Krishna!"

"Der seelige Buddha ist auch in einer Hindu-Familie aufgewachsen. Ob ein Mensch ein Guru werden kann, liegt also nicht an seiner Herkunft, sondern an seinen Werken im Laufe seines Lebens," stellt Seine Heiligkeit fest.

"Und Paramapaavan -seine Heiligkeit- nimmt an, dass der Charakter meines lieben Sohnes ihn befähigt, diese Werke seinen Mitmenschen zugutekommen zu lassen?"

"Sein Interesse zeigt mir, dass in ihm eine gute Seele wirkt!"

"Dann will ich ihm keine Steine in den Weg legen!" meint Papa.

Mein Herz macht einen Sprung.

Papa fragt Mama jetzt, ob das Mittagessen allmählich bereit ist. Sie vertröstet ihn um nur noch wenige Minuten. Also bittet Papa seine Heiligkeit das Mittagessen in seinem Haus einzunehmen. Dieser nimmt lächelnd an.

Nach dem Essen segnet seine Heiligkeit das Haus und seine Bewohner. Danach lässt er sich von mir zum Haus des Patil -Dorfältesten- führen. Padma, seine Tochter, kommt neugierig zum Eingang und kniet sich vor seine Heiligkeit auf den Boden.

Er beugt sich zu ihr herunter und segnet auch sie. Dann segnet er auch dieses Haus und nun wendet er sich zu mir:

"Kiron, wir verlassen nun deine Heimat. Vielleicht führt dich dein Schicksal irgendwann wieder hierher, aber für jetzt solltest du dich noch einmal umsehen! Es wird für lange Zeit das letzte Mal sein."

Ich schaue zu seiner Heiligkeit auf. Er nickt mir aufmunternd zu und lächelt freundlich, also nehme ich noch ein letztes Mal die bekannten Eindrücke in mich auf. Danach folge ich ihm auf seinem Weg aus dem Ort. Er stützt sich dabei auf einen geraden Stock, der so lang ist, wie der Guru groß ist.

Wir sind schon eine ganze Weile stumm nebeneinander her gegangen, als ich ihn frage:

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-, was ist Buddhas Lehre?"

Mich trifft ein freudiger Seitenblick. Dann antwortet er:
"Der erste Merksatz 'Dukkha' bedeutet, das Leben ist voller Leid."

"Woher kommt das Leid?" frage ich zurück.

"Nun, mein Junge, in den meisten Fällen fügen Menschen ihren Mitmenschen wissentlich oder unwissentlich Leid zu."

"Warum fügen Menschen ihren Mitmenschen Leid zu?" nutze ich ein oft gebrauchtes Fragewort.

Aber mein Guru -spiritueller Lehrer- bleibt gelassen. Er antwortet mir:

"Unwissentlich geschieht das aus Gedankenlosigkeit. Das wissentlich oder absichtlich herbeigeführte Leid wird im zweiten Merksatz Samudaja beschrieben. Er bedeutet, die Ursache für das Leid ist Habgier."

"Ah," mache ich. "Um meinen Mitmenschen kein Leid anzutun, muss ich also auf mich und meine Handlungen achten."

"Ja!" ruft Paramapaavan -seine Heiligkeit- aus. "Achte stets auf das, was du sagst oder tust. Der dritte Merksatz 'Nirodha' besagt, dass du die Habgier überwinden musst."

"Wie ist das aber dann, wenn mich jemand in böser Absicht überfällt und mir Leid zufügen will?" lasse ich nicht locker.

Mir macht die begonnene Unterweisung Spaß.

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