Samstag, 21. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 12
Wir setzen uns an Ort und Stelle im Schneidersitz auf den Boden und ich teile mit dem Mann unseren Vorrat an Früchten. Er beginnt:

"Vor vielen Jahren, als die Stadt auf Geheiß unseres damaligen Raaja -Königs- erbaut wurde, hat er nach Westen hin auch sein Mausoleum und den Tempel des Vishnu aus Sandstein errichten lassen. Wir sind damals alle noch Hindus gewesen. Um diese Steinbauten für die Ewigkeit hat man den Königspalast und die Häuser der Bewohner traditionell aus Holz errichtet. Zwischen den Häusern ist genug Platz für Felder gewesen.
Als sein Sohn an die Macht gekommen ist, sind bald buddhistische Saadhu -Mönche- erschienen. Sie haben den neuen Raaja zu ihrem Glauben bekehrt, was sehr leicht gelungen ist. Ihre Lehre hat folgende Merksätze:
Zuerst: Die Schwachen verdienen ihr Schicksal. Kümmere dich um deine Stärke, denn Stärke ist Macht.
Sodann: Lebe mit Leidenschaft, denn sie gibt dir Kraft. Mit der Kraft erringst du Siege.
Drittens: Lass dich vom Zorn leiten, denn Zorn macht dich stark. Durch Zorn geleitete Aggressivität ist unaufhaltsam.
Viertens: Bekämpfe deine Angst und frage deine Feinde, was sie als ihre Stärke betrachten, was deren größte Angst ist, was sie am Meisten schätzen. So wirst du wissen, wie du deine Feinde schlagen kannst. Frage sie dann, worum sie dich am Meisten bitten, so wirst du wissen, wie du sie auf ewig unterdrücken kannst."

Ich fühle mich innerlich aufgewühlt, als ich davon höre. Das sind so ziemlich genau gegenteilige Lebensregeln zu denen, die mir mein alter Meister als von Buddha kommend beigebracht und die ich an Amal weitergegeben habe. Auch den Menschen habe ich in der Vergangenheit viel Gutes damit tun können. Diese Regeln hier fördern aber den Egoismus und die Habgier! Mir kommt es vor, als hätte sich hier die dunkle Seite manifestiert. Yin und Yang sind eigentlich in einem steten Wechsel begriffen. Hier hat jemand das Rad des Schicksals angehalten, und zwar auf der in meinen Augen falschen Seite!

"Und... an was glaubst du?" frage ich daher den Erzähler.

"Ich bin Hindu," meint er. "Ich glaube an Vishnu und die anderen Götter."

"Ich freue mich, dass du dir den neuen Glauben nicht zu eigen gemacht hast, mein Freund," antworte ich ihm lächelnd. "Dann möchten wir uns nun von dir verabschieden. Shubha Labha -Gutes Gelingen-!"

Wir erheben uns nun alle drei und entfernen uns freundlich lächelnd voneinander. Ich schlage den Weg ein den wir gekommen sind, bis wir so weit entfernt sind, dass wir uns gegenseitig nicht mehr sehen können. Dann wende ich mich nach Südwesten.

Wir halten uns wochenlang von jeder Ansiedlung fern, damit wir für eventuelle Verfolger unsichtbar werden. Dabei erreichen wir wieder einen Fluss. Wir wandern ihn gegen die Strömung entlang, bis wir einen Baum finden, den ein Blitz gefällt haben muss. Den ziehen wir ins Wasser und setzen uns auf den Stamm. Mit unseren Hölzern schieben wir ihn soweit, bis er in der seichten Strömung schwimmt. Nun setzen wir alles daran, dass er dem gegenüberliegenden Ufer immer näherkommt. Die letzten Meter waten wir an Land. Dort entkleiden wir uns teilweise und trocknen unsere Kesa -Umhänge-, die wir aus Stoffresten zusammengenäht und im Laufe der Jahre immer wieder ausgebessert haben.

Nachdem die Sonne unsere Umhänge getrocknet hat, können wir sie wieder anziehen. Das Trocknen der Dhoti -um die Hüfte gewickelten und zwischen den Beinen hindurch geführte Tücher- geht nun schneller. Anschließend gehen wir auf dieser Flussseite weiter gegen die Strömung am Flussufer entlang.

Amal ist inzwischen meisterlich in 'Kalaripayattu', unserer Selbstverteidigungstechnik. Auch die Meditation beherrscht er sehr gut. Leider kann er dabei keine Verbindung zu Prana -Lebenshauch- erlangen. Ob das nur wenigen Menschen gelingt?

Er hat im Laufe der vergangenen Jahre die 'vier edlen Wahrheiten Buddhas' verinnerlicht und sein Leben danach ausgerichtet. Eigentlich könnte ich Amal zu einem Guru ernennen und ihn seiner Wege ziehen lassen. Er könnte sich einen eigenen Shishy -Schüler- auswählen und ihn lehren und ich könnte es ebenfalls noch einmal tun.

Das Erlebnis im Nordosten von hier am Rande des fremden Königreiches lässt mich allerdings mit Vorsicht handeln. Es ist besser, wenn wir zusammenbleiben. Ich denke, wir sollten zuerst einmal sesshaft werden und ein Kloster gründen, das sich anfangs nicht von einem normalen Dorf unterscheidet.

Wir wandern also weiter den Fluss entlang und schauen uns dabei genau in der Landschaft um. Einerseits wollen wir keinem Bauern sein Land streitig machen, andererseits soll die Lage etwas erhabenes innehaben.

Ein Fels, der den Fluss zu einer Kehre zwingt, lässt mich aufmerksam werden.

'Von dort oben haben wir einen guten Überblick über die Landschaft!' denke ich mir.

Wir erklimmen ihn und schauen uns um. Ein kleines Plateau liegt dort oben vor einer Felsnadel, die den höchsten Punkt markiert. Die nähere Umgebung des Felsens ist steinig. Deshalb haben sich hier keine Menschen angesiedelt. Bei einem Rundblick von der Felsnadel kann ich auch in der Ferne keine Ansiedlung entdecken. Etwas weiter vom Fluss entfernt erkenne ich eine Waldinsel im Grasland. Um in allen Richtungen das nächste Dorf zu erreichen, würden wir sicher mehr als einen Tag wandern müssen, schätze ich.

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Donnerstag, 19. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 11
"Das ist meine Aufgabe als Guru," antworte ich meinem Shishy -Schüler-. "Ohne zu werten gehe ich auf die Menschen zu und helfe dem, der Hilfe braucht, weil er vor sich einen Berg des Schicksals erblickt und darüber mutlos wird. Wenn Buddhas Lehren dein Leben bestimmen, begegnest du deinen Mitmenschen auch mit dem richtigen Mitgefühl und liebevoller Zugewandtheit.
Auch deine eigene Erfahrung trägt zu der Motivation bei, deinen Mitmenschen helfen zu wollen. Wenn du deine Erfahrungen zur Grundlage deines Handelns machst, wirst du bemerken, dass wir als Menschen für andere Menschen mitverantwortlich sind. Das gibt unserem Leben einen Sinn. Deine Erfahrungen zeigen dir auch, dass du manchmal Fehler machst, aber aus ihnen lernen kannst. Das macht dir Mut. Statt zu fragen, was Buddha uns lehren kann in bestimmten Lebenssituationen, fragen wir besser: Was kann die Wirklichkeit uns lehren? Buddha hilft uns nur dabei, die Realität zu unserem Lehrer zu machen."

"Wir sind bisher immer auf wohlmeinende Menschen gestoßen," beginnt Amal nach einer Weile von Neuem. "Was, wenn uns plötzlich Menschen mit Waffen bedrohen?"

"Ihnen dürfen wir nicht anders gegenübertreten, Amal. Du darfst dich nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen, weder aus Angst, noch vor Zorn. Hüte dich auch vor der Aggressivität! Diese drei Gefühle nehmen schnell von dir Besitz! Du musst sie unbedingt bekämpfen!"

"Sind diese Gefühle denn so stark?" fragt er, leicht verunsichert.

"Nein, aber sie sind verführerischer. Nur wenn man Ruhe bewahrt, erkennt man die Unterschiede zwischen Yin und Yang. Nur wenn man den inneren Frieden bewahrt, kann man ihn auch nach außen tragen!"

"Aber wenn sich der Mensch in Waffen davon nicht beeindrucken lässt?" setzt Amal nach.

"Das weißt du erst, wenn dein Gegenüber angreift. Du darfst dich nur verteidigen, Amal! Wenn dein Gegenüber dich mit Heimtücke in Sicherheit wiegt, und einen unbedachten Augenblick nutzt, dich zu töten, bedenke: Der Tod ist nicht das Ende! Auch deine Eltern sind nach ihrem Tod wiedergeboren worden."

"Was ist aber, wenn ich zufällig miterlebe, dass böse Menschen in ein Dorf einfallen, die Bauern berauben und töten wollen?"

"Können sich diese Menschen nicht wehren, darfst du eingreifen, Amal. Aber hüte dich dabei vor den schlechten Gefühlen! Sie machen dich blind. Bleibe rational und überlege dir eine Taktik, wie du am ehesten Erfolg hast. Behalte also den Überblick, statt dich auf eine Sache zu konzentrieren."

"Gut," meint der Junge. "Aber wie könnte ich in dieser Situation helfen, ohne bei meinem Auftritt sofort getötet zu werden. Damit wäre den Bauern auch nicht geholfen..."

Ich lächele.

"Zwei Wege," sage ich. Amal schaut mich aufmerksam an. "Du hast mich schon oft auf dem Boden sitzen und mit geschlossenen Augen nachdenken gesehen. Das mache ich, um äußere Einflüsse weitestgehend auszuschließen. Dann horche ich in mich hinein, um alsbald zu wissen, wie ich am besten vorgehe."

"Und der andere Weg?" lässt Amal nun nicht locker.

"Die waffenlose Selbstverteidigung! Unsere Vorfahren haben unsere Brüder in der Wildnis beobachtet und Bewegungsfolgen erarbeitet, die uns helfen, unsere Gegner ohne Waffen zu besiegen. Diese Selbstverteidigung nennt man Kalaripayattu."

"Kannst du mir beides lehren, Paramapaavan -deine Heiligkeit-?"

"Ich will es gerne versuchen," erwidere ich ihm.

Dies ist der Beginn eines jahrelangen Trainings in Meditation, sowie in der Selbstverteidigung. Ich führe das Training immer durch, wenn ich mit ihm in der Natur alleine bin, nicht wenn wir in einem Dorf unter Menschen sind.

Allmählich kann ich verstehen, warum mein alter Lehrer nicht mehr als einen Shishy -Schüler- gleichzeitig gewollt hat.

Treffen wir auf unseren Pfaden auf Städte, umgehen wir sie, denn dort würden wir am ehesten auf bewaffnete Menschen treffen, und ich trage die Verantwortung für meinen Shishy.

*

Wir wandern jetzt ein Dutzend Jahre von Dorf zu Dorf. Dort erzählen wir den Menschen von Siddharta und wer will, erfährt auch mehr. Ich spreche dann über 'Die vier edlen Wahrheiten Buddhas'.

Irgendeiner lädt uns danach immer ein, in seinem Haus zu speisen und zu nächtigen. Zumeist ist das mit der Bitte verbunden, ihm bei einem gesundheitlichen oder zwischenmenschlichen Problem zu helfen.

Ich bin gewohnt, dass die Menschen immer nur so viel Nahrung erzeugen, wie die Dorfgemeinschaft auch verbraucht. Nun kommen wir in eine Gegend, in der die Bauern, Viehzüchter und Fischer viel mehr erzeugen und den Überschuss in Leinensäcke verpacken und auf Wagen laden.

Auf meine Frage, wohin sie die Säcke verkaufen, wird mir geantwortet:

"Ehrenwerter Herr, das sind unsere Steuern, die wir Shahar Mandir -Stadt Tempel- schulden. Von Zeit zu Zeit kommen Saadhu -Mönche- in Begleitung von Soldaten und laden die Steuern auf große Wagen."

"Oh," mache ich erstaunt und fordere den Mann auf, sich zu setzen und mir mehr davon zu erzählen.

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Dienstag, 17. Mai 2022
Kiron, der Sucher - 10
Ich hebe meine gefalteten Hände an mein Kinn und antworte:

"Du hast es nicht leicht im Leben, mein Sohn. Ihr seid Bauern. Hast du dir einmal überlegt, neben den Feldern deiner Brüder ein weiteres Reisfeld anzulegen?"

"Dazu braucht es vieler Männer, die ich dafür entlohnen muss!" bringt er ein Gegenargument und sagt damit, dass er zu arm ist, ein weiteres Feld im Überschwemmungsgebiet des Flusses anzulegen.

Ich nicke und wende mich zu seiner Frau um. Das Baby ist satt. Regelmäßige Atemzüge künden davon, dass es wieder eingeschlafen ist.

"Darf dein Baby ein paar Minuten in meinem Schoß schlafen, meine Tochter?" frage ich sie.

Sie verständigt sich über Blicke mit ihrem Mann. Dieser nickt aufmunternd. Während ich die Meditations-Stellung einnehme, nähert sie sich uns und legt mir ihr Kind vorsichtig auf meine überkreuz geschlagenen Beine.

Ich schließe meine Augen und lege meine Hand auf dem Kopf des Kleinen. Nun beginne ich mit der Meditation und nehme Kontakt mit Prana auf. Nach einer Weile öffne ich meine Augen wieder. Ich schaue die Frau an und frage sie:

"Kaust du die Heilkräuter durch und gibst sie dann der Kleinen in den Mund?"

Sie nickt und bestätigt es:
"Ja, Paramapaavan -deine Heiligkeit-."

"Koche ab jetzt Wasser auf und lasse die Kräuter darin ziehen. Gib ihr den Tee in kleinen Schlucken, wenn die Temperatur wieder angenehm ist. Mit der Zeit wird es der Kleinen besser gehen!"

"Danke, vielen Dank, Paramapaavan -deine Heiligkeit-," antwortet sie und verbeugt sich tief.

Ich übergebe ihr das Kind, das sie nun sanft in ihren Armen wiegt. Sie erhebt sich und geht an die Wand der Hütte. Dort nimmt sie ein zusammengeschlagenes Tuch hoch und bringt es an das Feuer. Die ältere Frau braut nun einen Tee für das Kleine.

Zu unserem Gastgeber sage ich nun:
"Würdest du mich bitte zu deinen Brüdern führen?"

Wir verlassen die Hütte und der Mann führt uns zu zwei weiteren Hütten. Einen Mann finden wir zuhause vor. Der andere Bruder sei auf dem Feld, wird uns gesagt. Also lasse ich mich vor den Ort führen. Draußen auf den Feldern mache ich mir ein Bild von der momentanen Lage. Natürlich ist die Familie des verstorbenen Familienoberhauptes nicht die einzigen Bauern im Dorf. Ein weiteres Feld neben den Feldern seiner Brüder anzulegen, ist daher nicht möglich. Die gemeinsamen Felder auf alle drei Brüder aufzuteilen, würde alle drei Familien verarmen lassen. Ich wandere weiter. Am Rand der Felder angekommen, schlage ich meinen Begleitern vor:

"Zu Dritt schafft ihr es, hier ein weiteres Reisfeld anzulegen, das euer Bruder bewirtschaftet. Ihr bräuchtet ihm dann nicht mehr von eurer Ernte abgeben! Wäre das in Ordnung für euch?"

Es entspannt sich nun eine kleine Diskussion darüber, ob es wirklich reicht, mit nur drei Männern ein neues Feld anzulegen.

"Fangt einfach an," ermutige ich sie. "Zeigt eurer ehrenwerten Mutter, zu was ihr imstande seid, wenn ihr zusammenhaltet."

Nun ist ihr Ehrgeiz geweckt. Sie versprechen sich gegenseitig ein neues Reisfeld anzulegen und in den nächsten Tagen damit zu beginnen. Anschließend gehen wir ins Dorf zurück und nehmen im Haus unseres Gastgebers das Abendessen ein. Während sich die Anderen schlafen legen, beginne ich meine Meditation. Ich suche wieder nach Prana und schaue mit meinem 'inneren Beobachter' in die Hütten der Brüder unseres Gastgebers. Ich kräftige ihr Versprechen der Hilfe für ihren jüngeren Bruder und entspanne dann, die Ströme Pranas im Dorf beobachtend. Ganz besonders interessiert mich dabei das Baby des Paares, in dessen Hütte wir ruhen.

Am nächsten Morgen geht die Frau des Gastgebers mit ihrem Baby, das sie in einem Tuch trägt, und einem Krug zum Fluss, um Wasser zu schöpfen. Bald darauf ist sie zurück und schüttet jedem von uns Wasser in seine Schale, damit wir uns frisch machen können. Danach kochen die Frauen Tee und bereiten das Frühstück vor.

Das Baby ist immer bei der Frau. Es lugt interessiert aus seiner 'Hängematte' hervor und lacht mich an, wenn seine Mutter bei der Arbeit an mir vorbeikommt. Auch das Kleine bekommt seinen speziellen 'Heiltee'. Während die junge Frau mit uns frühstückt, setzt sie es an ihre Brust an.

Danach verabschieden wir uns herzlich von den freundlichen Leuten und wandern nun diesseits des Flusses weiter. Unterwegs beginnt Amal:

"Paramapaavan -deine Heiligkeit-, du bist immer freundlich und hilfsbereit zu den Leuten..."

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