Samstag, 13. August 2022
Aufbruch ins All -25
"Jetzt hat der Bewegungsmelder nebenan festgestellt, dass der Sanitärraum leer ist," kommentiert er das und zieht einen Bogen Papier aus seiner Mappe. "Eh' ich das vergesse: Dies ist Ihr Plan! Versuchen Sie ihn so genau wie möglich einzuhalten!"

"Okay," meine ich und schaue darauf.

Es handelt sich um eine Art Stundenplan, wie ich ihn schon aus der Schule kenne. Außen stehen die Wochentage und Uhrzeiten und innen die Kurse und Räumlichkeiten mit römischen Ziffern für Etage, Buchstaben für Gang und Nummer für Zimmertür. Während sich der Mister nun verabschiedet, lasse ich mich in den Sessel fallen und atme erst einmal tief durch. Mir ist etwas flau zumute, sicher weil für mich noch alles so neu ist.

*

Jetzt bin ich schon ein halbes Jahr in der Fenshingu no gakkoh -Schule der Fechtkunst-, hier in Ishtar City. Wie mir Mister Yamamoto zu Anfang gesagt hat, bieten sie Kurse an in Fechten, Meditation und Selbstverteidigung. Zuerst ist mir nicht klar gewesen, wozu ich Meditation und Selbstverteidigung gebrauchen kann. Um ehrlich zu sein, weiß ich das bis heute nicht so recht. Aber die Kurse machen mir Spaß. Und das ist das Wichtigste, denke ich.

Dann fällt mir auf, dass ich bei zunehmender Fertigkeit und Tiefe der Meditation mehr auf den Fechtgegner im parallelen Fechtkurs eingehen kann. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich seine nächste Aktion vorausahne und entsprechend schnell reagiere.

Seit ich in dieser Fechtschule begonnen habe, bin ich als Shoden -Anfänger- angesprochen worden. In den ersten Wochen hat mich der Titel etwas verstimmt, aber je länger ich dabei bin und je mehr ich über die Meditation erfahre und ihre Wirkung auf meine Fechtkunst, desto mehr habe ich ihn verstanden. Ich bin trotz meiner Fertigkeiten, die ich mir im früheren Fechtverein erworben habe, noch ein Anfänger gewesen.

Nun darf ich mit den anderen Shoden der Fenshingu no gakkoh -Schule der Fechtkunst- einer Feierstunde beiwohnen. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem ich mich vorgestellt und Mister Yamamoto kennengelernt habe, betreten wir die fünfte Etage der Schule. Wir werden von unseren Lehrern in einen großen Saal geführt und sollen uns in mehreren Reihen von der Rückwand an im Schneidersitz niederlassen. Vor uns, eine Stufe tiefer, setzen sich die Chuhden -Fortgeschrittenen- der Schule. Davor, eine weitere Stufe tiefer, sitzen die Okuden -Meister-, wie man mir auf meine Nachfrage erklärt.

An der gegenüberliegenden Wand, uns zugewandt und etwas höher, sitzen zehn Männer. Es sind die Chisei, oder ausführlich 'Chiseihito' -intelligente Person-. Der Titel soll nicht bedeuten, dass sie von sich eingenommen sind und alle anderen Menschen als weniger intelligent halten. Das japanische Wort kann man auch mit 'Person mit Geisteskraft' übersetzen. Diese zehn Männer sind diejenigen, die die Schule vor zehn Jahren gegründet haben, nachdem sie Bürger von Ishtar City geworden sind.

Nachdem wir alle sitzen, erhebt Mister Yamamoto sein Wort:

"Ich grüße euch, Mitglieder unseres Dojo -heiliger Ort, an dem Kampfkünste gelehrt werden, auch: Stätte der Meditation-! Heute ist wieder ein wichtiger Tag gekommen. Einige von euch haben durch Ehrgeiz und Durchhaltevermögen einen höheren Grad erreicht. Sie haben gezeigt, dass sie Respekt, Achtsamkeit und Ehrenhaftigkeit beherzigen. Dies wollen wir heute würdigen."

Nun entsteht eine kleine Gedankenpause. Die Spannung im Saal steigt. Dann beginnt sein Nebenmann zu reden. Er spricht einen der Okuden -Meister- an und fordert ihn auf, vorzutreten. Er lobt den Meister vor allen Anwesenden und überreicht ihm einen langen Mantel mit dem Emblem der Schule auf der Herzseite. Der Mann darf sich zu den zehn Männern setzen, uns zugewandt und mit dem zusammengelegten Mantel auf seinen Oberschenkeln.

Nun meldet sich der Chisei auf der anderen Seite von Mister Yamamoto zu Wort. Er ruft drei Männer aus der Gruppe der Chuhden -Fortgeschrittenen- auf und überreicht jedem von ihnen eine Mütze mit dem Emblem der Schule. Er bedankt sich bei den Männern für ihr Engagement für die Ideale der Schule und lässt sie sich bei den Okuden -Meistern- niederlassen.

Nachdem im Saal wieder Ruhe eingekehrt ist, spricht der Chisei neben ihm. Er redet uns Shoden -Anfänger- ins Gewissen. Er bedankt sich für unser Bemühen in den Kursen und fordert uns auf, uns weiterhin anzustrengen. Dann zeigt er ein breites Lächeln und fordert einige von uns auf, vorzutreten. Ich zähle mit mir neun Anfänger, die nun nacheinander von ihm eine Garnitur neuer Kleidung erhalten. Es handelt sich um die Kleidung der Fortgeschrittenen! Das bedeutet, dass ich innerhalb der Schule eine Stufe höher gestiegen bin!

Anschließend spricht der Chisei auf der anderen Seite von Mister Yamamoto, der bisher noch nichts gesagt hat und fordert die Okuden auf, die bisher noch keinen eigenen Schüler haben, sich in den nächsten Tagen im Einvernehmen mit den Chisei jemand aus den Chuhden zu wählen.

Danach erklärt Mister Yamamoto die Veranstaltung für beendet und fordert uns auf, in die Shokudou -Mensa- der Schule zu gehen, um ein wenig zu feiern. Wir streben aus dem Saal heraus und fahren mit dem Aufzug auf die Etage mit den Kursräumen. Dort liegt auch der Speisesaal. Ich gehe aber zuerst noch in mein Zimmer, um die neue Kleidung anzuziehen, die mich als Fortgeschrittenen ausweist. Anschließend gehe auch ich in die Shokudou -Mensa-. Wir holen unsere Schälchen an der Essensausgabe ab, setzen uns an freie Plätze und beginnen zu essen.

Nach dem Essen gehe ich wieder auf mein Zimmer. Heute ist wegen der Veranstaltung am Vormittag ein kursfreier Tag. Im TV ist kein besonderes Angebot, also setze ich mich auf mein Bett im Schneidersitz, lege die Hände locker auf meine Oberschenkel und versuche zu entspannen.

Die Meditation gelingt am besten, wenn ich allein in meinem Zimmer bin. Zusammen mit zehn anderen Shoden im Kursraum habe ich nicht die Ruhe, die ich brauche. In meinem Zimmer komme ich wesentlich weiter oder tiefer in meiner Versenkung. Dennoch - diesmal ist mir die Ruhe nicht vergönnt. Etwas stört mich. Als ich die Augen öffne, erkenne ich Clark McGiven in meinem Sessel sitzen und mich beobachten. Er ist einer der Chuhden -Fortgeschrittenen-, die heute Vormittag zu Okuden -Meistern- befördert wurden. Wie ist er in mein Zimmer gekommen? Habe ich vergessen, den Schließmechanismus hinter mir zu betätigen?

Er lächelt mir aufmunternd zu und sagt:
"Ich bin bei den Chisei gewesen. Als Okuden darf ich mir ja einen Chuhden als Schüler auswählen. Dort hat man eine hohe Meinung von dir, Florian. Also bin ich auf direktem Weg zu dir gekommen, um dich zu fragen: Möchtest du mein Schüler werden?"

"Ich habe mich gefreut, heute den Status eines Fortgeschrittenen bekommen zu haben," entgegne ich ihm. "Aber ist es nicht noch zu früh? Ich habe ja noch nicht einmal meinen neuen Fortgeschrittenen-Kurs kennengelernt."

"Das Programm in den Kursen gleicht sich irgendwie. Es wird nur noch mehr Gewicht auf die Ethik gelegt, und für die Meditation erhaltet ihr kleine schalldichte Zellen. Ich muss aber feststellen, dass du dir für deine Meditation schon jetzt eine Rückzugsmöglichkeit geschaffen hast. Das ist sicher auch der Grund, weswegen die Chisei dich für etwas Besonderes halten. Du kannst die Aktionen deiner Sparringsgegner anscheinend vorausahnen und intuitiv die richtige Gegenreaktion finden und anwenden."

"Bin ich wirklich ein besonderer Schüler?" frage ich zurück. "Ich halte mich für nicht besser oder schlechter als die anderen Kursteilnehmer."

Mein Gegenüber wiegt den Kopf und fragt:
"Bist du denn damit einverstanden, mein Schüler zu werden?"

Ich nicke und meine:
"Warum nicht? Gerne. - Bedeutet das nun, dass ich den Kursplan vergessen kann? Bekomme ich von dir einen eigenen Plan?"

Clark nickt und sagt:
"Vorausgesetzt, du lässt in deinem Bemühen nicht nach, du trainierst Ju-Jutsu und Fechten weiter und meditierst aus eigenem Antrieb, dann bekommst du bald erste Sparringsgegner aus anderen Vereinen. Diejenigen aus unserer Schule kennst du inzwischen. Wir werden auf Fechtturnieren in Ishtar City auftreten. Die Termine der Turniere kannst du dir aus dem Internet herunterladen. Vielleicht erhalten wir aber auch einen Auftrag, der uns aus Ishtar-City herausführt."

"...aus Ishtar City heraus?" frage ich erstaunt. "Aber wohin denn?"

"Warte es ab, Florian. Du sollst doch geduldig sein!"

Ich lasse den Kopf sinken.

"Ja, entschuldige," antworte ich.

Clark erhebt sich und sagt zum Abschied:
"Ich melde mich beizeiten wieder. Bis dann!"

"Bis dann!"

Er verlässt mein Zimmer. Ich erhebe mich vom Bett und gehe zur Tür, die ich diesmal abschließe. Dann setze ich mich wieder auf mein Bett zurück und versuche, wieder in die Meditation zurückzufinden. Nun habe ich es irgendwie schwerer, mich zu versenken. Aber nach einer gewissen Zeit bin ich doch zum Quell meiner Gedanken vorgedrungen. Irgendwann später ist der Quell versiegt und ich sehe meine Umgebung in unterschiedlichen Farben. Ich kann meine Zimmernachbarn erspüren und beobachte interessiert die mich umgebenden Ströme der Reiki -Lebensenergie-.

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