Sonntag, 15. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 09
Vor uns tauchen Hütten am anderen Flussufer auf. Ein Boot liegt da und Kinder toben ausgelassen im Wasser.
Ich setze mich mit untergeschlagenen Beinen in den Sand und beginne zu meditieren. Amal lässt sich neben mir nieder. Er schaut dem Treiben zu. Bald höre ich ihn fragen:

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-, ich möchte gerne mitspielen. Darf ich?"

Ich nicke. Er geht ins Wasser, um sich bald auf die Wellen zu werfen und zu den anderen Kindern zu schwimmen. Wieder suche ich in der Meditation nach Prana -Lebenshauch-. Irgendwann kann ich Prana erkennen. Es ist, als würde ich wellenförmige Gebilde sehen, die von den Lebewesen um mich herum ausgehen.

Das Prana der Kinder ist in ständiger Bewegung. Amal erkenne ich dazwischen an einer besonderen 'Färbung', die ich mir in der Nacht eingeprägt habe. In einiger Entfernung schleicht ein Baagh -Tiger- herum, der von den Kindern angelockt worden ist. Möglicherweise hat er Hunger. Er nutzt jede Deckung.
Plötzlich erkenne ich die ruhige Vorwärtsbewegung eines anderen Wesens im Wasser. Ich versuche den Tiger darauf aufmerksam zu machen, genauso wie ich in der Nacht die Brüder in der Natur besänftigt und schläfrig gemacht habe, damit sie uns nichts antun. Hier jedoch muss ich anders eingreifen.

Aus Sicht der Kinder geht plötzlich alles ganz schnell. Sie sehen einen Tiger in langen Sätzen auf das Wasser zu rennen und dann in deren Nähe hineinspringen. Schreiend versuchen sie das rettende Ufer zu erreichen. Sie laufen zu ihren Hütten. Von dort kommen ihnen Erwachsene entgegen. Sie sehen, wie ein Tiger seine Zähne in das Maul eines Magaramachchh -Krokodils- gegraben hat und sich mit Vorder- und Hinterpfoten auf dessen Rücken festkrallt. Das Krokodil versucht den Tiger abzuschütteln, indem es sich um seine Längsachse rollt. Irgendwann gelingt ihm das auch. Der Tiger kommt zum Ufer zurück und das Krokodil setzt seinen Weg unbehelligt fort. Ich danke dem starken Bruder in Gedanken, der sich die Feuchtigkeit aus dem Fell schüttelt und vom Wasser wegtrabt.

Einige Zeit danach schiebt ein Mann drüben das Boot ins Wasser. Amal springt hinein. Der Mann rudert den Jungen auf meine Seite des Flusses. Amal deutet auf mich und der Mann steuert das Ruderboot zu mir. Bei mir angekommen, springt Amal aus dem Boot und hält den Bug fest.

"Achchha din, Paramapaavan -Guten Tag, deine Heiligkeit-," begrüßt der Mann mich. "Darf ich dich in mein bescheidenes Haus einladen?"

Ich erhebe mich und antworte:
"Gesegnet sei dein Tag, mein Sohn. Ich komme gerne mit dir."

Amal macht mir Platz, damit ich einsteigen kann. Danach schiebt er das Boot ins tiefere Wasser und zieht sich an Bord. Der Mann dreht das Boot quer zur Strömung und lässt sich ein paar Meter zurücktreiben, bevor er weiterdreht und an das gegenüberliegende Ufer in Höhe der Ansiedlung rudert. Dort verlasse ich mit Amal das Boot, um dem Mann Platz zu machen. Wir halten das Boot fest, während auch er ins Wasser springt. Gemeinsam ziehen wir das Boot nun auf das Ufer.

"Bitte kommt mit," fordert er uns freundlich auf.

Wir folgen ihm zwischen die Hütten. Beim Eingang einer Hütte angekommen, bietet er uns an einzutreten. Mit einem Segen für das Haus und seine Bewohner nehme ich sein Angebot an und trete in das Dämmerlicht im Inneren der Hütte. An der Feuerstelle sitzt eine ältere Frau und bereitet gerade ein Essen vor. Eine junge Frau mit einem Baby im Arm sitzt abseits und stillt es bei unserem Eintreten.

Wir lassen uns beim Kochfeuer nieder. Unser Gastgeber schenkt uns Tee aus. Ich verbeuge mich leicht und nehme die Teeschale in Empfang. Amal wiederholt meine Verbeugung, als er seine Schale erhält.

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-," spricht mich der Hausherr an. "Der aadaraneey pita -ehrenwerte Vater- ist vor einer Pflanzperiode verstorben. Wir haben ihn eingeäschert und die Asche dem Fluss überlassen. Nun haben meine beiden älteren Brüder die Reisfelder unter sich aufgeteilt. Eine Drittelung hätte uns alle in Armut gestürzt. Für die Pflege unserer Mutter erhalte ich von Beiden eine kleine Menge ihrer Ernte. Zum Glück habe ich vor dem Tod meines ehrenwerten Vaters heiraten können. Er hat mit dem Brautvater den Brautpreis ausgehandelt und meine priy mahila -liebe Frau- ist bei uns eingezogen. Nun hat sie mir unser erstes Kind geschenkt. Aber es macht uns Sorgen. Es kränkelt trotz der Heilkräuter."

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Freitag, 13. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 08
Ich selbst wandere mit dem Jungen am Flussufer entlang. In einigen Stunden werden wir so das nächste Dorf erreichen. Die Ansiedlungen der Menschen sind fast immer in der Nähe von Wasserläufen errichtet. So erhalten sie frisches Trinkwasser und bei größeren Wasserläufen auch Fische.

Es dauert nicht lange, da beginnt Amal zu sprechen:
"Du hast mir von Siddhartas Lebenslauf erzählt, Paramapaavan -deine Heiligkeit-, aber was ist denn nun Buddhas Lehre?"

Er schaut dabei zu mir auf. Ich nicke ihm freundlich lächelnd zu und beginne die heutige Unterweisung:

"Wir Anhänger Buddhas glauben an 'Die vier edlen Wahrheiten'. Sie heißen Dukkha, Samudaja, Nirodha und der Achtfache Pfad. Der erste Merksatz 'Dukkha' bedeutet, das Leben ist voller Leid."

"Das kenne ich," gibt er mir zurück. "Aber woher kommt das Leid?"

"In den meisten Fällen fügen Menschen ihren Mitmenschen wissentlich oder unwissentlich Leid zu," antworte ich ihm. "Dann gibt es da noch die Schicksalsschläge, für die niemand verantwortlich ist."

"Warum fügen Menschen eigentlich ihren Mitmenschen Leid zu?" nutzt er ein in seiner Altersgruppe oft gebrauchtes Fragewort.

Innerlich freue ich mich darüber und antworte ihm lächelnd:

"Unwissentlich geschieht das meist aus Gedankenlosigkeit, Amal. Die Leute denken nicht nach über die Folgen ihres Tuns.
Das wissentlich oder absichtlich herbeigeführte Leid wird im zweiten Merksatz Samudaja beschrieben. Er bedeutet, die Ursache für das Leid ist Habgier."

"Um meinen Mitmenschen kein Leid anzutun, muss ich also auf mich und mein Tun achten," resümiert er.

"Ja, genau!" rufe ich freudig aus. "Achte stets auf das, was du sagst oder tust. Der dritte Merksatz Nirodha besagt, dass ein Anhänger Buddhas die Habgier überwinden muss."

"Wie ist das aber dann, wenn mich jemand in böser Absicht überfällt und mir Leid zufügen will?" bohrt Amal weiter.

Ich bleibe gelassen und antworte geduldig:
"Niemals darfst du angreifen, Amal! Damit ginge ja das erste Leid von dir aus. Du darfst dich aber verteidigen. Wenn der Gegner sich als übermächtig erweist, und du sterben solltest... Habe keine Angst! Der Tod ist nicht das Ende. Du wirst wiedergeboren und der Kreislauf des Lebens beginnt wieder von vorne. Das geschieht so oft, bis du ein Leben wie Buddha zu führen verstehst. Dann erreichst du auch das Nirwana."

"Kuna -Gut-, und was bedeutet der 'Achtfache Pfad', Paramapaavan -deine Heiligkeit-?"

"Dazu möchte ich dir erklären, Amal, wenn die Menschen die Lebensregeln des 'Achtfachen Pfades' genau befolgen, überwinden sie die Habgier und können zur wahren Erkenntnis aller Dinge gelangen. Sie führen den Menschen auf einen Mittelweg zwischen einem Leben in Luxus und einem Leben des Verzichts. Willst du später ein Guru werden wie ich, dann sollte dir der Verzicht zur Lebensaufgabe werden."

Ich füge eine kleine Gedankenpause ein, um dem Jungen Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, dann fahre ich fort:

"Erstens, heißt es da, bemühe dich um Weisheit und verhalte dich immer richtig. Zweitens, sei gütig und friedfertig. Drittens, lüge niemals. Viertens, tue keinem Lebewesen Böses an und stehle nicht. Fünftens, schade niemandem und zerstöre die Natur nicht. Sechstens, gib dir Mühe und erfülle deine Pflichten. Siebtens, sei achtsam, denke und handele stets besonnen. Und schließlich achtens, konzentriere dich, denke nach und meditiere."

Amal geht nun eine ganze Weile stumm neben mir her. In seinem Kopf arbeitet es. Irgendwann antwortet er resigniert:

"Das sind keine leichten Regeln!"

Ich schaue ihn an und ermutige ihn:
"Sei nicht so schnell entmutigt, Amal! Alles braucht seine Zeit. Du bist ja auch erst seit gestern mein Shishy -Schüler-. Noch ist kein Meister aus den Wolken gefallen! Geduld und Gelassenheit sind wichtige Eigenschaften im Leben. Ein Guru muss den Leuten Gutes tun, ihnen Freude bereiten, bescheiden leben und seine Mitmenschen immer wieder seelisch aufrichten.
Siddharta Buddha ist 80 Jahre alt geworden, bis er starb und ins Nirwana einging."

"So lange?" macht er nun und schaut mich mit großen Augen an.

Ich lache fröhlich auf und antworte ihm:
"Nein, so lange musst du nicht warten! Wenn du konsequent an dir arbeitest, hast du die Regeln in fünf oder zehn Jahren verinnerlicht und lebst sie. Ich wollte damit nur sagen, dass Menschen nun einmal nicht perfekt sind! Aber sie müssen perfekt werden wollen, dann schaffen sie vieles."

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Mittwoch, 11. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 07
"Du könntest das Handwerk deines Vaters erlernen. Sein Fischereigerät ist sicher noch vorhanden, seine Hütte wird noch stehen und einen Fischer wird es in eurem Dorf auch noch geben," schlage ich vor.

"Ich fühle mich bei den Gleichaltrigen nicht wohl!" stellt er fest.

"Mein spiritueller Lehrer hätte dann aber zwei Shishy -Schüler-. Das ist nicht üblich!" gebe ich ihm zu bedenken.

Da fällt er vor meinem älteren Begleiter auf die Knie und beugt sich zu seinen Beinen vor, die er mit seinen Ärmchen umschlingt.

Mein Guru beugt sich zu dem Jungen hinunter und fragt ihn:

"Wie heißt du, mein Junge?"

"Amal -Hoffnung-, Paramapaavan -deine Heiligkeit-," antwortet der Knirps und schaut scheu zu ihm auf.

Mein Guru schaut mich mit einem ernsten Blick an.

"Wenn du gewillt bist, Amal eine Chance zu geben, Kiron, dann trennen sich hier unsere Wege. Du bist so weit, selbst ein spiritueller Lehrer zu sein!"

"Aber Paramapaavan -deine Heiligkeit-..."

"Doch, doch! Das habe ich gestern in der Hütte der Leute miterlebt. Du hast dir mit den Jahren den Rang eines Guru erarbeitet! Nun darfst du dein Wissen weitergeben."

Ich verbeuge mich vor Paramapaavan -seiner Heiligkeit-, nehme seine Hände in meine und führe sie an meine Stirn.

"Shubha Labha -Gutes Gelingen-," wünscht er mir nun.

Ich habe ein Knie gebeugt. Nun legt er mir segnend die Hand aufs Haar, dreht sich um und macht einen weiten Schritt. Seinen Weg beobachtend bleibe ich stehen, neben mir der Jüngling Amal. Ich lege ihm eine Hand auf seine Schulter. Daraufhin schaut er zu mir hoch.

"Also ist es beschlossen," spreche ich ihn mit sanfter Stimme an. "Du bist von jetzt an mein Shishy -Schüler-. Wirst du mir bei allem vertrauensvoll folgen?"

"Ja, das werde ich, Paramapaavan -deine Heiligkeit-," erwidert der Junge.

"Ich nehme dich beim Wort, Amal, und werde dich beizeiten daran erinnern! Ein Spiel ist es nämlich nicht!" sage ich mit ernster Miene zu ihm. Dann setzen auch wir uns in Bewegung.

Unterwegs beginne ich Amal von Siddharta zu erzählen. Ich breite vor dem Jungen Buddhas Lebensweg aus bis zu seiner Erleuchtung. Wie auch ich damals fragt Amal als ich geendet habe skeptisch:

"Siddharta hat all den Reichtum seiner Familie zurückgelassen? Was aus seiner Frau und seinem Sohn wird, hat ihn nicht gekümmert?"

Ich erlebe bei der Frage ein Deja vú und überlege kurz, was mein Lehrer mir darauf geantwortet hat. Genauso argumentiere ich jetzt auch:

"Ihn hat das Schicksal der Menschen interessiert. Darum hat er sich gefragt, wie sie ihr Leiden beenden können. Darüber hat er nachgedacht, wenn er sich auf seinen Wanderungen einmal niedergelassen hat."

"Er wollte also, dass die Menschen nicht mehr leiden," fasst er meine Erzählung zusammen.

"Genau!" antworte ich ihm und lächele.

Er bleibt eine Weile stumm. Nach einigen Schritten sagt er:

"Ich habe schon viel Leid erfahren. Meine Eltern sind nicht mehr und die anderen Kinder akzeptieren mich nicht als ihresgleichen..."

"Ich unterweise dich, Amal. Geh mit mir den Pfad Buddhas. Darüber wird dein Charakter geschult und du erhältst viele Antworten auf drängende Fragen deines Lebens."

"Theek hai shukriya -In Ordnung, danke-," antwortet der Junge und lächelt zurück.

Allmählich wird es dunkel. Wir gehen bis zu einem Baum mit weit ausladender Krone. Dort lasse ich mich am Stamm nieder, schlage die Beine unter und fordere den Jungen auf, sich neben mich zu legen und zu schlafen. Dann beginne ich mich zu entspannen. Ich schließe die Augen und horche in mich hinein. Irgendwann sehe ich das Prana -Lebenshauch- fließen und beobachte auf diese Weise meine nähere Umgebung, damit uns in der Nacht nichts zustößt.

Ich bemerke dadurch, dass wir nicht allein bleiben in der Nacht. Aber unsere Brüder, die Tiere, begegnen uns friedfertig. Sie bleiben auf Abstand.

Als Amal am darauffolgenden Morgen erwacht, erhebe ich mich und fordere ihn auf, mit mir zum nahen Fluss zu gehen. Dort führen wir unsere Morgenhygiene durch. Dadurch gebe ich den wildlebenden Tieren in unserer Nähe Gelegenheit, sich ungesehen zu entfernen.

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