Dienstag, 17. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 10
Ich hebe meine gefalteten Hände an mein Kinn und antworte:

"Du hast es nicht leicht im Leben, mein Sohn. Ihr seid Bauern. Hast du dir einmal überlegt, neben den Feldern deiner Brüder ein weiteres Reisfeld anzulegen?"

"Dazu braucht es vieler Männer, die ich dafür entlohnen muss!" bringt er ein Gegenargument und sagt damit, dass er zu arm ist, ein weiteres Feld im Überschwemmungsgebiet des Flusses anzulegen.

Ich nicke und wende mich zu seiner Frau um. Das Baby ist satt. Regelmäßige Atemzüge künden davon, dass es wieder eingeschlafen ist.

"Darf dein Baby ein paar Minuten in meinem Schoß schlafen, meine Tochter?" frage ich sie.

Sie verständigt sich über Blicke mit ihrem Mann. Dieser nickt aufmunternd. Während ich die Meditations-Stellung einnehme, nähert sie sich uns und legt mir ihr Kind vorsichtig auf meine überkreuz geschlagenen Beine.

Ich schließe meine Augen und lege meine Hand auf dem Kopf des Kleinen. Nun beginne ich mit der Meditation und nehme Kontakt mit Prana auf. Nach einer Weile öffne ich meine Augen wieder. Ich schaue die Frau an und frage sie:

"Kaust du die Heilkräuter durch und gibst sie dann der Kleinen in den Mund?"

Sie nickt und bestätigt es:
"Ja, Paramapaavan -deine Heiligkeit-."

"Koche ab jetzt Wasser auf und lasse die Kräuter darin ziehen. Gib ihr den Tee in kleinen Schlucken, wenn die Temperatur wieder angenehm ist. Mit der Zeit wird es der Kleinen besser gehen!"

"Danke, vielen Dank, Paramapaavan -deine Heiligkeit-," antwortet sie und verbeugt sich tief.

Ich übergebe ihr das Kind, das sie nun sanft in ihren Armen wiegt. Sie erhebt sich und geht an die Wand der Hütte. Dort nimmt sie ein zusammengeschlagenes Tuch hoch und bringt es an das Feuer. Die ältere Frau braut nun einen Tee für das Kleine.

Zu unserem Gastgeber sage ich nun:
"Würdest du mich bitte zu deinen Brüdern führen?"

Wir verlassen die Hütte und der Mann führt uns zu zwei weiteren Hütten. Einen Mann finden wir zuhause vor. Der andere Bruder sei auf dem Feld, wird uns gesagt. Also lasse ich mich vor den Ort führen. Draußen auf den Feldern mache ich mir ein Bild von der momentanen Lage. Natürlich ist die Familie des verstorbenen Familienoberhauptes nicht die einzigen Bauern im Dorf. Ein weiteres Feld neben den Feldern seiner Brüder anzulegen, ist daher nicht möglich. Die gemeinsamen Felder auf alle drei Brüder aufzuteilen, würde alle drei Familien verarmen lassen. Ich wandere weiter. Am Rand der Felder angekommen, schlage ich meinen Begleitern vor:

"Zu Dritt schafft ihr es, hier ein weiteres Reisfeld anzulegen, das euer Bruder bewirtschaftet. Ihr bräuchtet ihm dann nicht mehr von eurer Ernte abgeben! Wäre das in Ordnung für euch?"

Es entspannt sich nun eine kleine Diskussion darüber, ob es wirklich reicht, mit nur drei Männern ein neues Feld anzulegen.

"Fangt einfach an," ermutige ich sie. "Zeigt eurer ehrenwerten Mutter, zu was ihr imstande seid, wenn ihr zusammenhaltet."

Nun ist ihr Ehrgeiz geweckt. Sie versprechen sich gegenseitig ein neues Reisfeld anzulegen und in den nächsten Tagen damit zu beginnen. Anschließend gehen wir ins Dorf zurück und nehmen im Haus unseres Gastgebers das Abendessen ein. Während sich die Anderen schlafen legen, beginne ich meine Meditation. Ich suche wieder nach Prana und schaue mit meinem 'inneren Beobachter' in die Hütten der Brüder unseres Gastgebers. Ich kräftige ihr Versprechen der Hilfe für ihren jüngeren Bruder und entspanne dann, die Ströme Pranas im Dorf beobachtend. Ganz besonders interessiert mich dabei das Baby des Paares, in dessen Hütte wir ruhen.

Am nächsten Morgen geht die Frau des Gastgebers mit ihrem Baby, das sie in einem Tuch trägt, und einem Krug zum Fluss, um Wasser zu schöpfen. Bald darauf ist sie zurück und schüttet jedem von uns Wasser in seine Schale, damit wir uns frisch machen können. Danach kochen die Frauen Tee und bereiten das Frühstück vor.

Das Baby ist immer bei der Frau. Es lugt interessiert aus seiner 'Hängematte' hervor und lacht mich an, wenn seine Mutter bei der Arbeit an mir vorbeikommt. Auch das Kleine bekommt seinen speziellen 'Heiltee'. Während die junge Frau mit uns frühstückt, setzt sie es an ihre Brust an.

Danach verabschieden wir uns herzlich von den freundlichen Leuten und wandern nun diesseits des Flusses weiter. Unterwegs beginnt Amal:

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-, du bist immer freundlich und hilfsbereit zu den Leuten..."

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Sonntag, 15. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 09
Vor uns tauchen Hütten am anderen Flussufer auf. Ein Boot liegt da und Kinder toben ausgelassen im Wasser.
Ich setze mich mit untergeschlagenen Beinen in den Sand und beginne zu meditieren. Amal lässt sich neben mir nieder. Er schaut dem Treiben zu. Bald höre ich ihn fragen:

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-, ich möchte gerne mitspielen. Darf ich?"

Ich nicke. Er geht ins Wasser, um sich bald auf die Wellen zu werfen und zu den anderen Kindern zu schwimmen. Wieder suche ich in der Meditation nach Prana -Lebenshauch-. Irgendwann kann ich Prana erkennen. Es ist, als würde ich wellenförmige Gebilde sehen, die von den Lebewesen um mich herum ausgehen.

Das Prana der Kinder ist in ständiger Bewegung. Amal erkenne ich dazwischen an einer besonderen 'Färbung', die ich mir in der Nacht eingeprägt habe. In einiger Entfernung schleicht ein Baagh -Tiger- herum, der von den Kindern angelockt worden ist. Möglicherweise hat er Hunger. Er nutzt jede Deckung.
Plötzlich erkenne ich die ruhige Vorwärtsbewegung eines anderen Wesens im Wasser. Ich versuche den Tiger darauf aufmerksam zu machen, genauso wie ich in der Nacht die Brüder in der Natur besänftigt und schläfrig gemacht habe, damit sie uns nichts antun. Hier jedoch muss ich anders eingreifen.

Aus Sicht der Kinder geht plötzlich alles ganz schnell. Sie sehen einen Tiger in langen Sätzen auf das Wasser zu rennen und dann in deren Nähe hineinspringen. Schreiend versuchen sie das rettende Ufer zu erreichen. Sie laufen zu ihren Hütten. Von dort kommen ihnen Erwachsene entgegen. Sie sehen, wie ein Tiger seine Zähne in das Maul eines Magaramachchh -Krokodils- gegraben hat und sich mit Vorder- und Hinterpfoten auf dessen Rücken festkrallt. Das Krokodil versucht den Tiger abzuschütteln, indem es sich um seine Längsachse rollt. Irgendwann gelingt ihm das auch. Der Tiger kommt zum Ufer zurück und das Krokodil setzt seinen Weg unbehelligt fort. Ich danke dem starken Bruder in Gedanken, der sich die Feuchtigkeit aus dem Fell schüttelt und vom Wasser wegtrabt.

Einige Zeit danach schiebt ein Mann drüben das Boot ins Wasser. Amal springt hinein. Der Mann rudert den Jungen auf meine Seite des Flusses. Amal deutet auf mich und der Mann steuert das Ruderboot zu mir. Bei mir angekommen, springt Amal aus dem Boot und hält den Bug fest.

"Achchha din, Paramapaavan -Guten Tag, deine Heiligkeit-," begrüßt der Mann mich. "Darf ich dich in mein bescheidenes Haus einladen?"

Ich erhebe mich und antworte:
"Gesegnet sei dein Tag, mein Sohn. Ich komme gerne mit dir."

Amal macht mir Platz, damit ich einsteigen kann. Danach schiebt er das Boot ins tiefere Wasser und zieht sich an Bord. Der Mann dreht das Boot quer zur Strömung und lässt sich ein paar Meter zurücktreiben, bevor er weiterdreht und an das gegenüberliegende Ufer in Höhe der Ansiedlung rudert. Dort verlasse ich mit Amal das Boot, um dem Mann Platz zu machen. Wir halten das Boot fest, während auch er ins Wasser springt. Gemeinsam ziehen wir das Boot nun auf das Ufer.

"Bitte kommt mit," fordert er uns freundlich auf.

Wir folgen ihm zwischen die Hütten. Beim Eingang einer Hütte angekommen, bietet er uns an einzutreten. Mit einem Segen für das Haus und seine Bewohner nehme ich sein Angebot an und trete in das Dämmerlicht im Inneren der Hütte. An der Feuerstelle sitzt eine ältere Frau und bereitet gerade ein Essen vor. Eine junge Frau mit einem Baby im Arm sitzt abseits und stillt es bei unserem Eintreten.

Wir lassen uns beim Kochfeuer nieder. Unser Gastgeber schenkt uns Tee aus. Ich verbeuge mich leicht und nehme die Teeschale in Empfang. Amal wiederholt meine Verbeugung, als er seine Schale erhält.

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-," spricht mich der Hausherr an. "Der aadaraneey pita -ehrenwerte Vater- ist vor einer Pflanzperiode verstorben. Wir haben ihn eingeäschert und die Asche dem Fluss überlassen. Nun haben meine beiden älteren Brüder die Reisfelder unter sich aufgeteilt. Eine Drittelung hätte uns alle in Armut gestürzt. Für die Pflege unserer Mutter erhalte ich von Beiden eine kleine Menge ihrer Ernte. Zum Glück habe ich vor dem Tod meines ehrenwerten Vaters heiraten können. Er hat mit dem Brautvater den Brautpreis ausgehandelt und meine priy mahila -liebe Frau- ist bei uns eingezogen. Nun hat sie mir unser erstes Kind geschenkt. Aber es macht uns Sorgen. Es kränkelt trotz der Heilkräuter."

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Freitag, 13. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 08
Ich selbst wandere mit dem Jungen am Flussufer entlang. In einigen Stunden werden wir so das nächste Dorf erreichen. Die Ansiedlungen der Menschen sind fast immer in der Nähe von Wasserläufen errichtet. So erhalten sie frisches Trinkwasser und bei größeren Wasserläufen auch Fische.

Es dauert nicht lange, da beginnt Amal zu sprechen:
"Du hast mir von Siddhartas Lebenslauf erzählt, Paramapaavan -deine Heiligkeit-, aber was ist denn nun Buddhas Lehre?"

Er schaut dabei zu mir auf. Ich nicke ihm freundlich lächelnd zu und beginne die heutige Unterweisung:

"Wir Anhänger Buddhas glauben an 'Die vier edlen Wahrheiten'. Sie heißen Dukkha, Samudaja, Nirodha und der Achtfache Pfad. Der erste Merksatz 'Dukkha' bedeutet, das Leben ist voller Leid."

"Das kenne ich," gibt er mir zurück. "Aber woher kommt das Leid?"

"In den meisten Fällen fügen Menschen ihren Mitmenschen wissentlich oder unwissentlich Leid zu," antworte ich ihm. "Dann gibt es da noch die Schicksalsschläge, für die niemand verantwortlich ist."

"Warum fügen Menschen eigentlich ihren Mitmenschen Leid zu?" nutzt er ein in seiner Altersgruppe oft gebrauchtes Fragewort.

Innerlich freue ich mich darüber und antworte ihm lächelnd:

"Unwissentlich geschieht das meist aus Gedankenlosigkeit, Amal. Die Leute denken nicht nach über die Folgen ihres Tuns.
Das wissentlich oder absichtlich herbeigeführte Leid wird im zweiten Merksatz Samudaja beschrieben. Er bedeutet, die Ursache für das Leid ist Habgier."

"Um meinen Mitmenschen kein Leid anzutun, muss ich also auf mich und mein Tun achten," resümiert er.

"Ja, genau!" rufe ich freudig aus. "Achte stets auf das, was du sagst oder tust. Der dritte Merksatz Nirodha besagt, dass ein Anhänger Buddhas die Habgier überwinden muss."

"Wie ist das aber dann, wenn mich jemand in böser Absicht überfällt und mir Leid zufügen will?" bohrt Amal weiter.

Ich bleibe gelassen und antworte geduldig:
"Niemals darfst du angreifen, Amal! Damit ginge ja das erste Leid von dir aus. Du darfst dich aber verteidigen. Wenn der Gegner sich als übermächtig erweist, und du sterben solltest... Habe keine Angst! Der Tod ist nicht das Ende. Du wirst wiedergeboren und der Kreislauf des Lebens beginnt wieder von vorne. Das geschieht so oft, bis du ein Leben wie Buddha zu führen verstehst. Dann erreichst du auch das Nirwana."

"Kuna -Gut-, und was bedeutet der 'Achtfache Pfad', Paramapaavan -deine Heiligkeit-?"

"Dazu möchte ich dir erklären, Amal, wenn die Menschen die Lebensregeln des 'Achtfachen Pfades' genau befolgen, überwinden sie die Habgier und können zur wahren Erkenntnis aller Dinge gelangen. Sie führen den Menschen auf einen Mittelweg zwischen einem Leben in Luxus und einem Leben des Verzichts. Willst du später ein Guru werden wie ich, dann sollte dir der Verzicht zur Lebensaufgabe werden."

Ich füge eine kleine Gedankenpause ein, um dem Jungen Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, dann fahre ich fort:

"Erstens, heißt es da, bemühe dich um Weisheit und verhalte dich immer richtig. Zweitens, sei gütig und friedfertig. Drittens, lüge niemals. Viertens, tue keinem Lebewesen Böses an und stehle nicht. Fünftens, schade niemandem und zerstöre die Natur nicht. Sechstens, gib dir Mühe und erfülle deine Pflichten. Siebtens, sei achtsam, denke und handele stets besonnen. Und schließlich achtens, konzentriere dich, denke nach und meditiere."

Amal geht nun eine ganze Weile stumm neben mir her. In seinem Kopf arbeitet es. Irgendwann antwortet er resigniert:

"Das sind keine leichten Regeln!"

Ich schaue ihn an und ermutige ihn:
"Sei nicht so schnell entmutigt, Amal! Alles braucht seine Zeit. Du bist ja auch erst seit gestern mein Shishy -Schüler-. Noch ist kein Meister aus den Wolken gefallen! Geduld und Gelassenheit sind wichtige Eigenschaften im Leben. Ein Guru muss den Leuten Gutes tun, ihnen Freude bereiten, bescheiden leben und seine Mitmenschen immer wieder seelisch aufrichten.
Siddharta Buddha ist 80 Jahre alt geworden, bis er starb und ins Nirwana einging."

"So lange?" macht er nun und schaut mich mit großen Augen an.

Ich lache fröhlich auf und antworte ihm:
"Nein, so lange musst du nicht warten! Wenn du konsequent an dir arbeitest, hast du die Regeln in fünf oder zehn Jahren verinnerlicht und lebst sie. Ich wollte damit nur sagen, dass Menschen nun einmal nicht perfekt sind! Aber sie müssen perfekt werden wollen, dann schaffen sie vieles."

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