Mittwoch, 11. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 07
"Du könntest das Handwerk deines Vaters erlernen. Sein Fischereigerät ist sicher noch vorhanden, seine Hütte wird noch stehen und einen Fischer wird es in eurem Dorf auch noch geben," schlage ich vor.

"Ich fühle mich bei den Gleichaltrigen nicht wohl!" stellt er fest.

"Mein spiritueller Lehrer hätte dann aber zwei Shishy -Schüler-. Das ist nicht üblich!" gebe ich ihm zu bedenken.

Da fällt er vor meinem älteren Begleiter auf die Knie und beugt sich zu seinen Beinen vor, die er mit seinen Ärmchen umschlingt.

Mein Guru beugt sich zu dem Jungen hinunter und fragt ihn:

"Wie heißt du, mein Junge?"

"Amal -Hoffnung-, Paramapaavan -deine Heiligkeit-," antwortet der Knirps und schaut scheu zu ihm auf.

Mein Guru schaut mich mit einem ernsten Blick an.

"Wenn du gewillt bist, Amal eine Chance zu geben, Kiron, dann trennen sich hier unsere Wege. Du bist so weit, selbst ein spiritueller Lehrer zu sein!"

"Aber Paramapaavan -deine Heiligkeit-..."

"Doch, doch! Das habe ich gestern in der Hütte der Leute miterlebt. Du hast dir mit den Jahren den Rang eines Guru erarbeitet! Nun darfst du dein Wissen weitergeben."

Ich verbeuge mich vor Paramapaavan -seiner Heiligkeit-, nehme seine Hände in meine und führe sie an meine Stirn.

"Shubha Labha -Gutes Gelingen-," wünscht er mir nun.

Ich habe ein Knie gebeugt. Nun legt er mir segnend die Hand aufs Haar, dreht sich um und macht einen weiten Schritt. Seinen Weg beobachtend bleibe ich stehen, neben mir der Jüngling Amal. Ich lege ihm eine Hand auf seine Schulter. Daraufhin schaut er zu mir hoch.

"Also ist es beschlossen," spreche ich ihn mit sanfter Stimme an. "Du bist von jetzt an mein Shishy -Schüler-. Wirst du mir bei allem vertrauensvoll folgen?"

"Ja, das werde ich, Paramapaavan -deine Heiligkeit-," erwidert der Junge.

"Ich nehme dich beim Wort, Amal, und werde dich beizeiten daran erinnern! Ein Spiel ist es nämlich nicht!" sage ich mit ernster Miene zu ihm. Dann setzen auch wir uns in Bewegung.

Unterwegs beginne ich Amal von Siddharta zu erzählen. Ich breite vor dem Jungen Buddhas Lebensweg aus bis zu seiner Erleuchtung. Wie auch ich damals fragt Amal als ich geendet habe skeptisch:

"Siddharta hat all den Reichtum seiner Familie zurückgelassen? Was aus seiner Frau und seinem Sohn wird, hat ihn nicht gekümmert?"

Ich erlebe bei der Frage ein Deja vú und überlege kurz, was mein Lehrer mir darauf geantwortet hat. Genauso argumentiere ich jetzt auch:

"Ihn hat das Schicksal der Menschen interessiert. Darum hat er sich gefragt, wie sie ihr Leiden beenden können. Darüber hat er nachgedacht, wenn er sich auf seinen Wanderungen einmal niedergelassen hat."

"Er wollte also, dass die Menschen nicht mehr leiden," fasst er meine Erzählung zusammen.

"Genau!" antworte ich ihm und lächele.

Er bleibt eine Weile stumm. Nach einigen Schritten sagt er:

"Ich habe schon viel Leid erfahren. Meine Eltern sind nicht mehr und die anderen Kinder akzeptieren mich nicht als ihresgleichen..."

"Ich unterweise dich, Amal. Geh mit mir den Pfad Buddhas. Darüber wird dein Charakter geschult und du erhältst viele Antworten auf drängende Fragen deines Lebens."

"Theek hai shukriya -In Ordnung, danke-," antwortet der Junge und lächelt zurück.

Allmählich wird es dunkel. Wir gehen bis zu einem Baum mit weit ausladender Krone. Dort lasse ich mich am Stamm nieder, schlage die Beine unter und fordere den Jungen auf, sich neben mich zu legen und zu schlafen. Dann beginne ich mich zu entspannen. Ich schließe die Augen und horche in mich hinein. Irgendwann sehe ich das Prana -Lebenshauch- fließen und beobachte auf diese Weise meine nähere Umgebung, damit uns in der Nacht nichts zustößt.

Ich bemerke dadurch, dass wir nicht allein bleiben in der Nacht. Aber unsere Brüder, die Tiere, begegnen uns friedfertig. Sie bleiben auf Abstand.

Als Amal am darauffolgenden Morgen erwacht, erhebe ich mich und fordere ihn auf, mit mir zum nahen Fluss zu gehen. Dort führen wir unsere Morgenhygiene durch. Dadurch gebe ich den wildlebenden Tieren in unserer Nähe Gelegenheit, sich ungesehen zu entfernen.

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Montag, 9. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 06
Ich nicke ihr beruhigend zu und spreche mit sanfter Stimme:

"Nimm deinen Krug zurück, meine Tochter."

Die junge Frau wird ungefähr in meinem Alter sein. Mit 'meine Tochter' nutze ich einen Begriff, den spirituelle Lehrer zu einer Frau aus dem Volk sagen.

Ich hebe den Krug von meiner Schulter, nachdem ich meinen Stock fallen gelassen habe und reiche ihn ihr. Sie ist inzwischen wieder aufgestanden und will den Krug entgegennehmen.

Sie hat wohl nicht damit gerechnet, einen vollen Krug überreicht zu bekommen und knickt ein wenig ein, bevor sie ihn sich auf die Schulter hebt und lächelnd in der Hütte verschwindet.

Ihr Bruder macht eine Geste und sagt dazu:
"Bitte tretet ein, maananeey sajjanon -ehrenwerte Herren-!"

Ich habe gerade meinen Stock wieder aufgehoben, falte nun die Hände und verbeuge mich. Dann trete ich in das Dämmerlicht im Inneren der Hütte. Mein Lehrer folgt mir. Im Inneren lassen wir uns in der Nähe der Kochstelle nieder. Eine Frau, etwas jünger als mein Guru, schenkt uns Schalen mit Tee aus.

Meine Augen suchen den Hausherrn. Schließlich sehe ich ihn im Halbdunkel auf einem Krankenlager liegen. Ich erhebe mich und nähere mich dem alten Mann, um mich neben ihm im Schneidersitz niederzulassen. Nun rezitiere ich einige Verse, die auf Buddha zurückgehen und gebe dem Mann schluckweise von meinem Tee zu trinken.

Als die Teeschale leer ist, stelle ich sie neben mich und lege ihm meine Hand auf die Stirn, während ich weitere Texte leise vor mich hin spreche. Ich habe die Augen geschlossen und versuche, mit Prana -Lebenshauch- Verbindung aufzunehmen.

Bald erhebt sich der Mann auf seinem Lager in den Schneidersitz. Ich ziehe mich zurück und setze mich wieder auf meinen Platz neben meinem Lehrer an der Kochstelle.

Der Hausherr will sich erheben. Es klappt nicht. Er ruft nach seinem Sohn. Dieser hilft ihm auf und stützt ihn beim Nähertreten, damit er sich uns gegenüber setzen kann, neben den Platz, auf dem sein Sohn eben gesessen hat. Dann nimmt auch dieser wieder Platz ein.

Die Mutter reicht nun Schalen mit Reis herum, verfeinert mit einer aromatischen Sosse. Mein Lehrer wird von den Leuten gebeten, ihnen beim Essen von Buddha zu erzählen.

Draußen vor dem Eingang hat sich eine größere Menschenmenge gebildet. Ich nehme meine Reisschale und setze mich damit in den Eingang der Hütte. Nun wiederhole ich jedes Wort meines Guru -spirituellen Lehrers-, damit die Menge vor der Hütte alles genau mitbekommt.

Als er geendet hat ist es Nachmittag geworden. Mein Lehrer schließt die Augen und beginnt eine Meditation. Der Hausherr will sich erheben. Sein Sohn stützt ihn dabei wieder. Der ältere Mann tritt mit unsicheren Schritten in den Eingang seiner Hütte und macht einen Schritt ins Freie.

Nachdem mein Lehrer geendet hat und auch ich nichts mehr sage, sind die meisten Leute aufgestanden und zu ihrer Arbeit zurückgekehrt. Diejenigen, die noch eine Weile nachdenklich sitzengeblieben sind erleben jetzt, wie der Hausherr anscheinend genesen, aber noch etwas schwach umhergeht.

Dadurch entsteht zuerst ein erstauntes Gemurmel. Dann werden die Stimmen lauter und auch der Hausherr redet leise auf die Leute ein und lächelt. Einige Leute erheben sich nun, um die Neuigkeit im Dorf zu verbreiten. Schließlich zieht sich der alte Mann wieder in seine Hütte zurück. Er ist erschöpft.

Wir werden gebeten in der Hütte zu übernachten, bevor wir morgen weiterziehen. Nach einer Schale Tee legen wir uns mit den Leuten um das gelöschte Kochfeuer, die Füße zur Glut gerichtet.

*

Am Morgen darauf verabschieden wir uns nach dem Frühstück herzlich von unseren Gastgebern. Im Hinausgehen segnen wir die Hütte und ihre Bewohner. Wir streben der gegenüberliegenden Seite des Dorfes zu. Dabei sammelt sich wieder eine Traube junger Leute um uns. Nach einigen Minuten werden sie von ihren Vätern und Brüdern zurückgerufen, damit sie ihnen auf den Feldern helfen.

Nur ein Junge, nicht älter als ich damals, als ich dem Guru gefolgt bin, bleibt in unserer Begleitung.

"Wo wohnst du?" frage ich ihn.

Er zeigt zurück. In dieser Richtung stehen mehrere Hütten. Ich will ihn auffordern uns zu führen, als er uns von seinem Schicksal berichtet:

"Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater, ein Machhua -Fischer-, hat mich zu meiner Tante gegeben. Er hat die Familie meines Onkels unterstützt, indem er ihnen seinen Fang überlassen hat. Vor zwei Jahren ist auch er gestorben. Nun habe ich niemand mehr."

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Samstag, 7. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 05
Ich habe von meinem Lehrer sehr bald nach unserem Aufbruch einen eigenen Stock bekommen, mit dessen Hilfe das Gehen nicht so ermüdend ist. Er hat mir irgendwann von einer Selbstverteidigungstechnik erzählt, die er ?Kalaripayattu? nennt. Sie ist aus der genauen Beobachtung unserer wilden Brüder und Schwestern in der Natur entstanden. Wie sich Vögel, Raubtiere und ihre Beute verhalten, haben unsere Vorfahren nachgeahmt und daraus Griffe und Bewegungen entwickelt, mit oder ohne Stock oder andere Hilfsmittel.

Durch meine Verbindung mit Prana -Lebenshauch, der alles durchdringt- habe ich bei meinen von den Meditationen begleiteten Übungen bald eine besondere Fertigkeit erlangt.

Immer wieder erinnert mich Paramapaavan -seine Heiligkeit- daran:

"Denke daran, Kiron, setze deine Kenntnis nur zur Verteidigung ein!"

Ihm sind meine Kenntnisse allmählich unheimlich geworden, glaube ich.

Als wir uns wieder einmal einem Dorf nähern, um dort zu lehren, hören wir von der Seite den Schrei einer Frau in höchster Not. Wir schauen uns an und laufen näher heran. Ich bin schneller als mein Lehrer und komme hinzu, als ein junger Tiger im Begriff steht, eine junge Frau anzuspringen. Die Frau flüchtet, aber der Tiger ist natürlich schneller.

Ich komme von seitlich vorne und stoße dem gefährlichen Bruder meinen Stock zwischen die Zähne. Davon irritiert landet er auf seiner Flanke und rollt über den Rücken auf seine andere Seite, bevor er wieder auf die Füße kommt und mich anfaucht.

Währenddessen habe ich meinen Stock vom Boden aufgenommen und rede in leisem beruhigendem Ton auf das Tier ein. Der Tiger hat sich niedergelassen und faucht mich an. Dabei wird er immer ruhiger. Bald erhebt er sich wieder und dreht sich um. Immer wieder einmal den Kopf wendend und zurückblickend, entfernt er sich.

Mein Lehrer ist inzwischen heran. Als er die Szene überblicken kann, verhält er im Schritt und nähert sich langsam weiter. Schließlich erhebt er seine Stimme:

"Ich glaube, Kiron, ich kann dir weiter nichts mehr beibringen!"

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-," antworte ich ihm, während ich den Platz des Geschehens überblicke. "Ich brauche dich, denn du bist meine Stimme der Moral!"

Beim Absuchen des Bodens entdecke ich den Grund, weswegen die junge Frau an diesem Ort gewesen ist. Ein Tonkrug liegt in einer Wasserlache auf der Seite im Gras. Aus ihm tropft Wasser heraus. Ich hebe ihn auf und trage ihn zum Fluss. Dort halte ich ihn unter Wasser, damit er sich wieder füllt.

Dann setze ich mich in Meditationshaltung davor und denke über das Wasser nach, dass sich vor mir im Krug befindet. Mein Guru macht mich auf Besuch aufmerksam. Drei Männer kommen auf uns zu. Sie haben Säbel und Lanzen in der Hand.

"Sucht ihr den Baagh -Tiger-?" ruft ihnen mein Lehrer entgegen.

Sie haben uns erreicht, als ich mich gerade erhebe. Ich bücke mich nach meinem Stock und hebe den Krug auf meine linke Schulter.

"Ja, er hätte meine Schwester Desna -das Geschenk- beinahe getötet. Wenn er sich noch hier in der Nähe herumtreibt, kann er dem Dorf gefährlich werden!" wird meinem Guru von einem der Bewaffneten geantwortet.

"Wir sind dazwischen gegangen und haben ihn überzeugt, seine Nahrung in einer anderen Richtung zu suchen. Mein Shishy -Schüler- hat den Krug der Frau wieder aufgefüllt. Wir wollen ihn zu ihr bringen!"

"In welche Richtung hat er sich zurückgezogen?"

Mein Guru zeigt ihnen die Richtung. Das scheint sie zu beruhigen. Sie wenden sich um und wir folgen ihnen. Bald darauf sehen wir die ersten Hütten. Die Männer führen uns zwischen zwei Hütten hindurch auf den leeren Dorfplatz. Als wir uns dort zeigen, kommen die ersten Jungs und Männer aus dem Dunkel ihrer Hütten. Unsere Führer müssen erklären, was die Jagd auf den Baagh -Tiger- ergeben hat. Sie erklären ihnen wortreich, was geschehen ist und verweisen für alles weitere auf uns.

Dann haben wir die Hütte erreicht, in der Desna und ihr Bruder wohnen. Seine Begleiter, die seine Cousins sind, wenden sich zu den Hütten ihrer Eltern. Unser Führer ruft in die Hütte hinein:

"Desna, komm heraus und bring unseren Krug der Maan -Mutter-."

Das Gesicht der jungen Frau erscheint im Sonnenlicht, das in den Eingang scheint. Sie äugt misstrauisch heraus. Als sie mich erblickt, mit einem Krug auf der Schulter, tritt sie vor den Eingang und beugt sich ehrfürchtig zu Boden.

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