Freitag, 9. August 2024
Neue Philosophie -20
Da der Nabuh unsere Sprache nicht spricht, muss ich ihm die Entscheidung der Okape -Schamanin- übersetzen. Mir geht auf, was die Entscheidung bedeutet und ich begehre weinerlich auf:

"Ma-a-a-a -Nei-ei-ei-ein-!"

Da die Miene meines Vaters, des Häuptlings, keinen Widerspruch zulässt, und er sagt "Es ist entschieden!" füge ich mich in mein Schicksal und übersetze dem Nabuh, die Entscheidung der Schamanin.

Die Versammlung zerstreut sich und ich ziehe den Nabuh in den Unterstand des Häuptlings. Wir setzen uns auf den Boden und eine Nachbarsfrau gibt uns Essen ab. Ich lächele sie dankbar an.

Auch der Nabuh erhält eine Schale. Er macht ein unglückliches Gesicht und angelt eine der dicken Insektenlarven. Ich nehme eine Ähnliche aus meiner Schale und schiebe sie mir in den Mund. Dazu sage ich:

"Come on!"

Er kneift die Augenbrauen zusammen. Seine Augen werden zu schmalen Schlitzen. Dann hat er das gekochte Insekt im Mund und kaut darauf herum. Anschließend nimmt er eine süße Frucht -ketetiwe- auf und schluckt wohl beides gemeinsam hinunter.
Bald wird es Nacht. Meine Eltern hängen ihre Hängematten über der glühenden Holzkohle des Kochfeuers auf. Ich zeige dem Nabuh, wie man das macht. Danach legen wir uns schlafen.

Am nächsten Tag beginne ich, dem Nabuh den Gebrauch des Bogens zu erklären. Er stellt sich anfangs etwas unbeholfen an. Der Anführer des Jagdtrupps schaut zu und meint:

"Dieser Nabuh wird nichts lernen! Er sieht nichts."

Genervt antworte ich ihm:
"Kuhami -Geh voran-!"

Nachdem er den Bogen richtig hält und die Sehne kräftig durchziehen kann, gebe ich ihm einen Pfeil und zeige ihm einen Kürbis als Ziel. Es dauert eine Weile, bis er ihn trifft.

Danach beginne ich, ihm einige Wörter auf Yanomam beizubringen. Das klappt viel besser. Ich wähle dafür einige Wörter rund um die Jagd mit Pfeil und Bogen. Dann streifen wir in der Nähe des Shabono -Dorfes- unter den Bäumen umher. Ich erkläre ihm den Unterschied zwischen Yaro -jagdbaren Tieren- und Rishi -Doppeltieren-. Nach einer Weile habe ich mich nah genug an ein Reh angepirscht. Der Nabuh wartet und schaut zu.

Mein Pfeilgift betäubt das Reh. Als es fällt huscht der Nabuh vor und schneidet ihm die Gurgel durch. Dabei sagt er:

"Mein Oshe -Bruder-, ich danke dir. Dein Geist verbindet sich mit Omama -Schöpfer- und dein Körper wird Teil der Yanomami -Menschen-."

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Dienstag, 6. August 2024
Neue Philosophie -19
"Okay," meine ich. "Und Sie leben sehr nach der letzten Regel!"

Er zuckt lächelnd die Schultern.

"Ich gehöre zu einem buddhistischen Kloster in Japan. Wir haben es auf unsere Fahne geschrieben, die Natur zu achten und zu schützen. Dazu gehören auch die darin lebenden Naturvölker!"

"Sie sind Mönche?" frage ich stirnrunzelnd nach.

Er lächelt freundlich und nickt.

"Wenn Sie es so bezeichnen wollen, dann ja!"

"Und Sie haben aus den Medien von diesem Problem hier erfahren und wollten sich einmischen?"

Nun wiegt mein Gegenüber den Kopf.

"Einmischen ist ein hartes Wort! Wir wollten helfen, damit alles wieder in Ordnung kommt. Hilferufe können uns naturgemäß nicht über Telekommunikation erreichen. Außerdem kennt niemand unsere Institution. Aber, seien Sie sicher: Die Yanomami haben mehr als einmal und auch in großer Zahl Hilferufe an ihre Götter gesandt."

*

Ich, Yarima, trete vor und begrüße meinen Vater mit dem Respekt, der einem Häuptling gebührt:

"Hapeh -Vater-, ich habe diesen Nabuh-Waipe -Krieger der Weißen- im Urihi -Wald- getroffen. Ich wollte ihn töten, denn er gehört nicht hierher. It’l hat nun die Saat der heiligen Liane auf ihn geblasen. Ich sehe das als ein Zeichen. Deshalb haben wir ihn hierhergebracht. Mutter soll als Okape -Schamanin- über ihn entscheiden."

Meine Mutter tritt vor, macht eine abwehrende Handbewegung mit beiden Händen zu den Seiten, als will sie die Menge teilen.

"Lasst den Nabuh los! Ich werde mir diesen Mann ansehen."

Während die Schamanin noch näher an den Nabuh herantritt, stellt der Häuptling fest:

"Dies ist der erste Nabuh-Waipe, der sich zu uns gewagt hat."

Der Anführer der Jagdgruppe lacht:
"Ein Waipe -Krieger-? Ich könnte ihn ganz einfach töten!"

Darauf antwortet der Häuptling streng:
"Ma -Nein-! Wir müssen mehr über ihn erfahren."

Die Okape -Schamanin- hat ihre Betrachtung abgeschlossen und erklärt dem Nabuh:

"Meine Tochter wird dir unsere Bräuche lehren. Sie wird dir beibringen wie wir sprechen und uns im Urihi -Wald- bewegen!"

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Samstag, 3. August 2024
Neue Philosophie -18
"Das ist nicht schwer zu erkennen! Hat er auch herausgefunden, woher das Leid kommt?" werfe ich dazwischen.

"Nun, Shori -Schwager-," antwortet er lächelnd. "In den meisten Fällen fügen Menschen ihren Mitmenschen wissentlich oder unwissentlich Leid zu."

"Warum fügen Menschen ihren Mitmenschen Leid zu?" bohre ich weiter.

"Unwissentlich geschieht das aus Gedankenlosigkeit," antwortet mir mein Gegenüber geduldig. "Die Ursache für das wissentlich oder absichtlich herbeigeführte Leid ist die Habgier."

"Aha, das ist genau das, was wir hier wieder sehen!" rufe ich aus.

"Genau!" meint mein Gesprächspartner. "Der Buddhist ist nun gehalten, die Habgier zu überwinden."

"Was aber eher ein frommer Wunsch ist..." stelle ich fest.

"Bei denen, die nie von Buddhas Lehren gehört haben, sicher!" meint er. "Aber auch unter Buddhisten gibt es schwarze Schafe. Das ist keine Frage! Den anderen hat Buddha Lebensregeln mit auf ihren Weg gegeben, die man in dem 'achtfachen Pfad' zusammengefasst hat."

"Was besagt der?" frage ich, nun interessiert schauend.

"Befolgen die Menschen diese Regeln genau, überwinden sie die Habgier und können zur wahren Erkenntnis der Dinge gelangen," redet der Mann weiter. "Sie führen den Menschen auf einen Mittelweg zwischen einem Leben in Luxus und einem Leben des Verzichts."

"Hm, okay," dränge ich. "Und wie lauten nun die Regeln?"

"Erstens, bemühe dich um Weisheit und verhalte dich immer richtig. Zweitens, sei gütig und friedfertig. Drittens, lüge niemals. Viertens, tue keinem Lebewesen Böses an und stehle nicht. Fünftens, schade niemandem und zerstöre die Natur nicht. Sechstens, gib dir Mühe und erfülle deine Pflichten. Siebtens, sei achtsam, denke und handele stets besonnen. Und schließlich achtens, konzentriere dich, denke nach und meditiere."

"Diese Regeln erscheinen mir aber wenig alltagstauglich!" meine ich. "Wie soll ich mich immer richtig verhalten? Oftmals weiß ich gar nicht, was richtig ist und was falsch. Das erkenne ich immer erst später, wenn es kaum noch ein Zurück gibt!"

"Ich hörte, Sie haben sich vom Sicherheitsdienst der Mine anwerben lassen, dann aber die Erkenntnis gewonnen und infolgedessen die Seite gewechselt."

"Ja, und?" frage ich und schaue ihn provozierend an.

Der Mann lächelt gütig und antwortet:
"Sie haben genau das Richtige getan! Nämlich das, was Ihnen ihr Gewissen vorgibt. Die nächsten Regeln betreffen ebenfalls ihr Gewissen. Niemand verbietet Ihnen aber, sich angemessen zu verteidigen. Letzteres haben wir gerade im Rahmen unserer Möglichkeiten getan - und dabei die Anzahl der Todesopfer so gering wie möglich gehalten."

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