Samstag, 31. Dezember 2022
Aufbruch ins All -71
"Nicht wirklich," meint der junge Mann. "Wir sind hierher geflogen und so direkt ins Innere gelangt."

"Das sollten Sie aber einmal machen! Nehmen Sie sich ruhig die Zeit und umrunden Sie das Bauwerk. Äußerlich sieht der Jinja aus, wie sich die Wissenschaft die 'hängenden Gärten der Semiramis' vorstellt, einem vergangenen Weltwunder aus dem antiken Irak. Genau wie in den zeitgenössischen Beschreibungen der 'hängenden Gärten' handelt es sich beim Jinja um eine weitläufige Stufenpyramide mit Bepflanzungen und Wasserspielen. Damit will die O-Chisei zeigen, dass man die Natur bewahren kann und auch in der Lage ist, Wüsten zu begrünen.
Das nötige Wasser wird erst einmal aus der Luft entnommen. Die hohen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht in der Sahara, und der Umstand, dass Luft mit hoher Temperatur sehr viel Wasser speichert, nutzen wir um unsere Wasserrechnung so klein wie möglich zu halten.
Im Inneren des 'Schreins' befinden sich ebenerdig Säle, in denen Gläubige zu Buddha beten und verschiedene Zeremonien, wie zum Beispiel Hochzeiten feiern können. Außerdem gibt es in den Etagen darüber auch eine Schule mit allem was dazu gehört, wie Schulungsräume, Mensas, Wohnräume für Schüler und Lehrer, und Besprechungsräume sowie Säle für verschiedene schulische Zeremonien. Unter dem Dach befinden sich Hangars für Kleinflugzeuge, die Shuttle-Dienste durchführen. Auch eine eigene Werkstatt befindet sich dort. Schließlich befindet sich das digitale Archiv des Jinjas wie im japanischen Vorbild in den Kellergewölben.
Als ich damals im Jinja angekommen bin, habe ich mich ausweisen müssen und habe das Empfehlungsschreiben meines Meditationslehrers vorgelegt. Man hat mir eine Einzimmer-Wohnung zugewiesen und einen Stundenplan ausgehändigt. Ich bin als Anfänger eingestuft worden und man hat mir den japanischen Titel 'Shoden' verpasst. Dass ich hier neben der Meditation auch Kurse in waffenloser Selbstverteidigung angeboten bekomme, habe ich von Anfang an als wohltuend empfunden. Der Kurs zum Erlernen des Umgangs mit dem Nun-chaku hat meinen Ehrgeiz angestachelt. Zu Beginn habe ich mir selbst oft genug damit auf die Finger geklopft, aber mit der Zeit habe ich die beiden Hölzer virtuos bedienen gelernt. Darüber bin ich bald zum Chuden -Fortgeschrittenen- aufgestiegen und habe dann den Titel eines Okuden -Meisters- in einer Feier mit anderen erlangt. Seit ich als 'Fortgeschrittene' gegolten habe, arbeite ich im Archiv des Jinja."

"Das ist ein üblicher Werdegang innerhalb der O-Chisei!" lächelt der Maître. "Was beinhaltet das Archiv eigentlich alles?"

Ich lächele höflich zurück und erkläre ihm:
"Dort ist das gesammelte Wissen der Menschheit in unterirdischen Servern abgespeichert, um es unseren Sponsorfirmen, sowie den Chisei und Okuden nutzbar zu machen, sobald sie Informationen brauchen.
Bald nach meinem Arbeitsbeginn im Archiv bin ich auf ein Negaigoto Nikki -'Tagebuch der Wünsche'- gestoßen. Ich habe recherchiert und herausgefunden, dass es sich dabei um das grundlegende Programm des Archivs handelt. Es ist so etwas wie eine Schnittstelle zwischen den abgelegten Informationen und den Informationssuchenden, aber auch zwischen den Informationsinhabern und dem Archiv. Dafür hat das Programm einen blumigen Namen bekommen, finde ich. Aber das habe ich in meinem Alltag im Jinja schon oft gedacht. Die japanische Sprache verbindet sich hier mit der orientalischen Lebensart."

"Was kann ich mir unter einem 'Tagebuch der Wünsche' vorstellen, außer dass es so etwas wie das Betriebssystem des Archives ist?" fragt Maître Myers jetzt mit gerunzelter Stirn.

"Anfangs ist es einfach der Name eines Ordners gewesen, in der der Gründer der O-Chisei Dateien abgelegt hat. Ich habe bei meiner Recherche herausgefunden, dass unsere Organisation 'O-Chisei' seit 2024 besteht. Sie wurde vor 700 Jahren von einem gewissen Tatsumi Hajime in Japan gegründet. Seine Familie hat dem japanischen Buddhismus angehört.
Tatsumi-San hat einen gutbezahlten Job gehabt. Da er noch bei den Eltern gewohnt hat, wie viele junge Japaner, hat er die Hälfte seines Einkommens in einem Depot angelegt, das er aufmerksam beobachtet und so eine Menge Geld mit der Zeit sammelt. Theoretisch hätte er schon mit 30 in Rente gehen können und sich sein Depot per Dauerauftrag Monat für Monat auszahlen lassen.
Er hat sich damals entschieden, mit einem Teil seines Geldes ein Kominka, ein altes Landhaus in den Bergen zu kaufen und für seine Bedürfnisse umzubauen. Die Betriebskosten des Hauses und seine Lebenshaltungskosten lässt er sich nun monatlich von seinem Depot auszahlen. Auch kauft er sich Kleidung der bäuerlichen Unterschicht und lernt, die Kleidung selbst zu reparieren, wenn es nötig werden sollte.
Er reduziert seine Arbeitszeit und besucht Kurse in Meditation, in Kobudou -alte Kriegskunst- mit den auf Okinawa entwickelten Bauernwaffen, dem Nun-chaku und dem Bou. Seit seiner Schulzeit kennt er sich in Ju-Jutsu aus, das in einem verpflichtenden Sportclub seiner Schule angeboten worden ist. Beim Nun-chaku handelt es sich um eine Waffe, die aus einem Dreschflegel entwickelt worden ist, während der Bou ein 1,80 Meter langer Wanderstab ist.
In seinen Meditationen hat er sich zum Ziel gesetzt, irgendwann bis zu Reiki -alles durchdringende Lebenskraft- durchzudringen. Sein Ziel ist es damals gewesen, jungen Männern, die sich ihm anschließen möchten, ebenfalls die buddhistische Meditation zu lehren, in der Hoffnung, dass einem seiner Kyoshi -Schüler- irgendwann gelingt, zu Reiki vorzudringen."

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