Sonntag, 12. Juni 2022
Eine neue Hoffnung -09
Endlich ist der Feierabend da. Der heutige Arbeitstag hat sich gezogen wie Kaugummi. Wie gut, dass ich mich heute Abend mit Freunden im Club verabredet habe. Dabei kann ich endlich abschalten. Ich setze mich in meinen Wagen, kurve vom Firmenparkplatz herunter und fädele mich in den Verkehr ein. Die CD im Autoradio spielt meine Lieblingsmusik.

Zwanzig Minuten später erreiche ich das Mehrfamilienhaus, in dem mein Zwei-Zimmer-Appartement liegt. Ich betätige das Rolltor über Funk und parke in der ebenerdigen Gemeinschaftsgarage. Danach verlasse ich die Garage wieder und will zum Hauseingang gehen. Auf dem Bürgersteig ist wenig los. Nur ein Passant kommt mir entgegen.

Irgendwie kommt mir der Mann bekannt vor. Er trägt eine Jeans und ein safrangelbes T-Shirt. Darüber hat er eine sandfarbene Jacke an. Normales Outfit also. Was mich jedoch fesselt, ist das Gesicht. Der Mann hat eine braune Hautfarbe, schwarzes Haar und scheint etwas jünger als ich zu sein. Seine Gesichtszüge erinnern mich an etwas. Nur an was?

Als wir in etwa auf gleicher Höhe sind, grüßt er mich: "Hello!"

Der Akzent, mit dem er das englische Wort ausspricht, lässt mich genauer hinschauen. Ich kenne diesen jungen Mann! Nur woher genau?

Plötzlich fällt es mir ein. Aber kann das sein? Ich vergewissere mich und frage ihn:

"Ashok? Is it you?"

Der junge Mann lächelt, faltet die Hände und führt die Fingerspitzen an sein Kinn. Das ist er! Das kann nur er sein!

"Ja, Leni. Ich bin es! Und ich kann jetzt Deutsch mit dir reden," antwortet er mir auf Deutsch.

"Meine Güte, bist du groß geworden! Erzähle! Hast du Zeit, kurz mit zu mir zu kommen?" stammele ich.

Er nickt mir zu und bestätigt es mir. Ich wende mich also zur Haustür, schließe auf und lasse ihn an mir vorbei. Während wir die Treppe in den zweiten Stock emporsteigen, frage ich ihn neugierig:

"Wie bist du denn hierhergekommen?"

"Das war eine Reise von ungefähr zwei Jahren. Unterbrochen von Arbeit und Lernen."

"Oh!" mache ich.

Welche Entbehrungen muss er wohl auf sich genommen haben! In meiner Wohnung biete ich ihm im Wohnzimmer Platz an. Ich bin peinlich berührt, als er sich im Schneidersitz auf den Teppich setzt und meine:

"Du darfst dich ruhig in den Sessel setzen."

Er erhebt sich wieder, bedankt sich lächelnd und setzt sich mir gegenüber in den Sessel. Ich setze mich auf meine Couch, nehme die Beine hoch und frage ihn neugierig:

"Jetzt erzähle mal. Was ist damals zuerst geschehen, als wir mit dem Bus weggefahren sind?"

Mit einem Mal fällt mir ein Faux Pas auf. Sofort frage ich:

"Oh, was magst du denn trinken?"

"Gerne Wasser oder Tee," bestellt er und beginnt: "Als euer Bus das Dorf verlassen hat, ist der Sadhu auch aufgebrochen und ich bin ihm gefolgt. Wir sind von Dorf zu Dorf gewandert, wo der Sadhu über Siddharta Gautama und seine Lehre geredet hat. Ich habe sie inzwischen verinnerlicht. Bevor ich in Richtung Sonnenuntergang aufgebrochen bin, hat er mich auch zum Sadhu geweiht, weil ich alles gelernt habe, was auch er weiß."

"Das muss aber eine entbehrungsreiche Reise gewesen sein," stelle ich fest.

"Das macht nichts. Das bin ich gewohnt," antwortet er mir und lächelt mich an.

Nun erinnere ich mich an mein Vorhaben heute Abend und erkläre meinen Besuch:

"Ich komme gerade von der Arbeit und möchte duschen! Ich hoffe, es macht dir nichts aus."

Er meint mit beruhigender Stimme:
"Fühl' dich wie zuhause, Leni. Meine Anwesenheit soll auf dich nicht störend wirken!"

Ich muss lächeln und erhebe mich. Nachdem ich die Badezimmertür hinter mir geschlossen habe, fühle ich mich erleichtert. Dennoch bin ich verwirrt und in meinem Kopf dreht sich alles. Ich lehne mich mit dem Rücken an das Türblatt.

Ashok, der Junge aus Nepal, der in mir einen Engel oder Elfe vermutet hat, dieser witzige kleine Kerl ist in Gestalt eines jungen Mannes zu mir gekommen. Er ist ein Wandermönch geworden und hat dann den Weg nach Europa eingeschlagen. Ich habe ihm damals gesagt, in welcher Stadt ich wohne. Nun haben wir uns tatsächlich wiedergetroffen. Ob das ein Fingerzeig ist?
Ich löse mich von der Tür und entkleide mich, um unter die Dusche zu gehen. Dort hoffe ich, klarere Gedanken zu finden.

Das warme Wasser durchfeuchtet mein Haar, läuft über meine Schultern und Rücken. Unwillkürlich streichele ich zart über meine Brust. Nachdem ich die Ausbildung beendet habe und einige Jahre Papas Stellvertreterin in seiner Firma gewesen bin, sehne ich mich nach Liebe, nach einem jungen Mann, der genauso für mich empfindet, wie ich für ihn. Bisher ist es nie zu einer Beziehung mit einem Mann gekommen. Auch heute, der Besuch im Club, hat diesen Hintergedanken. Aber ich bin nicht die Schnelle, ich muss Vertrauen können, und das braucht seine Zeit.

Eine Stimme in meinem Inneren flüstert mir gerade zu: 'Nutze die Gelegenheit!' Ich schüttele den Kopf, trockne mich ab und husche ins Schlafzimmer. Dort wähle ich ein hautenges Schlauchkleid mit Spaghettiträgern. Dazu werde ich mir später eine Stola über die Schultern legen. Dann gehe ich wieder zu Ashok ins Wohnzimmer zurück.

"Magst du mitkommen?" frage ich Ashok. "Ich weiß zwar nicht, ob dir die Musik dort gefällt..."

"Gern," antwortet er lächelnd.

Ich werfe mir in der Garderobe noch die Stola über die Schultern, dann gehen wir zu meinem Wagen. Eine Viertelstunde danach parke ich vor dem Club und führe Ashok hinein. Wir werden erst einmal von den Anwesenden an der Bar neugierig beäugt. Ashok sieht vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig aus. Seine Aufmachung ist nicht gerade en vogue und dann das gelbe T-Shirt... Eingeweihte erkennen darin vielleicht den Sadhu, in Verbindung mit Haut- und Haarfarbe. Aber so tief geht die Erkenntnis der Leute hier nicht. Kurz darauf drehen sie sich wieder um, nehmen die unterbrochene Unterhaltung miteinander wieder auf oder widmen sich ihrem Getränk.

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